Mit sonderbarer Gnadenlosigkeit wird Technik nach wie vor als Mittelstruktur verstanden: als ambivalentes Instrument zur Erreichung vorgegebener Ziele. Weiter so zu denken würde eine gefährliche Illusion der Freiheit gegenüber der Technik implizieren. Denn wir sind auf Technik nicht nur als Mittel des Überlebens angewiesen, sondern sie bestimmt das Wie unserer Lebensform, sie stellt die gesellschaftliche Infrastruktur und bestimmt somit den gesellschaftlichen Zusammenhang des Ganzen wie auch die Gesellschaftlichkeit des Individuums. Was Technik als zivilisatorischer Zustand ist, das steht zu denken noch aus. Als Haupthindernis hierfür erweist sich die Auffassung, dass die Erde das Experimentierfeld menschlicher Machbarkeitsfantasien ist. Günter Anders bezeichnet die Folgen der daraus resultierenden Hybris unmissverständlich: „Wenn wir uns weiter darauf beschränken, die Natur als Herrschaftsgebiet, als Arbeitsmittel oder -stoff, statt als Partner anzusehen, ist alles aus.“ Wie kann der Mensch aber zu einer veränderten Haltung der Welt gegenüber finden, wenn er „weltfremd“, d.h. nicht in sie „eingebettet“ ist und nirgendwohin gehört? Günther Anders spitzt die „Weltfremdheit des Menschen“ in paradoxer Weise zu. Er behauptet, das Wesen des Menschen bestehe darin, kein Wesen zu haben: „weltfremd“ und gleichzeitig bestrebt, sich die Welt anzueignen, führt er eine Existenz, die aus „pluralen Möglichkeiten“ besteht. Diese These könnte auch in heutiger Zeit formuliert sein. An einer anderen Stelle erwähnt er Karl Jaspers und dessen Gedanken eines „Halts“. Der Mensch sucht in der Welt nach einer Anbindung. Wenn er sie nicht findet, sucht er Zuflucht in der Religion. Auf unseren „Spaziergängen zwischen Ost und West“ stellen wir fest, dass die chinesische Ästhetik sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie dem Menschen einen Weg der Anbindung an die Welt eröffnet, die nicht religiöser Natur ist. An Zong Baihuas „Ästhetischen Spaziergängen“ wird offensichtlich, dass „Welt-Sein“ für den Menschen ein „Welt-Werden“ bedeutet, dabei allerdings den Durchgang seiner Seinserfahrungen durch ein vermittelndes Medium – im Falle Zong Baihuas die Dichtkunst – voraussetzt. Menschliche Erkenntnis stellt sich ausgehend von Bildern und Zeichen ein, die dem Menschen bedeuten, dass er eine Größe unter anderen und ein unerlässlicher Bestandteil eines kosmisch-irdischen Prozesses ist. Im Falle der „Ästhetischen Spaziergänge“ steht hierfür das „Gehen als Kunst“, und zwar als ein „Erkenntnis-„gang“, wie in einem der vorhergehenden Blogs festgestellt wurde.
Gehen als künstlerischer Akt
Seine unter dem Titel „Die Weltfremdheit des Menschen“ veröffentlichten „Schriften zur philosophischen Anthropologie“ zeigen Günther Anders als einen Denker, dessen Anliegen es ist, „die wesentlichen Umgangsformen des Menschen mit Welt und Mitwelt festzustellen“. Im Kontext der Überlegungen des Heidegger-Schülers Anders werde ich mich in diesem und in den folgenden Beiträgen mit zwei Phänomenen menschlicher Weltverhältnisse – sie sind grundlegend für das Weltverhältnis des Spaziergangs – befassen: dem Gehen und dem Sehen/ Schauen. Erwähnt sei, dass die Schrift von Günther Anders über „Die Weltfremdheit des Menschen“ , die dem Sammelband den Titel gab, in etwa zu der Zeit entstand (1930), als der Autor der „Ästhetischen Spaziergänge“ , Zong Baihua, in Deutschland studierte (1920-1925).
Das Kunstmuseum Wallis, das an der Jahreswende 2017/ 18 in einer Ausstellung das Gehen als künstlerischen Akt thematisierte, ist in einem ehemaligen Gefängnis untergebracht. Sich an einem solchen Ort mit dem Thema des Gehens zu beschäftigen, verblüfft auf den ersten Blick, ist doch in einem Gefängnis das Gehen nur unter Kontrolle und in engen Grenzen erlaubt. Allerdings brachte die spezifische Atmosphäre, die das Gebäude durchzieht, die Besucher zum Nachdenken über die unterschiedlichen Bedeutungen des Gehens. In der Ausstellung war zum Beispiel eine Videoarbeit von Guido van der Werve zu sehen, die sich dem Gehen als prekärem Zustand widmet. In diesem Video bewegt sich der Künstler über finnländisches Packeis, während ihm in knappem Abstand ein dreieinhalbtausend Tonnen schwerer Eisbrecher folgt und den Bereich, den er durchschritten hat, in große Stücke zermalmt. In der Ausstellung wurde auch »Der rechte Weg« von Fischli/ Weiss gezeigt. Ratte und Bär hinterfragen in diesem Klassiker der Schweizer Kunst Themen wie die Zugehörigkeit zum Vaterland, die Wahl des Lebensraums, lebensbedrohliche Situationen, Solidarität und Freundschaft und lassen erkennen, dass das Gehen eine Methode ist, um zu neuen An- und Einsichten zu gelangen. In beiden Fällen wird deutlich, dass der Vorgang des Gehens in einem bestimmten Umfeld – sei es die Eislandschaft Finnlands oder die Häuserlandschaft einer Fußgängerzone – auf Voraussetzungen beruht, die sehr schnell hinfällig sind; sei es aufgrund der Gewalttätigkeit eines Eisbrechers oder, ganz aktuell, einer politisch verordneten Ausgangssperre in Zeiten eines Lockdowns. Weder das Packeis Finnlands noch die menschlichen Werte der Solidarität und der Freundschaft versprechen dem Gehenden dauerhafte Sicherheit, das scheinen uns die beiden Arbeiten zu bedeuten. Wer geht, droht zu stürzen oder unterzugehen: »Betreten auf eigene Gefahr «, »Please watch your step« . Günther Anders spricht in „Die Antiquiertheit des Menschen“ aus dem Jahr 1956 von einer anderen Gefahr. Er formuliert hier die These, dass der Mensch, nachdem er sich die Welt angeeignet hat, mit seinen Produkten nicht mehr Schritt zu halten vermag. Maschinen, Medien und nicht zuletzt die Atombombe formen ihn, der sie gemacht hat, um. So weit, dass er dabei selber obsolet wird.
Selbstvergessen
„Querfeldein, querwaldein, querbuschein, querwortein“ – auf diese Weise beschreibt Peter Handke 2011 in seinem Tagebuch den Beruf des Schriftstellers als eine Art Pfadfindertum. Mit seinen Aufzeichnungen führt er uns in eine Sphäre, in der das von ihm so bezeichnete „Ideal der Ideale“: die „Empfänglichkeit“ vorherrscht. Was geschieht, wenn wir das Verhältnis, das wir spazierend zu uns selbst und unserer Umgebung eingehen, in Worte fassen, mit Bildern festhalten und somit ästhetisch gestalten? Vielleicht spielen wir ja nur, bis der Tod uns holt, wie der Dada-Künstler Kurt Schwitters sagt? Und vielleicht tun wir das so selbstvergessen, weil wir hoffen, dem Tod zu entgehen? Was Peter Handke anbelangt, so sieht er das Göttliche nicht im Jenseits, sondern im Hiesigen, in der Natur und natürlich auch in den Dichtern. In diesem Punkt stimmt er mit den Grundannahmen des Buchs Zhuangzi, eines Klassikers der daoistischen Literatur, überein. In dem nach ihm benannten Werk tritt Zhuangzi als ein Gehender auf, der die endlose Kette der Abhängigkeiten durchbricht und sich von den Verhärtungen des Alltagsgeistes befreit. Im Gehen entledigt er sich allen instrumentellen Wissens, das dem Menschen zwar den Zugriff auf die Natur ermöglicht, letztendlich aber auch ursächlich für deren Zerstörung und so manche Sozialpathologien ist. Zhuangzi begegnet überall Sinn, da er nicht in die Absurditäten des Daseins verstrickt ist. Er bewegt sich in einer Wirklichkeit, mit der er auf vielfältige Weise korrespondiert. Indem er mit sprachlichen Mitteln die Wahrnehmung formt, erschließt er sich und seinen Lesern den Zugang zum „so“ dessen, was als „Weg“ bezeichnet wird und spontan geschieht. Im Beschreiten des Wegs gibt Zhuangzi genau das auf, was zu wandern scheint und dabei ins Schwitzen gerät: das eigene Ich mit seinen zwei Beinen und einem Sack voller Gedanken. Wenn der Mensch in Übereinstimmung mit dem „Weg“ wandert, wandert die Natur selbst. Selbstvergessenheit, die seismographischer Natur ist. Handke notiert 2015 in sein Tagebuch: „Keine Begeisterung ohne Moment von Erschütterung“.
Erkenntnis-„gang“
Zu spazieren bedeutet einen Erkenntnis-„gang“ im wahrsten Sinne des Wortes: Spazierend durchschreite ich die „innere Natur“ des Menschen wie die „äußere Natur“ der Wiesen, Wälder und Berge, der Häuserschluchten, Mietskasernen und Stadtautobahnen. Dass es bei diesem Erkenntnisgang nicht um die reine Idee geht, zeigt sich sehr bald. An die Stelle absoluter Wahrheitsansprüche tritt ein prozesshaftes Denken, das sich erst noch in der Zeit zu bewähren hat. Verletzlichkeit und Körperlichkeit. Die Zeit? Das sei „ein sonderbar Ding“, sagt die Marschallin in Hugo von Hofmannsthals Rosenkavalier. Eigentlich ändere sie ja nichts an den Sachen. Und wenn man einfach so vor sich hin lebe, dann sei sie „rein gar nichts“. Aber dann, auf einmal, gebe es Momente, da spüre man nichts mehr anderes als sie. Dann sei sie plötzlich überall. Um uns herum, in uns drin: In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen fließt sie. Kann Zeit fühlbar werden? Am eigenen Körper? Die Marschallin jedenfalls spürt sie in sich. Sie hört sogar, wie sie fließt, unaufhaltsam, unerträglich. Ihr Liebhaber will ihr die Flausen verjagen und versucht, dem aus seiner Sicht unerquicklichen Gespräch scherzhaft eine andere Richtung zu geben. Er sagt: „Sie spricht ja heute wie ein Pater.“ Das ist charmant dahingesagt. Aber wie ein Pater spricht sie eigentlich nicht, die gnädige Frau. Sie spricht eher so, als ob sie Martin Heideggers Sein und Zeit gelesen hätte. Als ob sie einen Blick in den Abgrund getan hätte, der sich öffnet, wenn man sich frei macht von allen Illusionen und dann, vielleicht, spaziert. Während ich den von einem chinesischen Architekten angelegten Wegen folge, bestätigt sich mir, dass sich die kulturell-medial gestaltete Umwelt längst die Natur einverleibt hat, sodass der Spazierende zum Akteur in einem höchst vielschichtigen Spiel von Beobachtung und Inszenierung von Zusammenhängen wird. Zeitlichkeit und Räumlichkeit. Angesichts der Durchdringung von Natur und Kultur in der Gartenarchitektur leuchtet mir die Bemerkung John Deweys (Erfahrung und Natur) ein, dass die Geschichte der menschlichen Erfahrung die Geschichte der Künste ist.
Existentieller Ernst
Die mäandrierenden Wege, die durch das Gelände der Chinesischen Hochschule der Künste in Hangzhou führen, bilden ein Wegenetz, das zu keinem Ziel führt; es kreist in sich selbst. Wer hier spaziert, benötigt ein gehöriges Maß an Einbildungskraft, der Fähigkeit zu Perspektivwechseln, originellen Ideenassoziationen und affektiver Erinnerung. Ohne diese ist er orientierungslos. Spazierend stelle ich mir folgende Frage: Können die Weisen der Selbsterfahrung, die sich auf diesem Gelände einstellen, das so dringend benötigte neue Umwelt- und Selbstbewusstsein herbeiführen? Und spazierend denke ich mir: Die begriffliche Verfestigung unserer Wirklichkeit wie auch der Mittel, mit der diese Wirklichkeit gestaltet wird, verlangt nach einer Revision des Projekts der Moderne, das durch die Vergesellschaftung von Wissenschaft den humanen Fortschritt durch Naturbeherrschung zu befördern versucht. Die für uns relevante Natur, d.h., die irdische Natur, ist nicht mehr als ein soziales und historisches Produkt. Aber, u.a. die Umweltkrise und die zeitgeschichtliche Präsenz von Barbarei machen es unmöglich, Geschichte weiter so zu denken. Ebensowenig hilft aber ein Verzicht auf Geschichtsphilosophie. Die Raumstruktur des Disparaten, die das Gelände der Chinesischen Hochschule der Künste bestimmt, scheint mir zu sagen, dass der Mensch ein geschichtliches Wesen ist, das sich in seiner eigenen Geschichte, in ihr kreisend, verstrickt und ihr deswegen nicht entkommt. Nach vielen Jahrzehnten des gesellschaftstheoretischen Pathos, muss deswegen das, was Geschichte ist, neu gedacht werden. Etwa als Wechsel von Manifestation und Verdrängung? Während ich an einen der pittoresken Aussichtspunkte gelange, nachdem ich verschiedene abseitige Platzsituationen durchquert habe, kommt mir der Naturbegriff, so wie er uns gelehrt wird – als Gegensatz zu allem Menschlichen, sei es Kultur, Technik, Erziehung usw. – plötzlich so schal vor. Ein existentieller Ernst ist erforderlich, der die Vordergründigkeit politischer Identifikationen durchschaut und das Projekt der Moderne in seinen begrifflichen Grundentscheidungen revidiert.
Das freie Spiel des Ungleichwertigen und Wert-Losen
Spazierend einer Öko-Logik folgen, die mit den Worten der freien Autorin, Kunstkritikerin und Kuratorin Yvonne Volkart „ein Sich-Öffnen auf das Andere hin“ bedeutet und die Fähigkeit beinhaltet, „in langen Ketten zu denken und sich den Schwierigkeiten, die das mit sich bringt, real auszusetzen. Denn wir können sowieso nicht mehr abhauen. Es geht jetzt nicht mehr einfach nur ums Aufräumen oder Putzen des eigenen Hauses. Die Dinge sind vermischt, es gibt kein Innen und Außen.“ („Kunst und Ökologie im Zeitalter der Technosphere“).
„Wir können nicht mehr abhauen“: Volkart bringt mit dieser nicht gerade hochsprachlichen Redewendung – wir kennen sie aus der Ganovensprache – zum Ausdruck, dass es kein Entfliehen vor dem Abfall mehr gibt, den wir täglich produzieren. Ein ästhetisches Denken entkommt dagegen, spazierend, der Herrschaft der Zwecke, die tagtäglich Berge von Abfall produziert. Denn die normative Kraft ästhetisch generierten Wissens besteht darin, durch bewusste Erfahrung die Dinge aus der Unterordnung unter eine reine Zwecklogik zu befreien. Die Wissenschaft ist von Platon bis Husserl als beste Wissensform gemäß einer nach Exaktheit und Sicherheit geordneten Skala von Wissensformen verstanden worden. Heute sehen wir, dass diese Strategie zur Verödung anderer Wissensformen wie der sinnlichen Wahrnehmung oder des Alltagswissens geführt hat. Wissensformen sind strukturell unterschiedlich und erfüllen folglich auch verschiedene und gegeneinander nicht substituierbare gesellschaftliche Funktionen.
Was steht kritisch an? Spazierend träume ich von einer ästhetischen Demokratie, die das freie Spiel des Ungleichwertigen und des Wert-Losen schützt – also mit all dem, was sich nicht tauschen und nicht in Äquivalenten berechnen lässt, in einen lebendigen Dialog tritt. Die begriffliche Verfestigung der Wirklichkeit wie auch der Mittel, mit der diese Wirklichkeit gestaltet wird, zwingt zu einer Revision der Begriffe selbst. Freiere Weisen des Sehens und der Selbsterfahrung , eine existentiell sensiblere Begrifflichkeit sind nötig.
Weltweisheit
Sollte es nicht möglich sein, dass das „alte“ Europa, festgefahren in seinen politischen, bürokratischen und sozialen Strukturen, neue Energien aus Kunst und Ästhetik bezieht? Ganz einfach: Könnte nicht die Kunst Modelle des Denkens und praktischen Gestaltens anbieten, die sowohl mit den europäischen Kulturtraditionen wie auch mit den Traditionen außereuropäischer Kulturen besser vereinbar sind als der bisherige politische und ökonomische Imperialismus?
Gefühle kommen aus der Welt auf uns zu. Wer über den von dem chinesischen Architekten Wang Shu gestalteten Campus der Chinesischen Hochschule der Künste (zhongguo meishu xueyuan) im Süden Hangzhous spaziert, wird eine schier unendliche Vielfalt von wechselnden Aussichten bemerken. Man wähnt sich in einem eigenen Universum abseits der am Horizont wachsenden Trabantensiedlungen, während man zwischen den Fakultätsgebäuden, die um einen vorgefundenen grünen Hügel und einige Wasserkanäle gruppiert wurden, flaniert. Indem die gesamte Anlage in einer kontextuellen Beziehung zu den Hügeln am Horizont steht, kann sich die Raumstruktur des Disparaten entfalten. Ebenso wie in der chinesischen Landschaftsmalerei eröffnen sich Blicke auf die Natur, die in einer topologischen Struktur paralleler Perspektiven verankert sind. Es sind nur Wolken und Nebelschwaden, die zwischen ihnen die Übergänge und so eine Verbindung herstellen. Parallele Perspektiven, die sich im Fortgang einer atmenden Bewegung einstellen.
Die philosophische Anthropologie arbeitet heute daran, Menschsein in einer Vielfalt von kulturellen Ausprägungsformen zu denken. In Zukunft soll weder ein Geschlecht noch eine Gruppe, noch eine Kultur für sich in Anspruch nehmen können, durch Ausbildung besonderer Kompetenzen das eigentliche Menschsein zu repräsentieren. Spazierend, d.h. umherschweifend soll Humanität zu einer Erfahrung werden, die sich im Zusammenspiel alternativer Ausprägungen des Menschseins realisiert. Weltweisheit.
Einführung
Ich möchte zu ästhetischen Spaziergängen zwischen Ost und West einladen, die in die Bereiche der chinesischen Kunst, Literatur und des chinesischen Denkens führen. Auch die chinesische Musik soll Berücksichtigung finden. Zu spazieren, ist nicht l´art pout l´art, kein reiner Selbstzweck. Es stellt einen Vorgang dar, mit dem sich der Mensch immer wieder aufs Neue seines Menschseins versichert und dabei zweierlei unter Beweis stellt: was die Befähigung zum Gehen aus ihm gemacht hat und welches Möglichkeitsspektrum er sich in kultureller und gesellschaftlicher Hinsicht aufgrund dieser Befähigung erschließt.
»No walk, no art«, so lautet das Motto einer Arbeit, die der englische Künstler Hamish Fulton speziell für eine Ausstellung im Kunstmuseum Wallis 2018 konzipierte. Orientiert an dem erweiterten Kunstbegriff Fultons werden mich bei meinen ästhetischen Spaziergängen immer die Fragen nach der schönen Gesellschaft, der schönen Ordnung des Kosmos oder, ganz pragmatisch, des guten wie schönen Lebens als mitlaufende Beobachtungen beschäftigen.
Bei meinen »Ästhetischen Spaziergängen« bewege ich mich auf den Spuren des chinesischen Ästhetikers Zong Baihua (1897-1986). Seinen Aufsatz »Ästhetische Spaziergänge« (meixue sanbu), der im Jahr 1959 erschien und später einem Sammelband mit Schriften zur Ästhetik den Namen gab, leitet Zong Baihua mit folgenden Worten ein: »Der Spaziergang ist eine freie, zwanglose Tätigkeit. Sein Schwachpunkt ist: er hat weder Plan noch System. Wer die Logik schätzt, mag wohl nichts von ihm halten, ihn verabscheuen. Doch die Anhänger des Meister Aristoteles, des Begründers der westlichen Logik, wurden »Peripatetiker« genannt, Spaziergang und Logik sind also, wie man sieht, nicht gänzlich unvereinbar. Wie es scheint, hat Zhuang Zi, ein Philosoph des chinesischen Alterums von nicht eben geringem Einfluss, täglich Spaziergänge unternommen, um in der Wildnis der Berge den mythischen Vogel Peng, die Insekten, die Schmetterlinge und die Fische oder in der Welt der Menschen die Sonderlinge und Missgeburten zu beobachten: Bucklige, Lahme, Krüppel oder Menschen, die nicht richtig beieinander waren, ähnlich den Figuren auf den Skizzen, die zur Zeit der italienischen Renaissance Leonardo da Vinci bei seinen Gängen durch die Straßen von Mailand rasch aufs Papier geworfen hat und die heute als erlesene Blüten der Malerei gelten. Die von Zhuangzi beschriebenen Figuren dienten später den Malern der Tang- (618-907) und der Songzeit (960-1279) als Modelle für ihre Arhatbildnisse. Beim Spaziergang kann man dann und wann am Wegesrand eine Blume pflücken oder einen schönen Stein aufheben, der einen besondes anspricht, wenn ihn auch sonst niemand für beachtenswert hält. Diese Blumen und Steine sollte man nicht überbewerten, aber auch nicht achtlos fortwerfen, sondern als Erinnerungen an seine Gänge auf den Schreibtisch legen.« (aus dem Chinesischen von Wu Yun und Karl Rudolf Bittigau, minima sinica 1/2003).
Auch wenn meine »ästhetischen Spaziergänge« »zwischen Ost und West« erfolgen und so manche Passkontrolle passiert werden muss, werden sie frei und zwanglos sein. Grenzen will ich leichten Fusses überschreiten: Spazierend suche ich das Gespräch nicht nur mit Menschen unterschiedlicher Kulturen, sondern auch mit Vertretern unterschiedlicher Disziplinen.
Der entscheidende Punkt für mich ist: Spazierend will ich meine Gedankenlandschaft im Kopf ausweiten und nicht etwa durch die Bestätigung von Vorurteilen verhärten. »Spazieren« bedeutet für mich »umherschweifen«, mich »räumlich ausbreiten«. Umherschweifend wird mir nicht nur in den Tempeln der Hochkultur Sinn begegnen: selbst auf der »Strasse, wo der Staub aufstieg, aufgewirbelt von der Haftreibung der Reifen und dem Fahrtwind« (Michael Donhauser in seinem Buch Vom Sehen) werde ich ihn finden. Spazierend strebe ich keine höhere Wahrheit an, an der ich dann unter Umständen schon bald verzweifle. Vielmehr will ich als Spaziergänger, sinnlich wahrnehmend, in einem Prozess eintreten, der die Geh- und Denkbewegungen miteinander vereint.
Gehen und Weg sind in der ästhetisch höchst verfeinerten chinesischen Kultur rein zeichensprachlich aufs Engste miteinander verbunden: Das Schriftzeichen »dao« (Weg) wird im Chinesischen mit dem Klassifizierungszeichen/ Radikal »Gehen« geschrieben. Indem der Mensch dem Weg »dao« auf eine rechte Weise folgt, werden für ihn sein eigener Weg und der Weg der Dinge eins.
Auf Wegen, die nicht immer nur durch wunderschön herausgeputzte Altstädte, sondern ebenso durch hässliche Peripherien mit den immer gleichen Betonbauten und Industriebrachen ringsherum führen, will ich »eine praktisch ästhetische Einstellung zur Erde, die eine sozialethische Dimension mitenthält« (Gernot Böhme in seinem Aufsatz »Ökologie, Ästhetik und Technik in der dritten Natur«) einüben. Spazierend suche ich dem Grundprinzip, dass der Mensch ein vernunftbegabtes und moralisches Wesen ist, bevor er Angehöriger dieser oder jener Rasse, Mitglied dieser oder jener Kultur ist (Ernest Renan, »Qu´est-ce qu´une nation?«, in: Oeuvres complètes, Bd. I, Paris, 1947), ein Stück Wirklichkeit zu geben. Mit meinen Spaziergängen will ich der wunderbaren Symbiose zwischen Bewusstseinsleistung und aufrechtem Gang meine Ehrerbietung darbringen. Denn ihr haben wir es zu verdanken, dass wir uns gehend, also prozesshaft, eine »Welt, deren Geografie spirituell geworden ist« (Rebecca Solnit, Wanderlust. Eine Geschichte des Gehens), erschließen können.
Bezogen auf die Welt der Kulturen, die ich mir spazierend erschließen möchte, leite ich daraus folgende Überlegung ab: Es gibt Haupt- und es gibt Nebenwege. Die Hauptwege sind im Verbund mit den Nebenwegen als ein Ensemble ineinandergreifender Zeichen zu verstehen, die erst im Rahmen einer zwanglosen und freien Interpretationsgemeinschaft ihre ganze Bedeutung entfalten. »Analysen, Zeitsprünge, Ungereimtheiten, Sinnentwürfe, die den jeweiligen kulturellen Ausdifferenzierungsprozessen folgen: Es ist unerlässlich, sich mit ihnen in ihrer ganzen Spannbreite auseinanderzusetzen «, so habe ich es in meinem 2019 erschienenen Buch Chinesische Mauern in Worte gefasst und damit ganz unbewusst die Weichen für »Ästhetische Spaziergänge zwischen Ost und West« gestellt, mit denen ich jetzt beginnen möchte.