Beobachtungssinn

Seit dem 18. Jahrhundert gibt es im angelsächsischen Sprachraum in Analogie zu dem Begriff einer „aesthetic perception“ die Vorstellung einer „moral perception“. Bei letzterer handelt es sich um die intensive Vorbereitung eines moralischen Werturteils durch differenzierte Wahrnehmung. Der Begriff der „moral perception“ hilft uns bei der Beschäftigung mit der Ästhetik Zong Baihuas weiter, dem ich die Idee zu meinen Ästhetischen Spaziergängen verdanke. Nicht die Fülle des überhaupt Wissens- und Bewahrenswerten bestimmt den Wahrnehmungshorizont Zongs, sondern die akute Bedürfnislage einer Gesellschaft, in der er ein hohes Maß an Reformbedarf erkannt hat. Der westliche Leser wird dadurch irritiert, dass auf dem Gebiet der chinesischen Ästhetik und so auch bei Zong Baihua versucht wird, das Ganze zwischen Himmel und Erde in den Blick zu nehmen, statt einzelne Kunstwerke in anschaulich konkreter und wissenschaftlich kritischer Absicht zu behandeln. Im Mittelpunkt des Interesses steht nicht etwa allein ein Verhältnis zur Kunst, wie uns der Begriff des „Ästhetischen“ nahelegen könnte, sondern zur Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit. Die Figurativität eines Denkens, mit dem der Mensch sich über die Ordnung der Welt, und zwar unter Einschluss ihrer Geschichtlichkeit zu verständigen versucht, stellt die entscheidende Instanz dar. Wie bereits gesagt, ist diese Herangehensweise an „das Schöne“ tief in der chinesischen Kultur- und Geistesgeschichte verwurzelt – weshalb auch ethische Absichten häufig die ästhetischen begründen.

An dieser Stelle wird der Zusammenhang zwischen Freiheit, Notwendigkeit und Beobachtungssinn, um den es bei den Ästhetischen Spaziergängen Zong Baihuas, aber auch bei meinen eigenen geht, deutlich. Der Sinologe Jean Francois Billeter hat ihn in dem Bändchen „Ein Paradigma“, das in der Reihe „Fröhliche Wissenschaft“ im Verlag  Matthes & Seitz Berlin 2017 erschien, damit begründet, dass „die Vorstellung einer nicht bedingten, willkürlichen Freiheit“, den Menschen „zur Unaufmerksamkeit, zur Verkennung der Gesetze der Aktivität und demzufolge zu verfehlten Verhaltensweisen, also zur Unfreiheit“ (S. 97) verleiten würde. Die Ästhetischen Spaziergänge Zong Baihuas leben aus und von einem Beobachtungssinn, der erst dann „frei“ ist, wenn er seine Bedingtheit erkannt hat und auf diese Weise alle Willkürlichkeit ausschließt. „Klar sehen“, sagt Zhuangzi. Zong Baihua hat sich den Inhalt dieser Aussage zueigen gemacht, da er, wie Zhuangzi, den Mechanismus durchschaut hat, mit dem wir im falschen Glauben an eine „nicht bedingte, willkürliche Freiheit“ uns die Wirklichkeit solange zurechtrücken, bis sie unseren Vorstellungen entspricht.  

Dritter und vorerst letzter Gastbeitrag von Wulf Noll

Östliches Rot – Lanzhou

Östliches Rot – Platz im Zentrum, Zentrum der Flaneure, besser der Flaneurinnen, die ihre Stiefel und ihre Pumps ausführten. Überall war brodelndes Leben, Blumengirlanden, Märkte zum Frühlingsfest. Sozialismus und Kapitalismus, wo war der Unterschied? Gab es überhaupt einen? Welchen? Mit diesen Gedanken spazierte der Flaneur mit seiner ‚Schöne Wolken‘ und mit ihrer Mutter, einer Bankerin, durch die Stadt. Die Bankerin brachte ihm das Taxifahren bei, er ihr das Flanieren. Konnte man einer Bankerin das Flanieren beibringen? Vermutlich nicht, sie ging viel zu schnell, telefonierte beim Flanieren, setzte das Handy nicht ab.

Sie liefen parallel zum Gelben Fluss, Robert roch das Wasser, spürte den frischen Wind. Ah! Der Gelbe Fluss, ein Mythos! Plötzlich war dem Deutschen der Stadtbummel nicht mehr so wichtig, er wollte so schnell wie möglich an den Fluss. ‚Schöne Wolken‘ wollte das auch, und die beschäftigte Bankerin willigte ein. Am Flussufer würde sie noch ungestörter telefonieren können. Bald standen sie am Gelben Fluss, der im Februar Niedrigwasser führte und überhaupt nicht gelb, sondern blau oder blaugrün war, weil sich der azurblaue Himmel in ihm spiegelte.

Es war ein schöner, ein erhabener Anblick, wie sich dieser Fluss durch die große Stadt schlängelte und wand, links befanden sich Berge und Berghügel, rechts die Hochhäuser der Stadt und die Gebirgskette im Hintergrund. Aufgrund des Niedrigwassers und des steinigen Flussbettes konnte Robert ins Flussbett hineingehen. Da stand er nun in seinem langen, schwarzen Flaneurmantel, diesem guten Stück, haha, wie Byron am Styx und beugte sich zum Wasser hinab.

„Pass auf“, rief ‚Schöne Wolken‘, „was machst du denn da?“

Robert Marian ließ sich nicht stören, er vollzog seinen Ritus. Seinen Ritus? Der bestand darin, sich mit dem Wasser der großen, fast mythischen Flüsse selbst zu taufen. Dreimal schöpfte er mit der hohlen Hand etwas Wasser und ließ es auf seinen Kopf träufeln. Wenwen lachte, aber sie trug ihre Fotokamera bei sich und machte Aufnahmen, während die Mutter ununterbrochen mit wichtigen Bankern telefonierte.

„Was bedeutet das?“, wollte ‚Schöne Wolken‘ wissen.

„Das ist ein Sakrileg. Ich taufe mich selbst. Das bedeutet, ich bin mit allen Wassern der Welt gewaschen.“

„Dann möchte ich das auch tun.“

„Ja klar, mach das nur! Dann gehören wir zur selben Gesellschaft der selbstbestimmten und emanzipierten Menschen.“

„Und zu den mythischen Personen“, fuhr Robert fort. „Aber ‚Schöne Wolken‘ gehören ohnehin dazu.“

„Es gibt nur eine ‚Schöne Wolke‘“, sagte Wenwen.

„Sicher! Aber du bist eine im Plural.“

Am Flussufer führte ein Pfad entlang, aber der war auf Dauer für die Frauen zu unbequem. Der Flaneur ging mit den Damen wieder zur Uferpromenade zurück. Schließlich kamen sie zu einer nostalgischen, deutsch anmutenden Brücke, die genauso gut in Köln hätte stehen können. Und wirklich war die „Eiserne Brücke“ im Jahr 1907 von einem deutschen Architekten erbaut worden. Die zum Frühlingsfest mit Lampions und Laternen geschmückte Brücke führte auf die andere Flussseite und auf den Weißen-Pagoden-Berg zu. Den wollten die Leute besteigen, er war ihr nächstes Ziel. Gemächlichen Schritts, immer wieder den Ausblick genießend, spazierten die Leute auf der langen Brücke über den Gelben Fluss. Am Hang schließlich angelangt, mussten sie auf steilen Wegen arg klettern. Robert Marian dachte daran, dass es genial wäre, sich in einer Sänfte hinauftragen zu lassen.

Auf der Tempelterrasse – direkt neben der Pagode – waren Liegestühle aufgestellt. „Robert“, fragte ‚Schöne Wolken’, „willst du jetzt liegen?“ „Warum nicht?“, erwiderte er, „liegen ist ruhiger als gehen. Wir können die letzten Sonnenstrahlen genießen und die gelegentlich vorüberziehenden Wolken beim Flanieren betrachten.“

‚Schöne Wolken‘ lag neben Robert, Mutter durchstöberte den Tempelladen nach Andenken. Robert nannte die Studentin in einem Anfall von Übermut Rotkäppchen, und ‚Schöne Wolken‘ nannte ihn Wolf.

„Wolf“, sagte sie, „sieh nur die Drachenköpfe in den Pagodennischen! Sind die nicht schön?“

„Drachenköpfe, die mit jungen Damen kommunizieren, sind immer sehr schön.“

Quelle: Wulf Noll. Schöne Wolken treffen. Eine Reisenovelle aus China. Eutin u. Plön: Verlag Reisebuch.de, 2014, 352-355.

Zweiter Gastbeitrag von Wulf Noll

Konfuzius‘ Grab in Qufu

Die Leute schritten aus dem Garten und erreichten die ‚Straße des Trommelturms‘. Mit ihren vielen Verkaufsständen und Garküchen rief diese Straße eine heimische Atmosphäre hervor. Der Gastpoet und die Damen tranken grünen Tee und aßen einige Klebreisklößchen, die mit süßer Lotospaste gefüllt waren. Alsbald gelangten sie an einen Tempel, der Konfuzius‘ Lieblingsschüler Yan Hui gewidmet war. „Das ist es!“ schoss es Robert durch den Kopf. „Studentinnen und Studenten sind für Lehrer immer wichtig. Lob und Dank gebührt ihnen; die Schüler halten ihre Lehrer nicht nur geistig am Leben, sie verbreiten auch deren Lehre. Das geschieht selbst dann, wenn sie wie Yan Hui viel zu früh sterben …“

Nachdem die Leute dem Schüler ihren Respekt erwiesen hatten, gingen sie in nördlicher Richtung weiter zum Totenwald der Familie Kong, in welchem sich das Grabmal des Meisters sowie der direkten Nachfahren und ihrer nächsten Familienmitglieder befand. Die Straße führte jetzt durch parkähnliches Gelände. Tore und kleine Tempel strahlten etwas Ruhiges und Archaisches aus … China war wieder altertümlich … Von Pferden gezogene Wagen warteten auf Besucher, um die Leute durch den Totenwald zu fahren und zu Konfuzius´ Grab zu bringen. Die bemalten, zweirädrigen Wagen ließen an magische Kisten mit vielen Symbolen denken. Den rundum geschlossenen Wagen haftete etwas Dunkles und Geheimnisvolles an, sie sahen wie mystische Gefährte aus, die ins Totenreich fuhren. Weniger geheimnisvoll könnte man sagen, es handelte sich um Pferde-Rikschas von recht archaischem Aussehen …

„Steigen wir ein“, sagte Robert, „in diese Taxis, na ja, in diese Fuhrwerke ins Jenseits.“

„Oh ja, einmal vom Diesseits ins Jenseits und wieder zurück“, erwiderte Viktoria und rückte sich ihre weiße Malvenblüte im rotbraunen Haar zurecht.

„In solchen Wagen ist man bestimmt schon in der Ming- und frühen Qingzeit gereist, in höfisch geschmückten Pferdewagen und in hochrädrigen Ochsenkarren“, setzte Robert das Gespräch fort.

„Ich mag moderne Autos“, sagte Pingping, „aber solche alten Wagen mag ich auch.“

Sie fuhren damit auf einem schönen, von ältesten Zypressen gesäumten Weg zum Grab des Konfuzius. Nachdem die Leute den ‚Seelenweg‘ hinter sich gelassen hatten, erreichten sie den Wald der Familie Kong, welcher dicht mit Kiefern, Zypressen und mit Farnen bewachsen war. Im Wald erhoben sich viele Gedenksteine und Stelen in unregelmäßigem Abstand und in unterschiedlicher Größe. Wie Geister ragten die grauen Steine aus dem Grün der Farne hervor. Der Anblick des Totenwaldes war unheimlicher und geheimnisvoller als der Anblick eines Friedhofs; auf einem Friedhof lagen die Toten geordnet in den Gräbern oder waren, wie in Asien, zumeist in Urnen beigesetzt. Hier war alles anders; hier galt die Waldbestattung. Mal saß ein Vogel auf einem Gedenkstein, mal raschelte es verdächtig im Unterholz.

Den letzten Teil des Weges mussten die Leute zu Fuß zurücklegen. Jetzt wollten Pingping und Shanshan vom abgeklärten und coolen Gastpoeten beschützt werden, vor, vor … Fledermäusen und vor Waldungeheuern … Sie schritten über eine Brücke mit einem Flüsschen und gerieten, kurz vor dem Grab, auf einen von Tier- und Wächterfiguren umstandenen Weg, der unmittelbar zur Grabstätte des Konfuzius führte. Verschiedene Kaiser hatten kleine Pavillons errichten lassen, auch sie waren auf diesem Weg zum Grab gepilgert … Ach, Konfuzius! Sein Horizont war klarer, weiter und luzider als der Horizont der Kaiser… Wie alles Große war das Grab des alten Meisters von betonter Schlichtheit. Es bestand aus einem mit Gras bewachsenen Erdhügel, der von einer kleinen roten Mauer umfasst war. Auf einem Gedenkstein konnte man in kalligrafischen Schriftzeichen die Ehrentitel des Weisen lesen: GROSSER VOLLENDER, KULTURVERBREITENDER KÖNIG, HÖCHSTER HEILIGER …

Wie immer stritten sich die Gelehrten darüber, ob der Meister an dieser Stelle seine letzte Ruhe gefunden hatte oder nicht, das war letztendlich egal, vom Körper des Meisters war ohnehin nichts mehr übrig, nur von seinem Geist. Die Namen der Kaiser und die Namen von Politikern verblassen schnell, doch Kongzis Name hat in den Ohren fast aller Chinesen einen unverändert guten und erhabenen Klang. Vor dem Grabmal war – wie sonst im Tempel – eine gepolsterte Matte zum Niederknien ausgelegt worden. Welche Ermunterung zum Kotau, doch auch welche Aufmunterung zur Dekonstruktion… Shanshan und Pingping waren überrascht, als sie Robert mit ironischem Blick auf der Matte beim Niederknien erblickten. „Der Gastpoet“, dachten sie, „der dekonstruiert sich ja selbst!“

Quelle: Wulf Noll. Drachenrausch. Flanieren in China. Schiedlberg/Österreich: Bacopa Verlag, 2019, 49-51.

Gastbeitrag von Wulf Noll

Eine Herberge in Xiamen

Dann war es soweit, Lilo/Qianxia/Schönheit und Sigrid/Pingping/Wasserlinse lächelten den Gastpoeten an: „Wir sind da! Hattest du eine gute Reise?“

Robert: „Ja, die Zeit verging so schnell. Die Landschaft in der Provinz Fujian mit Flussläufen und Bergketten im Hintergrund rief vom Zugfenster aus einen anregenden Eindruck hervor. Ich wäre gern ausgestiegen, um durch die Berge zu wandern. Und wie verlief eure langsame Reise?“

„Wir haben unterwegs gelesen“, sagte Pingping.

„Und mit Freunden übers Smartphone gechattet, was wir immer tun“, ergänzte die ‚kleine Ma‘.

„Wir haben uns über dich unterhalten und überlegt, was wir mit dir in Xiamen so alles unternehmen können.“

Da im Moment niemand ins Restaurant gehen wollte, zogen die Leute mit ihrem leichten Gepäck zur Bushaltestelle, um zuerst das Hotel aufzusuchen. Es lag weit außerhalb der Innenstadt in einer Gegend, welche unmittelbar ans Meer grenzte. Xiamens Insellage erhöhte den Reiz dieser pulsierenden Stadt, die architektonisch interessante Gebäude und Stadtviertel besaß, aber auch Strandparadiese. Nach einer Viertelstunde mussten die Leute den Bus wechseln; insgesamt brauchten sie gut vierzig Minuten, um das Hotel zu erreichen. Während der letzten Kilometer fuhren sie am Meer entlang. Die ‚kleine Ma‘ war sehr stolz darauf, dass sie ihr Hotel in Strandnähe übers Internet gefunden hatte.

„Robert“, sagte sie, „du wirst begeistert sein. Das Hotel befindet sich wenige hundert Meter vom Wasser entfernt … Es ist bunt und poppig … Ach so, es ist ein Hostel, ein Hotel für junge Leute. Pingping und ich sind der Ansicht, du passt mit uns dahin. Es ist so etwas wie ein Musenhof“, fuhr die ‚kleine Ma‘ mit sanfter Ironie in der Stimme und mit einem Lachen fort. „Dieser Musenhof wird zu einem romantischen Dichter bestimmt gut passen.“

Die Dame ‚Wasserlinse‘ lachte ebenfalls.

„Bin sehr gespannt“, erwiderte Robert. „Hoffentlich behalte ich einen kühlen Kopf. Ich weiß, zwei sehr kluge, frisch gebackene Bachelorinnen wollen meine Ariadne sein, mich in einen chinesischen Musenhof einführen und zum Dichten anregen … Das gefällt mir an China, hier hält mich jeder für einen Dichter, in Deutschland will man mir den Dichterjob streitig machen … In China sind Beamte Dichter, und Dichter sind Beamte; in Deutschland degenerieren wir zu halbverhungerten Narren in einer immer unkultivierter und brutaler werdenden Gesellschaft.“

„Wie trostlos“, sagte Pingping.

„Das muss sich ändern“, ließ sich die ‚kleine Ma‘ vernehmen.

Der Bus fuhr mit hoher Geschwindigkeit auf der breiten Uferstraße entlang. Vom Fenster aus sah man Palmen und sich endlos hinziehende Sandstrände. Von Zeit zu Zeit tauchten gewaltige Banyan-Bäume auf; sie waren die Magier unter den Bäumen. Im Wasser erblickte man Felsbrocken, von Wind und Wasser geschliffen. Am Strand tauchten ab und an moderne Kunstwerke auf: Skulpturen, Plastiken, die angesichts der erhabenen Felsbrocken aber viel an Wirkung einbüßten. Die Natur war die überzeugendere Künstlerin … Nachdem die beiden Frauen und Robert ihre Station erreicht hatten, stiegen sie aus und durchschritten eine Vorortidylle mit kleinen Häusern im dörflichen Stil, mit lokalen märchenhaften Tempeln, Baustellen, Garküchen und mit einer auf einem Platz flugs aufgebauten Opernbühne. Als sie den Marktflecken hinter sich gelassen hatten, standen sie nach wenigen Minuten vor ihrem Hotel.

Die Herberge trug den schönen Namen Yi Mi Yang Guang (Ein Strauß aus Sonnenlicht). Wieder so ein romantischer Name! Dass China ein  romantisches Land war, wusste man im Westen nicht, man ahnte es nicht einmal. Und die Einrichtung des Hauses! Die ‚kleine Ma‘ und ‚Wasserlinse‘ hatten nicht zu viel versprochen, es war, wie der Deutsche anerkennend bemerkte, tatsächlich ein Hotel für crazy young people. Alles war jugendlich, die Geschäftsleitung und die Gäste … Der Stil war ‚kumulativ‘; im Foyer stand ein nachgemachtes Rokoko-Sofa neben imitierten Pop-Skulpturen, umgeben von fantasiereichen Wandmalereien. Kunststudenten und Kopisten waren am Werk und hatten die Arbeiten wie Originale arrangiert. Macht nichts, die Stimmung war jugendlich- wundertoll. Modezeitschriften und aktuelle Stadt(teil)zeitungen lagen aus. Robert suchte für dieses Arrangement und die gerade gemachten Erfahrungen nach einem Oberbegriff ‒ und der lautete CHINA-POP.

Jedes Zimmer war in anderen Farben gestaltet, die Kreativen hatten „die Macht ergriffen“. Ein gewisser Stil war vorhanden. Neben China-Pop fiel Robert ein Begriff aus den frühen siebziger Jahren ein: psychedelisch! Ja, psychedelisch und surreal. Der eigenwillige Stil entsprang einer Logik des Traums …Man war auf dem Trip, ohne auf einem solchen zu sein … Die Herberge kam dem Gastpoeten wie ein jugendliches ‚Gesamtkunstwerk‘ vor. Marian musste an Tom Wolfes Schau heimwärts, Engel denken, aber nicht ans untergehende Leben, sondern ans Gegenteil davon ‒ an die strotzende Gesundheit der jungen Leute vor Ort … Beat und Pop waren in China verspätet hinzugekommen, aber sie waren es. Alles wurde nachgeholt, alles wurde überflügelt … Doktor Marian war überrascht, fühlte sich verjüngt und war froh, für einige Tage in diese heitere, junge Welt hineinzugeraten, in der alle Gäste wie auf geheime Verabredung so taten, als sei der Gastpoet genauso jung wie sie :))

Quelle: Wulf Noll. Mit dem Drachen tanzen. Erzählungen aus China und Deutschland. Schiedlberg/Österreich: Bacopa Verlag, 2021, 33-35.

Die sich abzeichnende Unruhe im noch nicht Gesagten

Mit einer Irritation (siehe meinen Text „Nichts zu werden“) hatte ich mich in die Sommerfrische verabschiedet, mit einer Katastrophenerfahrung im Nacken kehre ich aus dieser zurück. Hier zeigt sich, dass wir uns, wenn wir spazieren, auf dünnem Eis bewegen (siehe meine Texte „Gehen als künstlerischer Akt“,“Existentieller Ernst“ und „Erkenntnis-„gang““). Natur-Katastrophen sind nur schwer von Kultur-Katastrophen zu unterscheiden.

Das Wasser aus den überfluteten Dörfern an Ahr und Erft ist mittlerweile verschwunden; die Bilder der Zerstörung bleiben und wirken nach. Meine geliebten Spazierwege, die mich durchs Ahrtal führten, sind ruiniert. Der romantische Schauder vor der Schönheit der Landschaft ist dahin und mit ihm auch der Schauder vor der Größe der eigenen Seele. An seine Stelle ist eine große Frage getreten: Wenn die von uns freigesetzten Treibhausgase den Jetstream schwächeln und „stehende Wetter“ mit katastrophalen Folgen bewirken, wäre da nicht anstelle von Gefühlen von Größe ganz einfach Scham angesagt?

Stilles Grauen, wobei die Stille, die dabei entsteht, das Wertvollste ist. Das Kostbarste jeder Wahrnehmung, bemerkt der Philosoph Michel Serres, ist die Stille oder, besser gesagt, die sich abzeichnende Unruhe im noch nicht Gesagten.

Menschen, die nur auf sich selbst fokussiert sind, wirken da so erschreckend wie Häuser, deren Umland vom Tagebau weggefressen oder vom Wasser weggespült wurde. Zugegebenermaßen kann der Mensch nur schwer einen globalen Blickwinkel einnehmen. Die Globalität des Bewusstseins ist ein häufig zitiertes, aber nur schwer zu erreichendes Ziel. Den ästhetischen Spaziergänger zwischen Ost und West leitet es aber auf eine ganz unspektakuläre Weise. Ohne große Worte, nimmt er die alltäglichen Dinge wahr. Auf seinen Wegen, die ihn manchmal auch durch Häuserschluchten führen, geraten ihm ganz zufällig Dinge in den Blick, denen er zuvor nie seine Aufmerksamkeit schenkte. Die Frage des jungen Künstlers Stefanos Pavlakis lautet: „Was wäre, wenn alltägliche Materialien rätselhafte Kräfte wären?“

In einem Abstand von zwei Wochen werden ab dem 14. September 2021 drei  Flaneurtexte des in Düsseldorf lebenden Autors Wulf Noll in meinem Blog zu lesen sein. Am 26. Oktober 2021 melde ich mich dann wieder mit einem eigenen Text zurück. Mit diesem werde ich eine Reihe von Texten einleiten, die sich mit der chinesischen Ästhetik im Allgemeinen und der Ästhetik Zong Baihuas im Besonderen befassen.

Nichts zu werden

Mein letzter Beitrag vor den Sommerferien. In der Hitze des Juni 2021 denke ich an den 1975 verschollenen Künstler Bas Jan Ader (geb. 1942), der auszog, das Wundern zu lernen. Ob er das Wunderbare gefunden hat, wird man nie erfahren. Am 9. Juli 1975 sticht der erfahrene Segler bei Cape Cod, unweit der Stelle, an der einst die „Mayflower“ landete, in See. Ader gilt seither als verschollen; einzig das Wrack seiner Jolle wird neun Monate nach seiner Abreise nahe der irischen Küste geborgen. Auratisch wie die Überreste eines gekenterten Schiffes sind auch die Bruchstücke des schmalen Werks, das er hinterlässt, als er sich im Alter von dreiunddreißig Jahren aus der Welt verabschiedet. Ader übte sich, wie mir im Rückblick scheint, als exemplarisch Fallender. Das Plakat anlässlich seiner ersten Ausstellung, zu der er 1967 unter dem Titrel „Implosion“ einlud, zeigt ihn auf dem Dach seines Hauses in Claremont sitzend, einen Korbstuhl scheinbar mühelos auf dem schmalen First balancierend und eine Zigarre kokett zwischen den Fingern haltend. Als qualmten Hirn und Tabak um die Wette, steigen zwei weiße Papierwolken auf, wovon eine den Kopf des Künstlers wie ein Heiligenschein hinterfängt. Mit wenigen Handgriffen dichtet Ader dem Künstler so eine Existenz von Schall und Rauch an und verwandelt obendrein das traute Heim in einen fiktiven Ort, dem die Künstlichkeit eines Filmstudios anhaftet. Bas Jan Ader hat alles vermieden, was das Leben fixieren könnte, um stattdessen seinen Körper sprechen zu lassen. Ihm ist das beeindruckende Kunstwerk gelungen, „durch vieljährige Anstrengung, Arbeit und Uneigennützigkeit nichts zu werden„, um eine Zeile aus Kierkegaards Abhandlung „Der Einzelne“ zu zitieren. Mit der Irritation, die aus dem Werk Bas Jan Aders entsteht, möchte ich mich in den Sommer verabschieden. Ich melde mich wieder am 07. September 2021.

Wege

„Die Natur ist republikanisch“. Unter diesem Titel hat sich Michael Gamper 1998 mit den ästhetischen, anthropologischen und politischen Konzepten der deutschen Gartenliteratur im 18. Jahrhundert beschäftigt und dabei entdeckt, dass der Garten die ideale Erziehungsstätte für „den neuen Menschen“ ist. Die Natur wird in den Grenzen des vom Menschen gestalteten Gartens als eine Lehrerin verstanden, die neue Weisen der Selbsterfahrung eröffnet. Dies führte dazu, dass die „schöne Gartenkunst“ in der Hierarchie der Künste für einige Zeit ganz oben rangierte, da sie, so die Meinung, die Beweglichkeit der Einbildungskraft fördere und zu originellen Ideenassoziationen und affektiver Erinnerung einlade. Von da an war es aber nicht weit zu der Einsicht, dass die Sprachpoesie mit ihren „künstlichen Zeichen“ diesem neuen Sehen noch ganz andere imaginäre Spielräume eröffnen könne als eine Natur-„Dichtung“ in Form von Steinen, Bäumen und Gräsern. Wie ist es aber, wenn sich der Mensch außerhalb einer Gartenanlage bewegt und dabei neue Wege einschlägt? Dies ist eine Frage, die für unsere „Ästhetischen Spaziergänge zwischen Ost und West“ bedeutsam ist. Wege verwandeln Chaos in Ordnung und befriedigen die unterschiedlichsten Bedürfnisse. Einen Weg zu gehen, der bereits angelegt ist, heißt jemandem zu folgen. Ein Mensch hinterlässt eine Spur, ein anderer folgt, daraus entsteht ein System. Das Faszinierende daran ist, dass sich ganz unterschiedliche Menschen auf diesen Wegen bewegen und somit „systemrelevant“ sind. Wege erzählen denen, die sie begehen, Geschichten. Viel einschneidender aber ist, was sie mit ihnen innerlich machen: Sie denken darüber nach, wohin sie das eigene Leben führen soll. Maximaler Gewinn, maximale Lebensfreude, maximale Langlebigkeit oder alles zusammen? Aber wir sollten die Sinnsucher, die sich auf einem Weg oder auch mehreren bewegen, nicht allzu sehr idealisieren. Denn, um sich unnötige Mühen zu ersparen, sind so manche von ihnen zu Abkürzungen bereit. Weglose Landschaften werden zwar von Autoren wie Lord Byron oder Henry Thoreau romantisiert. Dennoch aber werden von den meisten unserer Zeitgenossen Landschaften mit einem gut ausgebauten Wegenetz präferiert – insbesondere wenn sie durch den Dschungel führen, den Aldous Huxley mit einem Pflanzenmonster verglich. Und so lehrt uns auch die chinesische Naturästhetik, den Weg zu schätzen. Folgt man ihm, dann wird der Mensch erst der Natur in ihrer Natürlichkeit gewahr. Von Wildnis keine Rede. Wege werden präferiert, weil sie dem Menschen Orientierung geben und ihn mit all den Persönlichkeiten verbinden, die diese in der Vergangenheit beschritten. Wege, die durch die Natur führen, führen an Inschriften, „künstlichen Zeichen“ vorbei, die die Gedanken der Vorfahren der Nachwelt überliefern. Natur und Geschichte sind im Chinesischen untrennbar miteinander verbunden. Zu Unrecht stehen deswegen Wege für Aufbruch und Abenteuer. Vielmehr werden sie aus einem Bedürfnis nach Orientierung beschritten. Sie sollen leiten in den oftmals unwirtlichen Weiten der Landschaft wie in den unauslotbaren Tiefen der Geschichte. Wege in der Natur lassen sich, so mag es fast scheinen, mit sozialen Netzwerken vergleichen: Wer sich auf ihnen bewegt, ist kein Aussteiger; er kehrt immer in die Gesellschaft zurück.

Aber ihm sind Grenzen gesetzt

John Napier gehörte zu den ersten, die die Geschichte des Gehens mit der Geschichte des Vormenschen beginnen lassen und sie auf engste mit der Geschichte der Menschwerdung verknüpfen (»The Antiquity of Human Walking«). 50 Jahre später, nämlich 2019, legt Rebecca Solnit in ihrem Buch Wanderlust. Eine Geschichte des Gehens unter der Kapitelüberschrift »Aufstehen und Fallen« dar, dass der Mensch seine Einzigartigkeit nicht nur seiner Bewusstseinsleistung verdankt, sondern ebenso seinem Körperbau, den sie einen »wackligen Turm« nennt. »Gehen als hinausgezögertes Fallen, und der Fall trifft sich mit dem Sündenfall«, so heißt es bei Solnit. In diesem Punkt stimmt sie mit John Napier überein, der vom Gehen als einer Tätigkeit spricht, »bei der sich der Körper Schritt für Schritt am Rande einer Katastrophe bewegt«. Diesem Eindruck versucht der Mensch aber mit all seinen Kräften entgegenzuwirken. Souveränität vortäuschend, verbirgt er, dass »nur die rhythmische Vorwärtsbewegung des einen und dann des anderen Beins davor bewahrt, auf die Nase zu fallen. « (John Napier) Wie dem auch sei: Der wunderbaren Symbiose zwischen Bewusstseinsleistung und aufrechtem Gang haben wir es zu verdanken, dass wir uns gehend, also prozesshaft, eine »Welt, deren Geografie spirituell geworden ist« (Rebecca Solnit), erschließen, und dabei, wenn wir auf unwegiges Gelände gelangen, uns immer der prekären Voraussetzungen unseres Tuns – das dünne Eis, auf dem wir uns bewegen – bewusst bleiben können. Günter Anders nennt die Grundhaltung des Menschen zur Welt „Scheu“ („Über das Auge“). Der Mensch empfinde „Scham“, wenn es ihm misslinge, mit seiner „eigenen Faktizität“ identisch zu sein. Das Bemerkenswerte an der philosophischen Anthropologie von Anders ist, dass sie zwei Seiten des menschlichen Weltseins thematisiert: die Fremdheit und das Aneignungsbestreben, beides Wesenszüge, die meines Erachtens den Spaziergänger charakterisieren. Aber ihm sind Grenzen gesetzt: er ist immer nur da, wo er sich gerade auf seinem Gang durch die Welt befindet. Was das interkulturell bedeutet, darüber werden wir später noch ausführlicher, u.a. am Beipsiel der Schriften Zong Baihuas, diskutieren.

… eine Größe unter anderen

Mit sonderbarer Gnadenlosigkeit wird Technik nach wie vor als Mittelstruktur verstanden: als ambivalentes Instrument zur Erreichung vorgegebener Ziele. Weiter so zu denken würde eine gefährliche Illusion der Freiheit gegenüber der Technik implizieren. Denn wir sind auf Technik nicht nur als Mittel des Überlebens angewiesen, sondern sie bestimmt das Wie unserer Lebensform, sie stellt die gesellschaftliche Infrastruktur und bestimmt somit den gesellschaftlichen Zusammenhang des Ganzen wie auch die Gesellschaftlichkeit des Individuums. Was Technik als zivilisatorischer Zustand ist, das steht zu denken noch aus. Als Haupthindernis hierfür erweist sich die Auffassung, dass die Erde das Experimentierfeld menschlicher Machbarkeitsfantasien ist. Günter Anders bezeichnet die Folgen der daraus resultierenden Hybris unmissverständlich: „Wenn wir uns weiter darauf beschränken, die Natur als Herrschaftsgebiet, als Arbeitsmittel oder -stoff, statt als Partner anzusehen, ist alles aus.“ Wie kann der Mensch aber zu einer veränderten Haltung der Welt gegenüber finden, wenn er „weltfremd“, d.h. nicht in sie „eingebettet“ ist und nirgendwohin gehört? Günther Anders spitzt die „Weltfremdheit des Menschen“ in paradoxer Weise zu. Er behauptet, das Wesen des Menschen bestehe darin, kein Wesen zu haben: „weltfremd“ und gleichzeitig bestrebt, sich die Welt anzueignen, führt er eine Existenz, die aus „pluralen Möglichkeiten“ besteht. Diese These könnte auch in heutiger Zeit formuliert sein. An einer anderen Stelle erwähnt er Karl Jaspers und dessen Gedanken eines „Halts“. Der Mensch sucht in der Welt nach einer Anbindung. Wenn er sie nicht findet, sucht er Zuflucht in der Religion. Auf unseren „Spaziergängen zwischen Ost und West“ stellen wir fest, dass die chinesische Ästhetik  sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie dem Menschen einen Weg der Anbindung an die Welt eröffnet, die nicht religiöser Natur ist. An Zong Baihuas „Ästhetischen Spaziergängen“ wird offensichtlich, dass „Welt-Sein“ für den Menschen ein „Welt-Werden“ bedeutet, dabei allerdings den Durchgang seiner Seinserfahrungen durch ein vermittelndes Medium – im Falle Zong Baihuas die Dichtkunst – voraussetzt. Menschliche Erkenntnis stellt sich ausgehend von Bildern und Zeichen ein, die dem Menschen bedeuten, dass er eine Größe unter anderen und ein unerlässlicher Bestandteil eines kosmisch-irdischen Prozesses ist. Im Falle der „Ästhetischen Spaziergänge“ steht hierfür das „Gehen als Kunst“, und zwar als ein „Erkenntnis-„gang“, wie in einem der vorhergehenden Blogs festgestellt wurde.

Gehen als künstlerischer Akt

Seine unter dem Titel „Die Weltfremdheit des Menschen“ veröffentlichten „Schriften zur philosophischen Anthropologie“ zeigen Günther Anders als einen Denker, dessen Anliegen es ist, „die wesentlichen Umgangsformen des Menschen mit Welt und Mitwelt festzustellen“. Im Kontext der Überlegungen des Heidegger-Schülers Anders werde ich mich in diesem und in den folgenden Beiträgen mit zwei Phänomenen menschlicher Weltverhältnisse – sie sind grundlegend für das Weltverhältnis des Spaziergangs –  befassen: dem Gehen und dem Sehen/ Schauen. Erwähnt sei, dass die Schrift von Günther Anders über „Die Weltfremdheit des Menschen“ , die dem Sammelband den Titel gab, in etwa zu der Zeit entstand (1930),  als der Autor der „Ästhetischen Spaziergänge“ , Zong Baihua, in Deutschland studierte (1920-1925).

Das Kunstmuseum Wallis, das an der Jahreswende 2017/ 18 in einer Ausstellung das Gehen als künstlerischen Akt thematisierte, ist in einem ehemaligen Gefängnis untergebracht. Sich an einem solchen Ort mit dem Thema des Gehens zu beschäftigen, verblüfft auf den ersten Blick, ist doch in einem Gefängnis das Gehen nur unter Kontrolle und in engen Grenzen erlaubt. Allerdings brachte die spezifische Atmosphäre, die das Gebäude durchzieht, die Besucher zum Nachdenken über die unterschiedlichen Bedeutungen des Gehens. In der Ausstellung war zum Beispiel eine Videoarbeit von Guido van der Werve zu sehen, die sich dem Gehen als prekärem Zustand widmet. In diesem Video bewegt sich der Künstler über finnländisches Packeis, während ihm in knappem Abstand ein dreieinhalbtausend Tonnen schwerer Eisbrecher folgt und den Bereich, den er durchschritten hat, in große Stücke zermalmt. In der Ausstellung wurde auch »Der rechte Weg« von Fischli/ Weiss gezeigt. Ratte und Bär hinterfragen in diesem Klassiker der Schweizer Kunst Themen wie die Zugehörigkeit zum Vaterland, die Wahl des Lebensraums, lebensbedrohliche Situationen, Solidarität und Freundschaft und lassen erkennen, dass das Gehen eine Methode ist, um zu neuen An- und Einsichten zu gelangen. In beiden Fällen wird deutlich, dass der Vorgang des Gehens in einem bestimmten Umfeld – sei es die Eislandschaft Finnlands oder die Häuserlandschaft einer Fußgängerzone – auf Voraussetzungen beruht, die sehr schnell hinfällig sind; sei es aufgrund der Gewalttätigkeit eines Eisbrechers oder, ganz aktuell, einer politisch verordneten Ausgangssperre in Zeiten eines Lockdowns. Weder das Packeis Finnlands noch die menschlichen Werte der Solidarität und der Freundschaft versprechen dem Gehenden dauerhafte Sicherheit, das scheinen uns die beiden Arbeiten zu bedeuten. Wer geht, droht zu stürzen oder unterzugehen: »Betreten auf eigene Gefahr «, »Please watch your step« . Günther Anders spricht in „Die Antiquiertheit des Menschen“ aus dem Jahr 1956 von einer anderen Gefahr. Er formuliert hier die These, dass der Mensch, nachdem er sich die Welt angeeignet hat, mit seinen Produkten nicht mehr Schritt zu halten vermag. Maschinen, Medien und nicht zuletzt die Atombombe formen ihn, der sie gemacht hat, um. So weit, dass er dabei selber obsolet wird.