„Langsam hin- und hergehen“

Die Idealvorstellungen von Maß und Mitte, wie sie in dem frühkonfuzianischen Traktat Die Anwendung der Mitte (zhongyong) formuliert sind, atmen den rationalen Geist des Konfuzianismus. Eines ist ausgeschlossen: die Mitte zu sehr im modernen „westlichen“ Sinne als Innewerden zu interpretieren; Wolfgang Kubin hat darauf in Das große Lernen. Maß und Mitte (Freiburg/ Basel/ Wien: Verlag Herder,  2014, S. 115) hingewiesen. Das Zhongyong beinhaltet eine Phalanx von Vorschriften, die einem Ziel dienen: den Widerstreit zwischen vorhandener administrativer und fehlender geistiger Autorität aufzuheben. Durch die Auslegungspraxis des song-zeitlichen (960-1279 n.Chr.) Neokonfuzianismus wurde aus der in dem Traktat formulierten Haltung der Mitte ein unerbittlicher Richtwert.

Mir kommt die Inschrift auf einer efeuumrankten Tafel im Gartenreich von Fürst Franz von Anhalt-Dessau in Wörlitz bei Dessau in den Sinn. Genauer gesagt befindet sich die Tafel im dortigen Labyrinth. Die in sie eingravierte Inschrift lautet „Wanderer, wähle deinen Weg mit Vernunft“. Aus diesen Worten spricht der aufklärerische Geist, der dem Fürsten sowohl zur Anerkennung durch Goethe wie durch Marx verhalf, sodass nicht einmal während der Zeit der DDR-Zeit diesem eigentlich „dekadenten Kulturerbe“ politische Relevanz abgesprochen wurde, und man das historische Gartenmonument sogrsam pflegte. Fürst Franz galt als ein aufgeklärter Fürst, der Armenhäuser, Feuerversicherungen, die Pressefreiheit und ein neues Schulsystem eingeführt hatte. Sein gesellschaftliches Reformprogramm war nach der Devise verlaufen: „Belehren und nützlich sein.“ Das erinnert an den Traktat Die Anwendung der Mitte, der ein durch die Tugendleistung (de) des Herrschers geordnetes und befriedetes Reich zumindest auf dem Papier zu begründen suchte. Auf dem Weisen ruhten die Hoffnungen der Konfuzianer, nachdem im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung die Machtorganisation in die Hände eines Herrschers, der mittels „Gesetz“ (fa), aber nicht mittels „Tugend“ (de) regierte, nämlich Qin Shihuangdi, gefallen war.

„Langsam hin- und hergehen“ (chi chu)

Der „Volkskünstler“ Lü Shengzhong (Werke von ihm waren u.a. in der Ausstellung NOTES ACROSS ASIA: Soul Windows im Konzerthaus am Gendarmenmarkt, Berlin 1998 zu sehen) wurde in Dayuji, Provinz Shandong geboren. Von ihm wurde das Scherenschnittbild mit dem Titel „Langsam hin- und hergehen“ (chi chu) geschaffen. Abbildungen finden sich in Yin Jinan, Du zi kou men, Knocking at the door alone. A close look at contemporary Chinese culture and art, Beijing: Sanlian shudian, 2002, S. 58, 62, 64, 67, 68. Das Bild „Langsam hin- und hergehen“  hängt wie ein aufgehängter Teppich von der Decke des Ausstellungsraums bis zum Boden, auf dem es zu gut einem Drittel aufliegt. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es eben keine Mitte hat. Durch eine benachbarte Säule, auf der eine mythische Figur zu sehen ist, wird es in einen bestimmten, nämlich  einen prähistorischen Kontext gesetzt. Ursprungsmythen bieten sich an. Um sich dem Bild und seiner Inszenierung mit Gewinn  nähern zu können, ist neben dem Begriff der „Mitte“ noch ein weiterer Begriff, nämlich derjenige der „Harmonie“ (he), bedeutsam.

Lü Shengzhong strukturiert unsere Vorstellungen von Maß und Mitte im Kontext chinesischer Kultur- und Geistesgeschichte neu, indem er sie in Momente von Bewegung auflöst. Auf seinem raumgreifenden Bild sind klar konturierte (es handelt sich um Scherenschnitte) menschliche Fußspuren zu erkennen. Bemerkenswert ist, dass sie einer gewissen Ordnung folgen – ABER nicht an einer Mitte orientiert sind, es handelt sich um ein sogenanntes „allover„. Wir sehen die Spuren von Menschen, die sich in einem fest umrissenen Kontext, nämlich einer durch präformierte Ordnungsformen bestimmten Gesellschaft bewegen.

In der Arbeit des chinesischen Volkskünstlers stellen die Fußspuren glückverheißende Symbole in einem ganz aufs Hier und Jetzt konzentrierten Denkgebilde dar. Aus der Nähe besehen erweisen sie sich auf dem Bild des chinesischen Künstlers als Einlegesohlen, auf denen jeweils ein menschliches Gesicht in Scherenschnitttechnik zu  sehen ist. Aus der chinesischen Volkskunst sind Einlegesohlen gut bekannt. Sie werden einem Hochzeitspaar mit den besten Wünschen für eine gute Ehe in Harmonie xie (gleichlautend mit den Schuhen, ebenso xie) geschenkt, bei dieser Gelegenheit allerdings mit der Darstellung von Mandarinenten, die als Symbol für eheliche Treue gelten.

Und so darf auch dieses Bild als ein großer Wunsch an alle Betrachter gelten, dass die vielen Einzelnen – auf jeder Einlegesohle ist ein Gesicht zu sehen – angesichts ihres gemeinsamen mythischen Ursprungs in Harmonie leben mögen. In der Auseinandersetzung mit der Arbeit „Langsam hin- und hergehen“ (chi chu) bewahrheitet sich, dass die Konzepte von „Mitte“ und „Harmonie“ eine tiefere Beziehung haben. Sie sind nicht voneinander zu trennen „als der kompakte und der entfaltete Staus ein und derselben Tugend: Mitte ist Harmonie in potentia, Harmonie ist Mitte in actu. Harmonie besitzt derjenige Mensch, in dessen Seele die Leidenschaften unter der Kontrolle der ratio stehen, der nicht vom pathos beherrscht wird und deshalb zur richtigen Einsicht in die umgreifende Ordnung des Kosmos befähigt ist.“ (Peter Weber-Schäfer, „Die `Große Lehre´und die `Anwendung der Mitte´“, in Peter J. Opitz (Hrsg.), Chinesisches Altertum und konfuzianische Klassik. Präkonfuzianische Spekulation. Konfuzius, Menzius, Hsün-tzu, Chung-yung und Ta-hsüeh, München: Paul List Verlag, 1968, S. 141-168, Zitat: S. 160)

„Wanderer, wähle deinen Weg mit Vernunft: Das Wandern – soll es denn eine Legitimation haben – stellt nicht nur in den Augen der Konfuzianer, sondern auch in denen des aufgeklärten  Fürsten Franz von Anhalt-Dessau mehr als nur ein müßiges Herumtreiben dar. Es folgt einer Einsicht (der Fürst spricht von „Vernunft“), die Ordnung gebiert: im Garten, in der Gesellschaft, im gesamten Kosmos.

Vorschau: In 14 Tagen folgt ein Text des Düsseldorfer Schriftstellers Wulf Noll . Überhaupt dürfen wir in den kommenden Monaten mehrere Gastbeiträge erwarten, u.a. von einem Komponisten und von einem Architekten. Ich selbst werde mich auch wieder zu Wort melden. Bis dahin werde ich mich im „Langsam hin- und hergehen“ üben. Ergebnis offen bzw. ich erwarte gar kein Ergebnis.

Innerlich – Äußerlich

Liebende

Zwölf Jahre lang bereisten Marina Abramović, die Nomadin unter den zeitgenössischen Künstlern, und Ulay Uwe Laysiepen gemeinsam die Welt und führten ihre Aktionen auf – etwa zu Themen wie Beziehung, Erschöpfung oder Erneuerung durch spirituelle Erfahrung in der Einsamkeit der Wüste. 1988 entwarfen sie das größte Kunstwerk ihrer Zusammenarbeit: „The Lovers – Walk on the Great Wall of China“.

Jeweils zweitausend Kilometer wollten sie auf der Chinesischen Mauer aufeinander zugehen, um sich in der Mitte zu treffen. Ulay startete in der Wüste Gobi, Marina Abramović am Gelben Meer. Drei Monate waren sie unterwegs, begleitet von Kunstkritikern und kommunistischen Aufpassern, ehe sie sich am 3. Juni wieder begegneten. An diesem Tag wollten sie ursprünglich heiraten, kann man heute bisweilen lesen. Nein, ihre Absicht sei es von Anfang an gewesen, korrigiert Marina Abramovic, sich an diesem Tag voneinander zu verabschieden und sich nie wieder zu sehen: Äußerlich aufeinander zugehen, innerlich sich voneinander trennen – sowie es dann tatsächlich auch geschah.

Marathon-Mönche

Während ihrer Ausbildung, und zwar  über einen Zeitraum von sieben Jahren, laufen sie oft um den Berg Hiei (auf der Grenze des nordöstlichen Stadtbezirks Sakyō-ku von Kyōto), dass die Strecke am Ende der des Erdumfangs entspricht. Äußerlich gehen sie auf niemanden zu, innerlich bilden sie mit allen Lebewesen eine Einheit.

Und ich

Bin gestern zum Einkaufen gelaufen. Irgendein Fahrer von irgendeinem PKW hupte an irgendeiner Ampel und rief bei offenem Fenster laut irgendein unflätiges Schimpfwort. War es an mich oder an eine andere Person gerichtet? Äußerlich ging dieser Irgendein auf niemanden zu, innerlich bildete er mit niemandem eine Einheit. Nach der Rückkehr blickte ich auf Seite 3 einer überregionalen deutschen Tageszeitung in das Gesicht eines Mannes, der sich für den größten aller Führer hält und derzeit tagtäglich Menschen umbringt und quält. Ich meine, eines agressives Hupen und ein hasserfülltes Geschrei zu vernehmen.

In vierzehn Tagen gehe ich auf die Konzepte von Mitte und Harmonie im Kontext des Gehens (China) ein. Danach erscheint dann wieder ein Gastbeitrag des von mir sehr geschätzten Flaneurs, Philosophen und Literaten Wulf Noll, der den Leserinnen und Lesern der „Ästhetischen Spaziergänge“ bereits gut bekannt ist.

Eine Sache führt zur nächsten

Am 11. Tag des Krieges in der Ukraine (07.03.2022) sind nach Zählungen der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR bereits 1,5 Millionen Menschen aus dem Land geflohen. Es handle sich um die „am schnellsten wachsende Flüchtlingskrise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg“, erklären die Vereinten Nationen. Das Nachbarland Polen hat bis zum 06.03.2022 etwa eine Million Menschen aufgenommen, von denen jedoch viele schon in andere EU-Länder weitergezogen sind oder das noch tun werden. In Deutschland sind zu diesem Zeitpunkt mindestens 38000 Menschen aus der Ukraine angekommen. Rumänien verzeichnet etwa 227500 Geflüchtete, Ungarn mehr als 163000. Fast 114000 Menschen haben die Slowakei erreicht, 250000 Moldawien – UND – vor dem Hintergrund des völkerrechtswidrigen russischen Überfalls auf die Ukraine verstärkt die Deutsche Bundesregierung ihre Fähigkeit zum Schutz ihrer Bevölkerung und Alliierten. Plötzlich wird das Fehlen von Schutzräumen bewusst, der Zivilschutz soll ausgebaut werden. Bunker, die  im Westen Deutschlands anderweitig oder gar nicht mehr genutzt werden, sollen ihrem ursprünglichen Zweck wieder zugeführt werden. Die im Osten Deutschlands bestehenden Bunker müssen erst noch in das Schutzraumkonzept des Bundes übernommen werden. Ebenso wird der Ausbau der Notfallreserve als dringend vermerkt. Notrationen von Weizen, Roggen, Hafer, Reis, Erbsen, Linsen und Kondensmilch werden angelegt. UMSTEUERUNG. Die seit dem Ende des Kalten Kriegs praktizierte sicherheitspolitische Entspannung ist passé, vergangen, vorbei.

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Der Text des zehnten der zwölf Lieder aus Schumanns Liederkreis op. 39 (1843) mit dem Titel „Zwielicht“, dessen Text der Komponist einem 1837 erschienenen Gedichtband Joseph von Eichendorffs entnahm, lautet:

Dämmrung will die Flügel spreiten,

Schaurig rühren sich die Bäume,

Wolken ziehn wie schwere Träume –

 Was will dieses Grau´n bedeuten?/

Hast ein Reh du lieb vor andern,

Laß es nicht alleine grasen,

Jäger ziehn im Wald und blasen,

Stimmen hin und wieder wandern./

Hast du einen Freund hienieden,

Trau ihm nicht zu dieser Stunde,

Freundlich wohl mit Aug´ und Munde,

Sinnt er Krieg im tück´schen Frieden./

Was heut gehet müde unter,

Hebt sich morgen neu geboren.

Manches geht in Nacht verloren –

Hüte dich, sei wach und munter!

*

„Und mich schauert´s im Herzensgrunde“ – so lautet die letzte Zeile im XI. Lied „Im Walde“.

*

Auch wenn nun der Bau von Schutzräumen das Gebot der Stunde ist: Gehe, selbst wenn es in deinem Kopf ist! Das Gehen dient der Vergewisserung der eigenen Person und zur Positionsbestimmung innerhalb der Welt. Es wird zum Beleg für das Am-Leben-Sein. Ist denn nicht unser ganzes Denken ohnehin von Bewegung geprägt, so sehr, dass auch die Sprache diesem Muster folgt? Wir sagen: „Es gibt kein Zurück“; „Die Dinge nehmen ihren Lauf“; „Eine Sache führt zur nächsten„. „Die Zeit vergeht“; „Wo wird das alles enden?“; „Und so weiter, und so weiter“; „So weit, so gut“. Der japanische Dichter Santoka Taneda soll zwischen 1926 und 1940 insgesamt 45000 Kilometer zu Fuß zurückgelegt haben. Er hat das Haiku verfasst: „Der Mond geht auf – ich warte auf nichts“. „Geht weiter“, sollen Buddhas letzte Worte an seine Schüler gewesen sein.

Lernen

Ästhetische Spaziergänge zwischen Ost und West lassen uns an einen Punkt gelangen, an dem genau das möglich sein wird, was derzeit unmöglich ist: eine grenzüberschreitende, experimentelle Praxis des verknüpften Denkens, Lernens und Arbeitens.

Sagte nicht Konfuzius (Kongfuzi 孔夫子): „Lernen (xue 学) und das Gelernte bei jeder Gelegenheit, die sich bietet, anwenden –  ist das nicht befriedigend?“ ( Lunyu论语 Die Gespräche des Konfuzius, 1:1. Zitiert nach Peter J. Opitz, „Konfuzius“, in: Peter J. Opitz (Hrsg.), Chinesisches Altertum und konfuzianische Klassik: Präkonfuzianische Spekulation. Konfuzius. Menzius. Hsün-tzu. Chung-ying und Ta-Hsüeh, München: Paul List Verlag, 1968, S. 35-68, Zitat S. 54) Und sprach wiederum Meister Kong (Konfuzius) nicht auch von den „sechs Entartungen des Lernens“: „Die Humanität (ren 仁) lieben, ohne das Lernen (xue 学) zu lieben – das entartet zur Einfältigkeit. Die Klugheit (zhi 智) lieben, ohne das Lernen zu lieben – das entartet zur Zerstreuung. Die Ehrlichkeit (xin 信) lieben, ohnen das Lernen zu lieben – das entartet zur Sturheit. Die Gradlinigkeit (zhi 直) lieben, ohne das Lernen zu lieben – das entartet zur Grobheit. Die Tapferkeit (yong 勇) lieben, ohne das Lernen zu lieben, das entartet zur Unordnung. Die Festigkeit (gang 刚) lieben, ohne das Lernen zu lieben – das entartet zur Wildheit.“ (Lunyu论语 Die Gespräche des Konfuzius, 17:8. Zitiert nach Peter J. Opitz, „Konfuzius“, S. 57)

Ich ziehe daraus folgenden Schluss: Wir sollten in unserer Begegnung mit China weder einfältig, zerstreut, stur, grob, unordentlich und/ oder wild, aber auf eine Weise lernbereit sein, die den eigenen Wertehorizont in den Lernprozess, der ein Dialogprozess ist, einbringt – dies gilt ebenso vice versa.

Lernen bedeutet nicht den Weisungen eines großen Lehrmeisters zu folgen – auch wenn er der Vorsitzende einer großen und mächtigen Partei in einem Land ist, mit dem alle eine monetär einträgliche Beziehung zu pflegen gedenken. Im Feld der kultur- und geisteswissenschaftlichen Analyse gibt es keine Deutungshoheit. „Kultur“ basiert auf einem Ensemble ineinandergreifender Zeichen. Erst im Rahmen einer Interpretationsgemeinschaft entfalten sie ihr volles Leben, nicht nur national, nicht nur in durch die Regierung bestellten Beratergremien unter Ausschluss der Öffentlichkeit, sondern in der community der Weltgemeinschaft oder, ganz einfach, der Gemeinschaft aller, die verstehen und sich dabei gleichermaßen das Recht auf Rechthaben oder auch Irrtum nicht nehmen lassen wollen. Analysen, Zeitsprünge, Ungereimtheiten, Sinnentwürfe, die den jeweiligen kulturellen Ausdifferenzierungsprozessen folgen: Es ist unerlässlich, sich mit ihnen in ihrer ganzen Spannbreite auseinanderzusetzen und dabei zu versuchen, der Komplexität der Lage gerecht zu werden.

Lasst uns weiter spazieren und ganz nebenbei am Bau eines kommunikativen, experimentellen Systems, das unser Verständnis von Welt ausweitet und vertieft, arbeiten! Wissen als ganzheitliches, ästhetisches Wissen erschöpft sich nicht in Wahrnehmungsakten: Es wirkt auf indirekten Bahnen weiter.

Idee

Vorspann

Harald Landspersky in einer Email vom 24.01.2022 in Reaktion auf meinen Text „Wirklichkeit“:

In meinem letzten Kommentar habe ich die Vielschichtigkeit des Begriffes „Wirklichkeit“ aus meiner Sicht versucht darzustellen. Gern würde ich jetzt den Fokus deutlicher auf das richten, was in deinem Blog passiert:

Du hattest irgendwann die Idee, einen Blog zu erstellen. Das war noch nichts Wirkliches, keine Wirklichkeit, sondern nur eine Anzahl Verknüpfungen von Synapsen in Deinem Gehirn. Jetzt gibt es ein Programm, das Deine Idee in Bits und Bytes darstellt. Man erfährt etwas von dem, was Dich bei Deinen Ästhetischen Spaziergängen bewegt. Manche Menschen lesen das und manche antworten. Insofern hast Du deren Gedankenwelt beeinflusst. Entsteht so neue Wirklichkeit? Welches Ziel genau verfolgen wir mit unserer Diskussion? Verändern wir damit vielleicht die Menschheit, so wie ein Schmetterlingsflügelschlag im Amazonasdschungel einen Hurrikan in der Karibik auslösen kann, um ein altes Bild aus der Chaostheorie zu zitieren. Alles, was die Menschheit geschaffen hat, hat seinen Ursprung in einer Idee. An welchem Punkt findet der Wechsel von Idee zur Wirklichkeit statt? Könnten diese Fragen als Anregung dienen? Vielleicht bräuchten wir da einen Gehirnforscher. Was sagt der Philosoph?

Christian Wenzel in einer Email vom 27.01.2022 in Reaktion auf meinen Text „Wirklichkeit“:

Zu virtuellen Welten schreibst Du: „Ich gebe zu bedenken, dass eine Gesellschaft, die lediglich auf Partizipation ohne physische und persönliche Präsenz baut, sich auf dem Weg zu einer Phantom-Gesellschaft befindet.“ Ja, das gibt wirklich zu bedenken. Aber wie gross ist der Unterschied? Gerade habe ich einen Spaziergang am Fluss in Taipei gemacht, entlang einen breiten Grünstreifen mit vielen Blumen. Mein Fuss hat sich physisch auf dem Boden bewegt. Meine Augen und Ohren haben entfernte Dinge gesehen und gehört, ich habe die Luft geatmet und Gerüche aufgenommen. In virtuellen Welten fehlt noch die Luft mit den Gerüchen, auch der Boden unter den Füssen, wenn man geht. Aber das mit den Augen und Ohren ist nicht viel anders. Ich sehe oft Dokumentarfilme: Sind das dann virtuelle Welten? Zur Phantom Gesellschaft: Ja, wie weit ist man dann noch sozial eingebunden, insbesondere mit Verantwortungen? Das ist wohl ein wichtiger Punkt.

Christian Wenzel verweist auf folgende eigene Texte zum Thema:

Christian Helmut Wenzel; „Chinese Language, Chinese Mind?“, in: Cultures. Conflict – Analysis – Dialogue, Proceedings of  the 29. International Ludwig Wittgenstein Symposium, Kirchberg am Wechsel, Austria 2006, Christian Kanzian/ Edmund Runggaldier (Eds.), Frankfurt am Main: Ontos Verlag, 2007, S. 295-314.

Christian Helmut Wenzel, „Spielen nach Kant die Kategorien schon bei der Wahrnehmung eine Rolle? Peter Rohs und John McDowell, in: Kant-Studien 96 Jahrg. (Berlin: Walter deGruyter, 2005), S. 407-426.

Text

„Es würde unzweifelhaft die tiefste Komik enthalten, wenn man ein zufälliges Individuum auf die Idee kommen ließe, der Befreier der ganzen Welt zu sein.“ Diesen Satz des dänischen Philosophen Søren Aabye Kierkegaard habe ich sehr früh schon verinnerlicht. Nichts liegt mir ferner, als belehren und damit die Welt retten zu wollen. Wovon darf sich der kritische Kopf mehr versprechen: von normativer Gesellschaftstheorie oder von der seismographischen Wahrnehmung und Schilderung menschlicher Zustände, individueller wie kollektiver? Ich plädiere für letzteres, die Erfahrung und Schilderung menschlicher Zustände, und spaziere deswegen. Denn ob eine Gesellschaft kulturell reich und in ihren einzelnen Schichten lebendig ist, wird von den normativ-objektiven Begriffen einer soziologisch-politischen Gesellschaftstheorie nicht erfasst. Ich denke, eine zukünftige Gesellschaftskritik sollte von den Künstlerinnen und Künstlern lernen. Zu dem, was lernenswert ist, gehört vor allen Dingen die absolute Selbständigkeit und Originalität der Beobachtung, wie sie u. a. der „walking artist“ erbringt. Es bedarf des phänomenologisch begabten Blicks und der Einhaltung des Gebots, dass die unvermittelte Erkenntnis einen ganz eigenen Wert hat. Ihn gilt es zu erhalten. Der Blick zurück zeigt, dass Künstlerinnen und Künstler oft umso weniger erkannten, je mehr sie sich in ihrem Werk nach philosophischen Universalien ausrichteten. Je mehr sie die Nuance des noch Verborgenen hervorholten, dem ein Bild oder ein Wort fehlte, umso stärker war auch ihre Wirkung. Realitätsleidenschaft. Ästhetische Kriterien sind im Umgang mit unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit unerlässlich.

Mein Ziel ist es u.a., um die Frage von Harald Landspersky nach der Idee meines Blogs zu beantworten, die Selbstbezüglichkeit der Philosophie durch die Wahrnehmung des Spaziergängers als nobody aufzubrechen. Es gibt einen gesellschaftlichen Bedarf nach Philosophie. Das „Andere der Vernunft“ ist für das Selbstverständnis des Menschen zurückzugewinnen, wie der jüngst verstorbene Philosoph Gernot Böhme 2012 seine Forschung im Rückblick beschrieb. Natur, Leib, Phantasie, Begehren und Gefühle sind programmmatisch näher zu bestimmen. Ungeahntes Material verbirgt sich meines Erachtens hierfür an den Rändern, den Bruchstellen und Verwerfungen unserer technischen Zivilisation. Um es fruchtbar zu machen, ist nicht nur das Abstrakte im Denken, sondern auch der „abstrakte Staatsbürger“ im Menschen zum Verschwinden zu bringen – womit ich auf eine weitere Frage von Christian Wenzel zum „Phantom Gesellschaft“ antworten möchte. Soziale Verantworung zu übernehmen, gelingt nur dann, wenn das Ich und das Wir auf eine neue Weise zusammenfinden. Man soll  nicht nur Ich sein, aber man soll auch nicht nur Wir sein – dieser Spagat zwischen einem Ich und einem Wir gelingt meines Erachtens nur dann, wenn man die Gegenwart als eine unreine Mischung aus Maschine, menschlicher Kultur und natürlichen Prozessen erkennt; die klassische Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt, Mensch und Natur funktioniert nicht mehr. Was Kunst im besten Fall machen kann, ist, Bilder, Geschichten, Symbole zu entwickeln, die uns in diese Realitäten hineinführen und uns dabei helfen, mit ihnen umzugehen. Kunst sollte uns auch dahin führen, wo wir am liebsten die Augen verschließen würden. Dann kommt es zum „Wechsel von Idee zur Wirklichkeit“ (Harald Landspersky).

Was bleibt aber von einem Menschen übrig, wenn er alle Entfremdung hinter sich gelassen hat und einfach nur Mensch sein soll? Es bleibt die große Aufgabe, die menschliche Vernunft so weit zu entwickeln, bis sie ihn, den Menschen, nicht mehr daran hindert, die Welt unmittelbar und intuitiv zu erfassen. Humanität realisiert sich im Zusammenspiel unterschiedlichster kultureller Ausprägunsgformen. Weder ein Geschlecht noch eine Gruppe, noch eine Kultur kann deswegen für sich in Anspruch nehmen, das eigentliche Menschsein zu repräsentieren.

Am Dienstag, dem 22.02.2022 melde ich mich wieder mit einem neuen Text. Ich freue mich auf Diskussionsbeiträge zum vorliegenden Text.

Wirklichkeit

V o r s p a n n

Heinrich Geiger, „GehBorgen“ im Blog „Ästhetische Spaziergänge“, 21.12.2021:

„Gehend weiche ich aus ins Reale, und hoffe in der Begegnung mit ihm wieder die Welten zu erschließen, die mir die Scheinwelten der Werber und Designer raubten.“

Wolfgang Runge, in einer Email vom 07.01.2022:  

„Was ich unter dem „Realen“ verstehe? Als ich meinen Kommentar niederschrieb,  war „real“ für mich, was außerhalb meiner selbst existiert und erfassbar ist, also nicht nur als gedankliches Konstrukt. Etwa ein  Gegenstand oder ein in Wirklichkeit bestehendes Gesellschafts-, Regierungssystem, etwa das der VR China – im Gegensatz zum gedanklichen Konstrukt „Sozialismus“. Allerdings je länger ich darüber nachdenke, desto weniger befriedigt mich eine solche Gegenüberstellung. Denn jede Beschreibung des Realen ist eben auch eine Stilisierung.

Jetzt frage ich mich: Was ist für Sie das „Reale“ in das Sie „gehend“ ausweichen ?  „

T e x t

„Was, wenn alles nur eine Illusion wäre und nichts existierte? Dann hätte ich für meinen Teppich eindeutig zu viel bezahlt“, befand einmal Woody Allen. Tatsächlich hätte er es beim Kauf des Teppichs ruhig versuchen sollen, einen Rabatt auszuhandeln, denn das Problem ist vielschichtig: Selbst wenn sein Teppich auch dann noch existiert, wenn er den Raum verlässt, dann ist doch nicht auszuschließen, dass er möglicherweise weder Form noch Farbe hat, wenn er gerade einmal nicht hinsieht. Denn schon  seit Jahrzehnten gibt es gewisse Zweifel, ob die Dinge, die wir gerade nicht beobachten, wirklich jene Eigenschaften haben, welche wir im Falle einer Beobachtung an ihnen wahrnehmen. Freilich gilt das weniger für Teppiche als für Elementarteilchen, deren Verhalten durch die Quantentheorie, die uns den naiven Realismus ausgetrieben hat, beschrieben wird. An die Stelle des naiven ist der physikalische Realismus getreten – aber kann der alleinige Gültigkeit für sich beanspruchen?

Mit dem Buch „Warum es die Welt  nicht gibt“ (Berlin: Ullstein Verlag, 2015, 271 Seiten) verunsichert ein Vertreter des sogenannten „Neuen Realismus“, der Bonner Philosoph Markus Gabriel, nicht nur Menschen wie Woody Allen, die einen Gegenstand wie einen Teppich für teures Geld erworben haben und sich deswegen nicht mit der Vorstellung abfinden wollen, dass er auf einer reinen Illusion beruht. Er fordert auch viele Kolleginnen und Kollegen innerhalb seiner Zunft zur Auseinandersetzung mit der Idee der Wirklichkeit heraus. Und dies mit Fragen, die schwerer nicht sein könnten und eng miteinander verknüpft sind: „Was ist das, was wir als Welt bezeichnen“, „Was nennen wir Wirklichkeit“, und „Können wir von dieser Wirklichkeit überhaupt eine verbindliche Vorstellung haben?“ Zur Entwarnung sei gesagt, dass Gabriel zumindest die Richtigkeit von Sätzen unter bestimmten Bedingungen anerkennt, was man auch wieder auf das Teppichbeispiel beziehen könnte. Er sagt: „Die Idee der Wirklichkeit ist an sich leer. Da ist an der Stelle nichts. Das heißt aber nicht, dass wir an dieser Stelle in unserer Gedankenwelt eingeschlossen wären. Wir sind schon da draußen. Aber sind wir so, wie unsere wahren Sätze es aussagen.“ Dass der Teppich, den Woody Allen als seinen eigenen bezeichnet, tatsächlich existiert, wäre weiterhin durch die Tatsache abgesichert, dass es „nicht Nichts gibt“. Gabriel spricht hier von der Lebenswirklichkeit, die es uns nahelegt, die Richtigkeit von Aussagen als „Tatsachen“ nicht zu bestreiten: „Wir müssen unsere theoretischen Folgerungsbeziehungen verankern dürfen in Sätzen, die wir normalerweise nicht bestreiten würden – außer wir sind wahnsinnig oder betreiben gerade eine bestimmte Form von Wissenschaft.“ Und weiter: „Unser Ausgangspunkt sind immer nur wir selbst“(Zitate aus: „“Die Idee der  Wirklichkeit ist an sich leer“. Was ist der Unterschied zwischen einem Satz über einen Gegenstand und dem Gegenstand selbst? Ein Gespräch mit dem Philosophen Markus Gabriel, der heute auf der phil.Cologne auftritt“, in: Feuilleton der „Frankfurter Rundschau“, Dienstag, 2. Juni 2015, 71. Jhg., Nr. 125) Mit eigenen Worten würde ich es so formulieren: Unsere Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit ist das Wirklichste, was wir haben und nicht das, was wir losgelöst von uns als wirklich voraussetzen.

Bildlich gesprochen (ich verwende hier ein Bild, das John R. Searle in seinem Buch „Seeing Things as They Are. A Theory of perception“ anführt) nehmen wir also „Wirklichkeit“ nicht wie einen Film in einem Kino wahr, das wir nie verlassen haben und auch nie mehr verlassen werden. Folgt man Gabriel, dann sind alle Weltbilder falsch, weil sie unterstellen, dass es eine Welt gibt, von der wir uns ein Bild machen können. Anstelle von „Weltbildern“ gibt es „Sinnfelder“, „die sich in unendlichen Variationen unendlich vermehren“. (Siehe: „Warum es die Welt  nicht gibt“, S. 126) Unter den Bedingungen der IT-Welt  und deren „Virtual Reality“ ist allerdings, wie ich einwerfen möchte, die Bedeutung von „Sinnfeldern“ neu zu definieren – und zwar auf eine Weise, die es mir als Mensch nach wie vor ermöglicht, handelnd tätig zu werden. Ich gebe zu bedenken, dass eine Gesellschaft, die lediglich auf Partizipation ohne physische und persönliche Präsenz baut, sich auf dem Weg zu einer Phantom-Gesellschaft befindet.

Sherry Turkle, Psychologin am MIT, hat sich weltweit einen Namen mit ihren Studien über Mensch-Computer-Wechselwirkungen gemacht. Befragt nach einer bündigen Lagebeurteilung unserer digitalen Gesellschaft, antwortete sie in einem Interview: „Wir haben den Punkt erreicht, da Simuliertes nicht mehr als Zweitbestes gilt (….)  Wir erleben die erste Generation, die mit der Simulation heranwächst und darin eine Tugend sieht; und die sich schwertut festzustellen, wo die Realität von der Simulation – oft auf unmerklich Weise – abweicht.“ (Eduard Kaeser, „Ich simuliere, also bin ich. Über die Notwendigkeit, Imaginäres und Reales auch im nicht ganz geheuren digitalen Alltag zu unterscheiden“, in: Feuilleton der NZZ, 19. Januar 2011, Nr. 15). Zu bedenken ist, dass Technik-Simulakren und Automaten den Menschen seit der Antike in ihren magischen Bann ziehen; dem Realen ist immer schon das Virtuelle oder das Imaginäre beigemischt. Da es häufig keine klare Scheidung zwischen dem Realen und dem Virtuellen gibt, übersteigt unser Vorstellungvermögen immer wieder die Grenzen der realen Situation. Das, was ist, erhält sein Würze nicht allzu selten durch das, was sein könnte – womit wir wieder, auf einer neuen Ebene, bei einem Begriff von Wirklichkeit wären, der erst dann „wirklich“ wird,  wenn er sowohl die äußere Realität (Woody Allens Teppich) wie auch deren Wahrnehmung durch den Menschen umfasst.

Meinem Verständnis nach sind die geistige und die sprachliche Verfasstheit von Realität die zentralen Kriterien für das, was wir als „wirkliche Wirklichkeit“ bezeichnen. In ihr verschwinden die Grenzen zwischen einem Außen und einem Innen. Wird diesem Sachverhalt nicht Rechnung getragen, ist eine Verständigung über das, was wir ganz selbstverständlich als „Wirklichkeit“ bezeichnen, gerade im interkulturellen Kontext, nur sehr schwer möglich. In dem Klassiker „Zen-Buddhismus und Psychoanlayse“ von Erich Fromm, Deisetz Teitaro Suzuki und Richard de Martino aus dem Jahr 1971 (S. 129, 130) lesen wir: „Es ist ganz offenkundig, dass der Nachdruck, den die Sprache auf die verschiedenen Quellen legt, aus denen man eine Tatsache erfährt (…), einen großen Einfluss auf die Art hat, wie die Menschen die Tatsachen erleben.“ Vor diesem Hintergrund möchte ich dem Sozialismus, den Wolfgang Runge in seiner Email als „gedankliches Konstrukt“ bezeichnet, in der chinesischen Gesellschaft einen hohen Wirklichkeitsgrad zusprechen, insbesondere wenn es sich bei ihm um den „Sozialismus chinesischer Prägung“ handelt, den die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) propagiert. Inwieweit meine These richtig ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Ich würde mich freuen, wenn wir das Thema entweder in den Kommentaren oder in einem Text wieder aufgreifen könnten. Die Frage lautet: Ist die „wirkliche Wirklichkeit“ das, was wir meinen mit Händen greifen zu können, wie wir es uns normalerweise vorstellen? Oder geht es bei ihr nicht vielmehr um einen Kosmos von Vorstellungen, der nur in einem mittelbaren Bezug zu dem Greifbaren/ Sehbaren/ Erfahrbaren steht und sich in den Köpfen einzelner Menschen und im Konzert der Kulturen und Nationen völlig unterschiedlich Geltung verschafft? Muss vor diesem Hintergrund nicht unsere Begegnung mit China, das sich anschickt, dem Grenzbereich zwischen Realität und Simulation eine bisher noch nicht dagewesene realpolitische Dimension zu geben, neu gedacht werden? ——  Zurück zum ästhetischen Spaziergang, der in diesem Kontext mehr alsnur l´art pour l´art ist.  

Als Ästhetischer Spaziergänger, der ich mich zwischen Ost und West bewege, ist Wirklichkeit für mich nicht vorstellbar ohne die Einsicht, dass es keine „einzige begriffliche Ordnung, der sich alles fügen muss, was existiert“, gibt. („Warum es die Welt  nicht gibt“, S. 235) Wie ich in meinem 2019 bei Matthes & Seitz erschienenen Buch „Den Duft hören. Natur, Naturbegriff und Umweltverhalten in China“ aufgezeigt habe, verhindert selbst ein so „realer“ Begriff wie derjenige der „Natur“ es nicht, dass die Gesprächspartner im interkulturellen Kontext über höchst unterschiedliche „Wirklichkeiten“ sprechen und so zu keinem gemeinsamen Handeln in Sachen Umwelt- und Klimaschutz finden. Hier zeigt sich, dass der Begriff der „Wirklichkeit“ im Plural gedacht werden muss. Wenn man sich der Mentalisierung der Welt bewusst geworden ist, entwöhnt man sich langsam ihrer eindimensionalen Festlegung. Man versteht dann nach und nach, dass „Wirklichkeit“ höchst unterschiedlich verstanden wird. Meiner Meinung nach ruft diese Einsicht nach der Kunst des ästhetischen Spaziergangs. Spaziert man, dann lassen sich komplexe Sachverhalte, die die Lebenswirklichkeit jedes einzelnen Menschen und verschiedener Kulturen auf je eigene Weise berühren, anders erfahren, anders offenlegen und dann auch anders erzählen. Der ästhetische Spaziergang, so wie ich ihn praktiziere,  verdankt sich einer Realitätsleidenschaft, durch die Dynamiken unbewussten Wissens bewusst werden.

Dazu mehr in meinem Blog am 01.02.2022  

Conditio humana

Frage eines Gehenden zu Beginn des Jahres 2022: Wie ist es aber, wenn der Mensch neue Wege einschlägt, die ihn Grenzen – Grenzen seiner selbst, Grenzen seiner Kultur – überschreiten lassen?

Diese Frage ist für unsere „Ästhetischen Spaziergänge zwischen Ost und West“ bedeutsam. Wie ich in einem meiner früheren Texte bereits zum Ausdruck gebracht habe, werden weglose Landschaften zwar romantisiert. Dennoch aber werden Landschaften mit einem gut ausgebauten Wegenetz präferiert – insbesondere wenn sie durch den Dschungel führen, den Aldous Huxley mit einem Pflanzenmonster verglich. Und auch die chinesische Philosophie/ Ästhetik lehrt uns, den Weg zu schätzen. Folgt der Mensch ihm, dann wird er erst der Natur gewahr. Folgt er ihm nicht, dann geht er in ihr als Wildnis verloren. Auf den Punkt gebracht: Das Gehen auf Wegen wird vorgezogen, weil Wege dem Menschen Orientierung geben und ihn mit all den Persönlichkeiten verbinden, die sie in der Vergangenheit beschritten. Sie geben denjenigen, die sich auf ihnen bewegen, zugleich Orientierung in den oftmals unwirtlichen Weiten der Landschaft wie in den unauslotbaren Tiefen der Geschichte. Wege in der Natur lassen sich, so mag es fast scheinen, mit sozialen Netzwerken vergleichen: Wer sich auf ihnen bewegt, ist kein Aussteiger; er kehrt immer in die Gesellschaft, aber auch in die Grenzen seiner eigenen Geschichte, die „Heimat“, zurück.

In Jorge Louis Borges´ Erzählung „Der Unsterbliche“ führt die Reise zu den unsterblichen Troglodyten den Erzähler zu der Erkenntnis, dass das endlose Leben die Erstarrung in der ewigen Wiederkehr des Gleichen und damit die äußerste Langeweile bedeutet. Die Erfahrungen von Glück, Intensität und Gegenwart würden verflachen, wenn die Farben des Lebens nicht vor dem dunklen Hintergrund des eigenen Todes leuchten. Oder, mit anderen Worten gesagt, würde der Mensch ohne die Verankerung seiner Wünsche und Werte in seiner eigenen menschlichen Natur den Orientierungsrahmen verlieren, der seinem Leben Bedeutsamkeit und Sinn verleiht. Es gilt also, auf der einen Seite die eigene leibliche Natur gegen ihre Herabsetzung, Entwertung oder Überwindung zu verteidigen und auf der anderen Seite die Bedingungen des eigenen Denkens und Fühlens anzuerkennen. Thomas Fuchs scheibt in seinem Aufsatz „Transhumanismus und Verkörperung“: „Geben wir uns daher mit der Conditio humana zufrieden. Sie ist vielleicht nicht das Beste, aber sicher auch nicht das Schlechteste, was uns geschehen konnte.“ (in: Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken, Jahrgang 50 (2020/ 2021), Max Himmelheber-Stiftung (Hrsg.), Stuttgart: S. Hirzel Verlag, 2020, S. 222 -241, Zitat: S. 239). Mit diesen Worten überzeugt der promovierte Medizinhistoriker und Philosoph Fuchs mich, der ich auf den Spuren Zong Baihuas ästhetisch wandere und, wie Zong, davon überzeugt ist, dass der Spaziergang weder Plan  noch System hat, aber dennoch zu Beobachtungen führt, die der Logik zugänglich sind.

Gehen – Weglosigkeit – Wildnis – Conditio humana. Der chinesische Schriftsteller und später einflussreiche Kulturpolitiker Guo Moruo (1892-1978) übersandte Zong Baihua in einem auf den 18.1.1920 datierten Brief drei Gedichte zur Lektüre („Brief an Zong Baihua. Guo Moruo“, aus dem Chinesischen von Ingo Schäfer, in: minima sinica, Jahrgang 15, 2003, Nr.1, S. 80-98. Das nachfolgend zitierte Gedicht findet sich auf S. 85). Eines davon lautet:

Auf der Suche nach dem Tod

(geschrieben vor vier Jahren)

Ich durchschritt das Tor, den Tod zu suchen.

Am Himmel zerfloss ein verlassener Mond.

Meine Seele gefror im kalten Wind.

Bitterer Hass wühlte in mir.

Wohin in nicht endender Weite?

Jeder Schritt von Seufzern begleitet.

Unfähig war ich, den Tiger zu malen,

Ein Strohhund in dieser Welt.

Erbärmlich friste ich ein nichtiges Leben.

Leicht gefasst der Entschluss zu sterben.

An die Familie dachte das närrische Herz, an die Heimat.

Wieder in der Menschenwelt,

Tret´ ich ein ins Haus

Und finde die Liebste in Tränen.

„GehBorgen“

Gehen. Meditationen und Reflexionen am Ende des Jahres 2021

„GehBorgen“ von Sabine Braun:

„Ich habe mir mein Leben geborgt. Vom Himmel und der Erde, von Bäumen und Blumen, von Felsen und vom Feuer, von den Sternen und der Sonne, von Winden und Wellen. Ich fühle mich geborgen in den Schwingen meiner Engel. Fliegende Engel. Tanzende, bebende, weiche und mächtige Wesen. Sie sprechen zu mir, wenn ich ihnen meine Sprache und Wege zeige, meine Gedanken mit ihnen teile. Sie sind unterwegs neben mir. Immer und überall. Auf allen Wegen. Von Anfang bis Ende.“ (Sabine Braun, „GehBorgen“, in: Gegenüberstellung. Brücke zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, Regensburg: Verlag Schnell & Steiner GmbH, 2014, S. 47)

„The God Project“ von Djawid C. Borower:

„`Wahrheit´ ist wohl der gefährlichste Begriff der Menschheitsgeschichte, vor  allem, wenn er mit dem Begriff „Gott“ verbunden ist. Die Kunst trennt sie voneinander.“ (Djawid C. Borower, „The God Project“, in: Gegenüberstellung. Brücke zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, Regensburg: Verlag Schnell & Steiner GmbH, 2014, S. 45).

„Sinnzusammenhang“, ein Zitat von Josef Beuys:

Mit dem Begriff der „Autonomie“ der Kunst wurde in der Kunsttheorie des 20. Jahrhunderts die Unabhängigkeit der Kunstproduktion von allen Vorschriften und Vorgaben des kirchlichen Christentums besiegelt. In dem Begriff der „autonomen Kunst“ kommt zum Ausdruck, dass nicht nur die institutionalisierte Religion, sondern auch die großen Systeme der traditionellen Ästhetik für sie keine Bedeutung mehr haben. Der einzelne Kunstgegenstand, seine Entstehung und seine Kommunikation stehen im Mittelpunkt des Interesses, weshalb auch die Kunsttheoretiker nicht mehr von „Kunst“ überhaupt, sondern von Strukturen, Schematisierungen, Botschaften, ästhetischen Gegenständen, poetischen Nachrichten, ästhetischer Zeichenverbindung sprechen und damit das zuvor durch metaphysische Prämissen vereinheitlichte Phänomen „Kunst“ in einen gefächerten Bereich aufklärbarer Teilkomponenten zerlegen. Daraus folgt für ihren „Sinn“, dass dieser in der Sache selbst – dem einzelnen Kunstwerk – und nicht mehr in übergreifenden theologischen oder philosophischen Einheiten zu suchen und zu finden ist: „Das autonome Kunstwerk muss aus sich heraus den Sinnzusammenhang entwerfen, der dem fragenden Menschen Orientierung gibt“, wie Josef Beuys (1921-1986), an dessen hundersten Geburtstag im zurückliegenden Jahr erinnert wurde, feststellte (in: Franz Joseph van der Grinten/ Friedhelm Mennekes, Herausgeber, Menschenbild – Christusbild. Auseinandersetzung mit einem Thema der Gegenwartskunst, Stuttgart, 1985, S.112)

„Gehend weiche ich aus ins Reale“ von Heinrich Geiger

Und wenn die „Kunst“ ganz verschwunden ist im Gewöhnlichen, fühle ich mich „GehBorgen„. Gehend weiche ich aus ins Reale, und hoffe in der Begegnung mit ihm wieder die Welten zu erschließen, die mir die Scheinwelten der Werber und Designer raubten. Wenn ich stehen bleibe, werde ich mir meiner eigenen künstlerischen Voreinstellung bewusst, die Zong Baihua als „westlich“ im „Führer der Ästhetik“ (meixue xiangdao, Verlagsgesellschaft der Universität Beijing (Hrsg.), Beijing, 1982, S. 8)  bezeichnet: Ich will nicht, dass die Freiheit der Kunst von Ansprüchen ganz gleich welcher Art, und seien es ethische, eingegrenzt wird. Ich schaue, und das ist genug, um „GehBorgen“ im Sinne der Kunst des Gehens zu sein. Und also ist das Soziale an der „Geh-Kunst“ im „westlichen“ Sinne (Zong Baihua) recht eigentlich das Asoziale, weil sie immer aus der Distanz erfolgt. Sie trägt dem Prinzip Rechnung, dass erst die Befreiung von jeder Verantwortung es ermöglicht, die eigene Verantwortung neu zu begreifen. Nur die Unbestimmtheit der Ästhetik birgt die Chance auf eine andere Form der Bestimmtheit, vielleicht sogar der Selbsterkenntnis.

„Kunst und Kirche“ von Heinrich Geiger:

Kunst und Kirche bilden nicht mehr ein harmonisches Miteinander. Obgleich im Laufe des 20. Jahrhunderts der Graben zwischen ihnen vertieft wurde, befruchten sie sich aber nach wie vor. Das Verhältnis von Religion, Spiritualität und Kunst erweist sich im institutionalisierten Rahmen der Kirche auch heute noch als höchst produktiv. Berühmte Künstler der Moderne, die nicht kirchlich gebunden waren, schufen Werke für Kirchenräume. Der Jude Marc Chagall (1887-1985) schuf Glasfenster für Kirchen und Kathedralen. Le Corbusier (1887-1965) – er war Calvinist – entwarf die Architektur der Marienwallfahrtskirche Ronchamp. Henri Matisse (1869-1954), ein dezidierter Agnostiker, gestaltete die Kirche der Dominikanerinnen in Vence und vertiefte sich in die katholische Liturgie. Fernand Léger (1881-1955) und Giacomo Manzù (1908-1991) schufen die Glasfenster von Audincourt beziehungsweise die Bronzetür von St. Peter in Rom. Beide waren Kommunisten.  

Die wunderbaren Kunstwerke, die in kirchlichen Räumen im Laufe des 20. Jahrhunderts entstanden, wurden im Geiste eines veränderten Verhältnisses von Kunst, Ästhetik und Kirche geschaffen. Denn im Laufe des 2. Jahrtausends unserer Zeitrechnung, zwischen Mittelalter und Gegenwart, hatte ein gewaltiger Erosionsprozess stattgefunden, der die klassischen kirchlichen Bindungen freisetzte. Dies geschah wie folgt: Nach und nach wurden die Konfessionen von der Aufklärung eingeholt, wobei die Freiheit der Kunst, gemäß bildungsbürgerlicher Wertehierarchie, zur ranghöchsten Form der Meinungsfreiheit avancierte. Kunst und Ästhetik beerbten religiöse Traditionen. Wer dem Gedanken der Freiheit der Kunst folgte, war nicht mehr bereit, das „römische Prinzip“ der Kirche und die Institutionalisierung des Glaubens zu akzeptieren. In diesem Geiste wurde die Religion in einem urprotestantischen Sinne eher als Frage nach dem Sinn und nach den Ursprüngen allen Seins verstanden. Die im Auftrag der Kirche entstandenen Werke von Marc Chagall, Le Corbusier, Matisse, Leger und Manzù, die ich oben nannte, beweisen, dass die Institution Kirche weiterhin Künstler bis in die jüngste Gegenwart zutiefst zu inspirieren vermochte – jenseits eines absoluten Wahrheitsanspruchs.

*

Gehen, um „GehBorgenheit“ zu finden;

Gehen, um dem Anspruch einer absoluten Wahrheit zu entkommen;

Gehen, um einen Sinnzusammenhang zu entwerfen;

Gehen, um aus der Distanz, die eigene Verantwortung für die Welt neu zu begreifen;

Gehen und die Begegnung mit einer Institution, der Kirche – nicht nur zur Weihnachtszeit.

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern meines Blogs ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein erfülltes Neues Jahr.

Herzlich, Heinrich Geiger

21.12.2021

Gastbeitrag von Marc Hermann

Grußwort von Heinrich Geiger

Rebecca Solnit sieht in ihrem Buch „Wanderlust. Eine Geschichte des Gehens“ (S. 329) von allen Performances um das Thema Gehen einen Lauf auf der Chinesischen Mauer als die „dramatischte, ambitionierteste und extremste“ an. Der Titel der Perfomance lautet „Lovers“; ausgeführt wurde sie 1988 von Marina Abramovic´ und Ulay, deren Zusammenarbeit mit einer Reihe begann, der sie den Namen „Beziehungsarbeit“ gaben.

Was ein Flaneur ist, wurde bisher nie so richtig definiert. Wulf Noll, von dem drei Gastbeiträge in diesem Blog zu lesen waren, gibt uns in seinem 2019 erschienenen Buch „Drachenrausch. Flanieren in China“ Einblicke in die „psychische Realität eines Pluralisten“ (S. 107). Mit dem Begriff des „Pluralisten“ finde ich die Wesenszüge eines Spaziergängers bestens umschrieben. Aber auch Marc Hermann gibt uns einen wichtigen Hinweis, was ein Flaneur ist: Es handelt sich bei ihm um einen Menschen (ich möchte ihn als „Zeitgenossen“ bezeichnen), der an der Welt teilhat, sie „wirklich“ sieht – weswegen sie ihm auch zur „Umwelt“ wird. Ich freue mich sehr über seinen Beitrag, da er ins Offene führt; hinaus aus den Begrenzungen und Denkverboten, die uns identitäre Konzepte setzen .

Marc Hermann hat Germanistik, Philosophie und Sinologie in Kiel, Shanghai und Bonn studiert. Der Fachwelt ist er bekannt als langjähriger Redakteur der wissenschaftlichen Zeitschriften „minima sinica“ und „Orientierungen“ sowie als Dozent am Sinologischen Seminar der Universität Bonn. Er hat zwei Texte aus den „Ästhetischen Spaziergängen“ (meixue sanbu) Zong Baihuas übersetzt: „Der Ort des Schönen“ (mei cong hechu xun) und, zusammen mit Sebastian Gault „Der Ausdruck von Leere und Fülle in der chinesischen Kunst“(zhongguo biaoxian li de xu he shi). Die Übersetzungen finden sich in minima sinica 2/ 2004, S. 69-83 und minima sinica 2/ 2002, S. 104-115.     

Marc Hermann

Gehen – als schweifendes Spaziergehen – führt immer ins Offene. Wer geht, panzert sich in keinem System ein, sondern öffnet sich für neue Eindrücke, Gedanken, Gefühle. Ist es ein Zufall, dass Nietzsche und de Montaigne leidenschaftliche Spaziergänger waren? Nietzsche mahnte bekanntlich, „keinem Gedanken Glauben zu schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung“; „das Sitzfleisch“ nannte er „die eigentliche Sünde wider den Heiligen Geist“. Und Montaigne erklärte: „Meine Gedanken schlafen ein, wenn ich sitze. Mein Geist geht nicht voran, wenn ich nicht meine Beine in Bewegung setze.“ Der wahre Spaziergänger – als der in keinem System Behauste – lebt deshalb jene fluide, in jeder Situation sich neu erfindende Weisheit, die François Jullien in seinem Buch Der Weise hängt an keiner Idee so schön als „das Andere der Philosophie“ beschrieben hat – ein Anderes, das in China viel wirkmächtiger als im Abendland gewesen ist.

Mit dieser Weisheit verbunden sind – wie auch Heinrich Geiger immer wieder beschrieben hat – die Einübung in das In-der-Welt-Sein und in die eigene Leiblichkeit. Das klingt nicht gerade nach viel, doch in Zeiten, in denen der Leib- und Weltverlust des modernen Menschen ein derartiges Ausmaß angenommen hat, dass sich jegliche sinnliche Präsenzerfahrung im Spiel der Konstrukte und Diskurse zu verflüchtigen droht – salopp gesagt: im endlosen Schwadronieren eines Intellekts, der nur noch um sich selbst kreist -, wäre damit tatsächlich unendlich viel gewonnen: nämlich ein Weltverhältnis, das nicht wie das vermeintlich autonome Subjekt früherer Zeiten auf Herrschaft zielt, sondern sich in Nähe, ja liebender Teilhabe an seiner Um- und Mitwelt erfüllt – oder, wie Peter Sloterdijk so schön gesagt hat, in der Teilhabe an „Sphären“ als gemeinsamen „Beseelungsräumen“.

Als „Erkenntnisgänger“ tut der Spaziergänger eigentlich nicht viel mehr als: sehen. Aber wirklich sehen – innerlich schweigend, achtsam, ganz der Welt geöffnet – ist (wie Krishnamurti gesagt hat) vielleicht das Schwerste, was es gibt.

ein sanftes Erschrecken beim Betrachten eines Blattes

Alles Pflanzliche hat mehrere Leben. Das Vergehen ist ein Teil davon. Den Zyklus von Werden und Vergehen führt uns die Natur Tag für Tag vor, ganz unauffällig, aber konstant, draußen in den wechselnden Jahreszeiten. Aber auch beim Blick auf die Blumen, die wir uns in unsere Küche oder unser Wohnzimmer stellen, werden wir zu Zeugen eines Geschehens. Sind vertrocknete Blätter schön? Ich meine, ja! Sie vermitteln mir den Eindruck, dass ich einen eingefrorenen Moment absoluter Jetztzeit erlebe. Oftmals sehen Blätter wie verbrannt aus. Nehme ich sie aber genauer ins Visier, sehe ich die Konturen des sich im Prozess des Vertrocknens zusammenziehenden Blattes messerscharf: Das Unzerstörbare der Natur in seiner Wandelgestalt wird in aufrüttelnder Intensität sichtbar. Mir wird urplötzlich klar, dass es ein sanftes Erschrecken beim Betrachten eines Blattes gibt.

Erschrecken und riskantes Denken: Haben vertrocknete Blätter für den „Philosophen“ eine Bedeutung? Im achtzehnten Jahrhundert, als die Welt noch auf Französisch dachte, hießen die Vorläufer der Intellektuellen unserer Tage „les philosophes“. Im einschlägigen Artikel von d`Alemberts und Diderots Encyclopédie war vorausgesetzt, dass sich solche „Philosophen“, um ausführlich und in Ruhe denken zu können, auf Distanz zum Treiben der Welt halten müssen, aber dennoch „die Welt nicht als ein Exil ansehen“ sollen. Was sie gegenüber „den anderen Menschen“ auszeichnet, so d`Alembert und Diderot, ist die Fähigkeit zur „Selbst-Reflexion“, und das bedeutet: zur Analyse der „Gründe menschlichen Handelns“. Der Philosoph muss wie alle Menschen „seinen Weg in der Nacht finden, aber das Licht einer Fackel geht ihm voraus“. Mittlerweile ist dieses Licht erloschen. Der Anspruch des Intellektuellen, dass seine Ansichten als prinzipiell wahrheitsnah angesehen werden, gehört der Vergangenheit an. Denn im heutigen Alltag sind der Begriff und der Wert der Wahrheit pluralisiert; sie sind an die Kompetenzen jeweiliger Spezialisten gebunden. In der Praxis der Gegenwart gibt es eine Wahrheit der Juristen, eine Wahrheit der Mediziner, eine Wahrheit der Ingenieure usw., aber mehrere Wahrheiten der Philosophen. Und das ist gut so! Die Charakterisierung der neuen Rolle des Philosophen ist meines Erachtens mit „Katalysator von Komplexität“ bestens umschrieben. Ich wünsche mir, dass er an einem vertrockneten Blatt seine Fähigkeit zu einer sensiblen Begrifflichkeit ausbildet und sich dabei an der Qualität des Messerscharfen an seinem Beobachtungsgegenstand orientiert. Dazu  bedarf er eines phänomenologisch begabten Blicks, wie ihn der Spaziergänger auf seinen langen Wegen ausbildet und darüber, im besten Fall, zu einem ästhetisch sublimen Philosophen oder Schriftsteller oder auch zu einem großen Schweigenden wird. Seine Aufgabe ist es, potenzielle Alternativen und Gegenmodelle zu den je institutionalisierten Weltdeutungen und Praxisformen zu entwickeln. Geschähe dies, dann wäre unter anderem der Weg nach China wieder offen, den derzeit der Hang zu unterkomplexen Verhaltensweisen verstellt.