„Langsam hin- und hergehen“

Die Idealvorstellungen von Maß und Mitte, wie sie in dem frühkonfuzianischen Traktat Die Anwendung der Mitte (zhongyong) formuliert sind, atmen den rationalen Geist des Konfuzianismus. Eines ist ausgeschlossen: die Mitte zu sehr im modernen „westlichen“ Sinne als Innewerden zu interpretieren; Wolfgang Kubin hat darauf in Das große Lernen. Maß und Mitte (Freiburg/ Basel/ Wien: Verlag Herder,  2014, S. 115) hingewiesen. Das Zhongyong beinhaltet eine Phalanx von Vorschriften, die einem Ziel dienen: den Widerstreit zwischen vorhandener administrativer und fehlender geistiger Autorität aufzuheben. Durch die Auslegungspraxis des song-zeitlichen (960-1279 n.Chr.) Neokonfuzianismus wurde aus der in dem Traktat formulierten Haltung der Mitte ein unerbittlicher Richtwert.

Mir kommt die Inschrift auf einer efeuumrankten Tafel im Gartenreich von Fürst Franz von Anhalt-Dessau in Wörlitz bei Dessau in den Sinn. Genauer gesagt befindet sich die Tafel im dortigen Labyrinth. Die in sie eingravierte Inschrift lautet „Wanderer, wähle deinen Weg mit Vernunft“. Aus diesen Worten spricht der aufklärerische Geist, der dem Fürsten sowohl zur Anerkennung durch Goethe wie durch Marx verhalf, sodass nicht einmal während der Zeit der DDR-Zeit diesem eigentlich „dekadenten Kulturerbe“ politische Relevanz abgesprochen wurde, und man das historische Gartenmonument sogrsam pflegte. Fürst Franz galt als ein aufgeklärter Fürst, der Armenhäuser, Feuerversicherungen, die Pressefreiheit und ein neues Schulsystem eingeführt hatte. Sein gesellschaftliches Reformprogramm war nach der Devise verlaufen: „Belehren und nützlich sein.“ Das erinnert an den Traktat Die Anwendung der Mitte, der ein durch die Tugendleistung (de) des Herrschers geordnetes und befriedetes Reich zumindest auf dem Papier zu begründen suchte. Auf dem Weisen ruhten die Hoffnungen der Konfuzianer, nachdem im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung die Machtorganisation in die Hände eines Herrschers, der mittels „Gesetz“ (fa), aber nicht mittels „Tugend“ (de) regierte, nämlich Qin Shihuangdi, gefallen war.

„Langsam hin- und hergehen“ (chi chu)

Der „Volkskünstler“ Lü Shengzhong (Werke von ihm waren u.a. in der Ausstellung NOTES ACROSS ASIA: Soul Windows im Konzerthaus am Gendarmenmarkt, Berlin 1998 zu sehen) wurde in Dayuji, Provinz Shandong geboren. Von ihm wurde das Scherenschnittbild mit dem Titel „Langsam hin- und hergehen“ (chi chu) geschaffen. Abbildungen finden sich in Yin Jinan, Du zi kou men, Knocking at the door alone. A close look at contemporary Chinese culture and art, Beijing: Sanlian shudian, 2002, S. 58, 62, 64, 67, 68. Das Bild „Langsam hin- und hergehen“  hängt wie ein aufgehängter Teppich von der Decke des Ausstellungsraums bis zum Boden, auf dem es zu gut einem Drittel aufliegt. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es eben keine Mitte hat. Durch eine benachbarte Säule, auf der eine mythische Figur zu sehen ist, wird es in einen bestimmten, nämlich  einen prähistorischen Kontext gesetzt. Ursprungsmythen bieten sich an. Um sich dem Bild und seiner Inszenierung mit Gewinn  nähern zu können, ist neben dem Begriff der „Mitte“ noch ein weiterer Begriff, nämlich derjenige der „Harmonie“ (he), bedeutsam.

Lü Shengzhong strukturiert unsere Vorstellungen von Maß und Mitte im Kontext chinesischer Kultur- und Geistesgeschichte neu, indem er sie in Momente von Bewegung auflöst. Auf seinem raumgreifenden Bild sind klar konturierte (es handelt sich um Scherenschnitte) menschliche Fußspuren zu erkennen. Bemerkenswert ist, dass sie einer gewissen Ordnung folgen – ABER nicht an einer Mitte orientiert sind, es handelt sich um ein sogenanntes „allover„. Wir sehen die Spuren von Menschen, die sich in einem fest umrissenen Kontext, nämlich einer durch präformierte Ordnungsformen bestimmten Gesellschaft bewegen.

In der Arbeit des chinesischen Volkskünstlers stellen die Fußspuren glückverheißende Symbole in einem ganz aufs Hier und Jetzt konzentrierten Denkgebilde dar. Aus der Nähe besehen erweisen sie sich auf dem Bild des chinesischen Künstlers als Einlegesohlen, auf denen jeweils ein menschliches Gesicht in Scherenschnitttechnik zu  sehen ist. Aus der chinesischen Volkskunst sind Einlegesohlen gut bekannt. Sie werden einem Hochzeitspaar mit den besten Wünschen für eine gute Ehe in Harmonie xie (gleichlautend mit den Schuhen, ebenso xie) geschenkt, bei dieser Gelegenheit allerdings mit der Darstellung von Mandarinenten, die als Symbol für eheliche Treue gelten.

Und so darf auch dieses Bild als ein großer Wunsch an alle Betrachter gelten, dass die vielen Einzelnen – auf jeder Einlegesohle ist ein Gesicht zu sehen – angesichts ihres gemeinsamen mythischen Ursprungs in Harmonie leben mögen. In der Auseinandersetzung mit der Arbeit „Langsam hin- und hergehen“ (chi chu) bewahrheitet sich, dass die Konzepte von „Mitte“ und „Harmonie“ eine tiefere Beziehung haben. Sie sind nicht voneinander zu trennen „als der kompakte und der entfaltete Staus ein und derselben Tugend: Mitte ist Harmonie in potentia, Harmonie ist Mitte in actu. Harmonie besitzt derjenige Mensch, in dessen Seele die Leidenschaften unter der Kontrolle der ratio stehen, der nicht vom pathos beherrscht wird und deshalb zur richtigen Einsicht in die umgreifende Ordnung des Kosmos befähigt ist.“ (Peter Weber-Schäfer, „Die `Große Lehre´und die `Anwendung der Mitte´“, in Peter J. Opitz (Hrsg.), Chinesisches Altertum und konfuzianische Klassik. Präkonfuzianische Spekulation. Konfuzius, Menzius, Hsün-tzu, Chung-yung und Ta-hsüeh, München: Paul List Verlag, 1968, S. 141-168, Zitat: S. 160)

„Wanderer, wähle deinen Weg mit Vernunft: Das Wandern – soll es denn eine Legitimation haben – stellt nicht nur in den Augen der Konfuzianer, sondern auch in denen des aufgeklärten  Fürsten Franz von Anhalt-Dessau mehr als nur ein müßiges Herumtreiben dar. Es folgt einer Einsicht (der Fürst spricht von „Vernunft“), die Ordnung gebiert: im Garten, in der Gesellschaft, im gesamten Kosmos.

Vorschau: In 14 Tagen folgt ein Text des Düsseldorfer Schriftstellers Wulf Noll . Überhaupt dürfen wir in den kommenden Monaten mehrere Gastbeiträge erwarten, u.a. von einem Komponisten und von einem Architekten. Ich selbst werde mich auch wieder zu Wort melden. Bis dahin werde ich mich im „Langsam hin- und hergehen“ üben. Ergebnis offen bzw. ich erwarte gar kein Ergebnis.

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3 Kommentare

  1. „Langsam hin- und hergehen“, ein starker Text, eigentlich ein Essay. Dazu kann ich nicht viel sagen, außer den Essay zu loben, der auf eine spezifische Ausrichtung in der chinesischen Kultur und ihrer konfuzianischen Ausrichtung zu sprechen kommt. Fühle mich zugleich an die griechische Antike erinnert, an die Peripatetiker, die unter Säulengängen hin und her wandelten und vernunftbetont und aufgeklärt philosophierten. In China hat man das archaisch-antike bzw. konfuzianische Denken beibehalten können, weil es pragmatisch ist und bis heute die Motive liefert, um gesellschaftliches Handeln zu überdenken. Im Westen blieb es bei der Spekulation. – Wenn Platon schreibt: „Harmonie ist Zusammentönen, Zusammentönen aber ist Übereinstimmen. Übereinstimmung kann aber unmöglich aus Gegensätzen bestehen, solange sie auseinander streben“, dann könnte das auch Konfuzius gesagt haben. Aber im Westen folgte nichts Praktisches daraus; man beißt sich bis heute eher an den Gegensätzen fest. – „Langsam hin- und hergehen“ könnte freilich auch ein Motto für heutiges Flanieren sein. Der Flaneur als Schriftsteller sieht vieles; er hat Facettenaugen.

  2. Ich habe versucht mir einen Über-blick zu (ver)schaffen. Ich meine einen Blick über eure Begegnung; also über sie hinaus, lieber Heinrich, werter Wulf.
    Mir ist bewusst, dass es ein wilder Beginn ist, aber warum nicht. Wenn es zu nichts führt, dann hatte man wenigstens Freude auf dem Weg, oder?
    Ich stürzte; mich einfach mal hinein, schätze ich.

    Es ist gewagt, aber mein erster Versuch war die De-Konstruktion und zwar die der Schriftzeichen 和 und 中. Wir schreiben entlang der Ordnung der Striche. Es ergeben sich 4 bei zhong1 und 8 bei hé. Das wissen wir alle, hier. Es ist also das Gleiche, halt nur doppelt.
    Aber was soll das bedeuten? Keine Ahnung. Ich mach mal weiter.
    Ich schreibe einfach 和 mehrfach bis es einfach geworden=ist.
    Genauso schreibe ich 中 mehrfach entlang deren – – – Ordnungen; wie geschrieben, also wie ich eben – da oben – schon geschrieben hatte.

    Verdammt. Jetzt fällt mir bei meiner Skizze auf, dass ich, glaube ich, doch zuerst das Wort „Harmonie“ ausprobiert hab. Und zwar so:
    H – A – R – M – O – N – I – E
    Erneut(es), Verdammt! Ich hätte es so lustig gefunden, wenn ich „harm“ neben dem „one“, hätte lesen können. Das blöde „I“ macht alles kaputt; meine Witz in mir, meine ich. Also es macht meine lustige Idee zu-Nicht-e.
    Aber egal, weiter geht es. Immerhin wollte ich doch den Spuren von 吕胜中 Lü Shengzhong folgen, dem „chi chu“. Müssen wir deswegen unbedingt langsam vorangehen?
    Ich will das nicht, denn es ist jetzt schon spät und ich möchte nicht, dass zu noch zu später wird hier. Sorry für die Ehrlichkeit, also kein „sorry“; Dafür. Mein Blick fällt auf meine Notizen. Ich bemerke den Verweis von=auf Peter Weber Schäfers Beitrag. Der hatte am Anfang direkt meine Achtsamkeit geweckt.
    Jetzt verwirrt mich das mit der Gegenüberstellung irgend-wie nur.
    Ich bleibe hängen.

    NOOOOOOO. Es ist schon fast 0 Uhr. Und Jetzt! Jetzt noch fast-er. Ich habe hier zwar noch zwei Seiten meiner Notizen zu der Skizze meiner Notiz liegen, aber verzeiht. Meine Augen…
    Eins muss ich aber heute unbedingt noch loswerden; das scheint mir wichtig zu sein. Warum macht das „I“ meine Idee kaputt? Na, weil es trennt! …Wartet mal kurz!!! *malt

    Vermutlich nicht mehr so sehr, wenn ich es klein schreibe.
    Oder?
    Was fühlt Euer Verstand?

    1. (Eins muss ich aber heute unbedingt noch loswerden; das scheint mir wichtig zu sein. Warum macht das „I“ meine Idee kaputt? Na, weil es trennt! …Wartet mal kurz!!! *malt. Vermutlich nicht mehr so sehr, wenn ich es klein schreibe. Oder? Was fühlt Euer Verstand?)

      Mir gelingt die Abbiegung von Gestern auf Heute. End-lich.
      #continuation
      Malt es doch, einfach, ein mal, zwei Mal, 10 000 Mal (万). Vorausgesetzt ihr habt den Zeit-Raum dafür. Malt Beides, also „Harmonie“, „hé“ und 中。Was ist euch auf-gefallen? Fällt was auf? Wenn nicht, nicht schlimm. Denn vielleicht fällt etwas ein.
      Bitte teilt die Einfälle gern, mehr als gern. Wir wissen ja nie, wo wir damit landen und das kann nur gut sein. Nur gut sein, wenn wir wissen, wie wir zu fliegen haben, stimmt’s?
      #Derrida
      Die Dekonstruktion ist immer ein schöner Zug – für mich. Denn dadurch habe ich zum Glück gesehen, dass sich „ratio“ und „emotio“ doch nur durch die 3 und die 3 [Oh, wow!] unterscheidet. Hä?, wie paradox. Gerade egal – Hauptsache sie haben Beide das „-io“ oder das „-tio“ gemein(t). Ich kenn die Sprache nicht, also bin ich mir nicht sicher, o das T da rein ge-hört oder nicht. Das wisst ihr bestimmt besser!
      Es muss an dieser Stelle egal sein, sonst komme ich hier nicht weiter.

      Es ist nicht einfach, wenig Zeit zu brauchen, wenn man so viel schreiben will oder? Warum wird dann aber chìchù als „hesitant steps“ irgendwo beschrieben? Ich zögere doch nicht. Die Uhrzeit gestern hat mich ver-zögert, diesen Teil von meinem Kommentar bereits geschickt zu haben. Das hat ja nichts mit meiner Geschwindigkeit an sich zu tun.
      Damn, ich verwirre mich schon wieder!
      Auf jeden Fall weiß ich dank „Pleco“ und all meinen Lehrenden von dem anderen Anfang der Welt, dass dieses [das zentrierte Ereignis von Shengzhong, also das Bild, was ich davon gefunden habe] auch „alleine gehen“ oder so etwas, heißen kann. Kommt darauf an, was sich drum herum befindet, schätze ich. Das mit dem Solipsismus ist vielleicht doch nicht ganz so de-struktiv?
      Anja, konzentriere es.
      Die zweite Übersetzung von dem da oben ist auch jeden für mich sinnvoller in diesem Moment. Warum? Na, es schreibt ja nur ich; wenn auch momentan nicht gerade langsam. Hm, doch relativ gerade für meine handschriftlichen Verhältnisse… Wo bin ich???
      Es geht um das Maß der Mitte! Ne, das Maß und die Mitte. Ich bin einfach zu sehr in mir, glaube ich. Ich kenne kein Maß und keine Mitte anscheinend. Aber wartet kurz, hab ich das Ganze falsch verstanden? Es ist nicht zhong1 im Sinne von „Innewerden“, stimmt’s? Aber mein Problem ist doch gerade, dass ich zu viel ich selbst bin!
      Wieder 1X.
      Ich höre an dieser Stelle von LÜs Weg mal auf. Ich bin gerade, da wo das Gelb das 1.X das Rote trifft. Es ist also noch ein ganzes Stück zum Kern; also dem Kern des Labyrinths von 彳亍 [Weiß die Jahreszahl gerade nicht, aber gar nicht so lang her].

      Eine wunder-bare Begegnung, zwischen U-N-S; mit welchem W-I-R (?) vielleicht sogar doch schneller in den Kern von dem Labyrinth kommen. Aber wollen wir zu diesem in Blut getränkten Reiskorn? Da bin ich mir nun wirklich alles andere als sicher. Gebe ich zu. Wenn wir dahin wollen, scheiß auf die abgebildeten Wände da, die sind nur Darstellungen. Wenn wir die einfach miss-achten, sind wir auf jeden Fall schneller da.
      Just saying…

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