„Doppelbödig auf der historisch unterschwelligen Straße“: Drei Gastbeiträge von Wulf Noll

Dr. phil Wulf Noll, Schriftsteller im dt. PEN, zuletzt Poet in residence (2017) in Qingdao/China, gehört zu den Globetrottern in der deutschen Literatur. Sein Interesse gilt dem Verstehen anderer Kulturen, der indischen, der japanischen, der chinesischen. Zahlreiche Veröffentlichungen. Wulf Noll lebt mit der japanischen Künstlerin Mutsumi Aoki in Düsseldorf (Atelier in Wuppertal). Sie wurde mit ihren Papierskulpturen in ganz Deutschland bekannt. Aoki beteiligt sich an der kommenden Gruppenausstellung „haarige Zeiten“ auf Schloss Reuschenberg in Neuss, diesmal mit Malereien, die Renaissance-Motive aufgreifen und abwandeln. Vernissage am 24.4.2022, 12-17 Uhr, Schloss Reuschenberg, Gerhard-Hoehme-Allee 1, 41466 Neuss. Dauer der Ausstellung bis Ende Juli 2022. Eine Anmeldung ist nötig: post@wurzelnundfluegel.org

(1) Wulf Noll: Promenade

Qingdao schien die Hochzeitsstadt Numero 1 in China zu sein. Weiß gekleidete Bräute, wie sie Robert zuvor vereinzelt im Villenviertel und in den Parks gesehen hatte, lagerten und posierten zu vielen am weitläufigen Strand. Ein Riff und schwarzgraue Felsenbrocken ragten weit ins Meer hinaus, auf denen ebenfalls zahlreiche Bräute in Weiß und mit dunklen Fracks oder Smokings bekleidete Herren die Blicke auf sich zogen. Das alles wirkte irgendwie abgedreht und war höchst surreal. Robert Marian fühlte sich in einen der Filme von Werner Herzog versetzt, obwohl keiner von dessen Filmen bislang in China gedreht worden war. Nur die eigentümliche Stimmung war danach – sie war herzoglich.

Weiß ist hierzulande die Farbe der Trauer… Warum die zahllosen chinesischen Bräute die Kummerfarbe Weiß trugen, war ein ironisches Wunder. Nein, ein Wunder war es nicht, sondern nur ein Ausdruck der Bewunderung für die Art und Weise der Hochzeit im Westen. Die Bewunderung war derart groß, dass die Eheleute die chinesische Trauer-Symbolik außer Acht ließen … Weiß, das im Westen als Unschulds- und Reinheitsfarbe galt, wurde von den Brautleuten als modisch und als romantisch angesehen. À rebours…, gegen den Strich gebürstet! 

Genug von weißen Bräuten, die bunten, die Künstlerinnen, gefielen Robert Marian viel besser … Sie waren ehrlicher … Künstlerinnen waren immer verliebt, fragt sich nur in wen. Robert musste an Lingling denken, er wollte das ‚kunstvolle Blatt in der Morgendämmerung‘ unbedingt wieder treffen. KüntlerInnen waren Wahlverwandte. Laura, Viktoria, Tom und Robert waren ebenfalls Wahlverwandte; sie liefen über den Sand aufs Wasser zu. Da sie wegen der Hitze Shorts trugen, gerieten sie schnell bis zu den Knien ins Wasser hinein … Die Herren bespritzten die Damen, die Damen die Herren, bis man/frau abgekühlt war … Dann begann ein anderes Spiel, nämlich an den Rändern der Riffe und in den Wasserrinnsalen nach kleinen Krabben und Krebsen zu suchen. Die Leute wurden fündig, und besonders die Damen sahen wie Meerjungfrauen aus, wenn sich flinke Krabben und Krebse in ihren mit Wasser gefüllten Handflächen bewegten oder außerhalb derselben über die Handrücken krochen – Ladies with scorpions…     

Schließlich schritten die Skorpione, äh, die Ladys, mit ihren Flaneuren über die Promenade an einer Landzunge vorbei zum nächsten Strand. Sie schauten sich in Souvenirläden um und stärkten sich an Verkaufsständen mit Essbarem. Auf der Promenade herrschte buntes Treiben … Robert blickte modisch gekleideten Damen nach; er genoss es, Frauen ohne Hochzeitsgewänder zu betrachten. Solch leichtfüßige, elegante, körperbetonte, katzenhafte Frauen waren wie Schwebewesen, die mit ihrer Ausstrahlung erst den Blick der Männer verführen und dann die Männer selbst … Wenn die Frauen zudem intelligent waren, waren ihnen die Männer unterlegen. Der Gastpoet lag, metaphorisch gesprochen, wie ein Ménestrel zu ihren schönen Füßen … Das war nichts anderes als ein altes, höfisches Spiel, welches überall auf der Welt neu aufgeführt wird, aber nach Roberts Überzeugung in China am galantesten.

Die Promenade war das Paradies des Flaneurs … Der Gastpoet ging mit Furong und Shanshan auf dieser spazieren, doch für die Damen war es eher umgekehrt: Sie führten den deutschen Poeten an der langen Leine aus … Letzteres war am wahrscheinlichsten, denn ohne seine Begleiterinnen wäre Robert ziemlich aufgeschmissen und seine romantische Reise würde nur halb so erfolgreich, nur halb so amüsant ausfallen … Zudem wurden die kleineren und größeren Reiseschwierigkeiten von Viktoria/Shanshan und ihren Freundinnen stets glänzend gemeistert. Ohne Frage, die Reise mit den jungen Leuten war ein Glücksfall, und der charmante Gastpoet kam ohne Jesuiten und andere komische Ideologen blendend aus. Wie Grenouille, der Held im Roman Das Parfüm, nahm er den frischen Bildungsduft der jungen Damen wie aromatisches Parfüm in sich auf, aber nicht um die Damen zu verletzen oder zu töten, sondern um sich selbst weiterzubilden. Doktor Marian, der selber kein Erziehungsideal kannte, nahm das romantische Wesen der jungen Leute in sich auf. 

Diese Äußerung lässt sich einschränken, weil die Verehrung auf Gegenseitigkeit beruhte, und die jungen Damen und Herren saugten ja selbst so einiges aus Robert heraus, der in Wirklichkeit recht gebildet und kenntnisreich war. Robert dachte zunehmend an eine neue globale Bildung, in welcher die Kulturen zueinander finden, immer mit einem Schuss Jugendstil und Pop versehen. Bildung muss lebendig und jugendlich sein und darf nicht zu einer trockenen Angelegenheit werden. Damit anfangen kann man schon bei Konfuzius, Sokrates und Platon. Bildung muss über die Grenzen gehen, hin zu anderen Kulturen, am besten zu den ostasiatischen, weil diese am feinsten sind … Zugegeben, das ist ein Werturteil, aber eines, das auf Objektivität basiert oder auf subjektiver Objektivität ;‒) … Ohne Frage ist China besonders imposant: Hier stößt man auf eine breite, fein ausdifferenzierte Kultur, die auf eine schier endlose Geschichte zurückblickt.

Quelle: Wulf Noll. Drachenrausch. Flanieren in China. Schiedlberg/Österreich: Bacopa Verlag, 2019, 62-64.

(2) Wulf Noll: Deutsch-chinesische Wahlverwandtschaft

Die Leute stießen mit dem berühmten Tsingtau-Bier an, schwuren sich lang anhaltende Brüder- und Schwesternschaft und redeten von einer neuartigen, unverbrüchlichen, andersartigen, stets jugendlichen chinesisch-deutschen und deutsch-chinesischen Wahlverwandtschaft.

„Du gehörst uns allen“, sagte Viktoria, „nicht nur deiner ‚Schönen Wolke‘. Die Zeit mit der Wolke ist vorbei. Lass sie unbekümmert in München ihre Bahn ziehen und am bayrischen Himmel strahlen. Deine Studenten und Studentinnen wissen es zu würdigen, wenn du uns schöne Augen machst! Na ja, etwas abgemildert, wenn du uns mit poetischen Augen anschaust.“

„Na klar!“ erwiderte Robert, „zwei wunderbare Augen ergeben womöglich einen Wendepunkt. Ich meine eure tiefschwarzen oder schwarzbraunen Mandelaugen. Gibt es denn etwas Bewegenderes?“

„Nee, weit und breit nicht! Wir genießen es, wenn du dich von uns angesprochen fühlst und mit uns solidarisierst. Deshalb solidarisieren wir uns auch mit dir! Ganbei!“

„Ganbei“, erwiderte der Gastpoet. „Auf meine Gefährten und Gefährtinnen, auf alle Campusbewohner! Auf meine kühnen Flaneure und Flaneurinnen! Auf ewige Wahlverwandtschaft…“

Nach dem Essen spazierten die verschwisterten Flaneure ein Stück weiter durchs Deutsche Viertel, Gao/Tom führte sie zum ehemaligen Sitz des deutschen Gouverneurs. Nach der Entmachtung des Gouverneurs wurde das Gebäude zum Rathaus und blieb es für lange Zeit. Weil dieses mit der Zeit um vieles zu klein war, ließen die Stadtväter es anno 1989 einfach verdoppeln … In der Tat, das Rathaus wurde symmetrisch ergänzt … Was war das? Das war chinesisch-deutscher Historismus! Robert gewann einmal mehr die Erkenntnis, dass Chinesen unnachahmliche Meister bei der Vereinbarung von Widersprüchen sind. Gerade deshalb waren die Leute, war dieses Land so kreativ … Ein Land? In Wirklichkeit war China ein Kontinent mit vielen Völkern, ein Kontinent, der selbst große Widersprüche in schönster Harmonie zu vereinigen wusste…

„Frauen vereinbaren in sich ebenfalls die schönsten Widersprüche“, schoss es Robert durch den Kopf. „Es lässt sich von diesen am besten lernen, wie man das Weitauseinanderliegende geschickt miteinander verbindet. Na ja, und die Poeten wissen das ebenfalls.“

Die jungen Leute und ihr Gastpoet waren Wahlverwandte, die durchs Deutsche Viertel flanierten und jetzt zur Zhongshan Road, der Hauptgeschäftsstraße, gelangten, in der sich Designergeschäfte und andere Läden aneinanderreihten. Unter dem Asphalt der Zhongshan Road lag die alte Friedrichstraße, so dass die historistischen Flaneure, nein, die unternehmungslustigen Flaneure doppelbödig auf der unterschwellig historischen Straße dahin schritten.

Dank der fotografischen Abbildungen, welche die Leute zuvor gesehen hatten, konnten sie sich die alte, nostalgische Straße bestens vorstellen. Die alte und die neue Straße überlagerten sich in Roberts Kopf, das alte Deutschland im chinesischen Idyll, das neue China im deutschen Idyll! Während die Leute die Zhongshan Lu hinab spazierten, kamen sie am kurz nach 1900 errichteten Seemannshaus vorbei, in welchem sich einst die abenteuerlichsten Geschichten abgespielt hatten mit Typen, wie sie Joseph Conrads Romanen entsprungen sein mochten. Die Seefahrt ist außer Mode gekommen, die Matrosenromantik besteht noch ein wenig fort. Aber Kreuzschifffahrten boomen. Seeleute galten früher als verwegen und waren die Flaneure der Meere.

Gegen Ende ihres Bummels standen die Leute vor dem Deutschen Bahnhof, der gut gepflegt worden war, wirklich, ein schützenswertes Kulturgut … Höflicher ausgedrückt, der alte Bahnhof war in den neuen Bahnhof, welcher den alten Bahnhof architektonisch nachahmte, bestens integriert worden. Die Deutschen hatten ab 1899 eine Eisenbahnlinie gebaut, welche ihr ‚Schutz- und Trutzgebiet Kiautschou‘, wie es zu dieser Zeit hieß, mit dem heutigen Jinan, der Hauptstadt der Provinz Shandong, verband. Der Bahnhof sah aber nicht wie ein Bahnhof, sondern eher wie ein ehrwürdiges Rathaus in einer kleinen deutschen Stadt aus mit einem Giebel und einem Säulenportal. Das Gebäude ging zur Linken in einen Uhrenturm über, welcher – ohne Uhr oder mit Uhr – ein Kirchturm hätte sein können. Das dreiteilige, mit dem neuen Bahnhof zu einem würdigen Monument zusammengewachsene Gebäude war sandsteinfarben verputzt, während die Giebel mit ihren Ziegeldächern rotbraun in der Abendsonne schimmerten.

Viele Leute saßen auf Bänken vor dem Bahnhof und betrachteten diesen mit versonnenem Blick, besonders die Liebespaare. Bestimmt träumten sie von einer sentimentalen Reise. Robert Marian träumte ein Weilchen mit den Liebespaaren mit, das war er seiner Rolle als Gastpoet schuldig … Gerade als die Züge Flügel hatten und in den Himmel flogen, wurde der Deutsche von Shanshan geweckt. Sie stand ein Stück hinter ihm – zur anderen Seite des Platzes hingewandt – und rief seinen Namen. Roberts Orientierung setzte wieder ein. Er erblickte Viktoria/Shanshan vor einem imposanten Gebäude, einem Geschäftskomplex, welcher Victoria-Plaza hieß. Viktoria, Victoria-Plaza, verblüfft erhob sich Robert und schritt auf die ‚schöne Süße/süße Schöne‘ mit ihrer roten Haarsträhne zu. „Na sowas, du hast ja deinen Platz im Leben schon gefunden“, sagte er mit einem breiten Lächeln.

Die Leute schritten abermals in Richtung der Landungsbrücke, bogen dann aber nach rechts ab und spazierten in der Abenddämmerung am Meer auf einer Promenade entlang. Die nächtliche Dunkelheit brach in Ostasien mit großer Schnelligkeit herein, daran war Robert längst gewöhnt. Was ihn verwunderte, war etwas anderes, war etwas, was er wiederum zuvor noch nie gesehen hatte: Mit Einbruch der Nacht blitzten nämlich IM MEERESWASSER Leuchtreklamen auf. Leuchtreklamen, die allesamt dem Meer entsprangen und sich auf der Wasserfläche vielfältig spiegelten … Werbung für Restaurants, für die IT-Branche, Werbung für das neueste Smartphone, alles zusammen eine Werbung für eine noch schönere neue Welt … Als Krönung stieg aus dem Meer die berühmte Tsingtao-Bier-Flasche mit dem ‚Pavillon der zurückkehrenden Wellen‘, gewissermaßen wie Aphrodite, die Göttin der Liebe, der Schönheit und der sinnlichen Begierde, aus den Fluten empor. Beide sind im und aus Schaum geboren, das Bier und die Frau…

Nach einigen Drinks in einer Bar am Strand fuhren die Leute auf den Campus zurück. Der Gastpoet Robert Marian hatte seinen Kopf an die Aphrodite Shanshan gelehnt und schlief unverzüglich – von schönen Träumen durchdrungen – ein.

Quelle: Wulf Noll. Drachenrausch. Flanieren in China. Schiedlberg/Österreich: Bacopa Verlag, 2019, 78-81.

(3) Wulf Noll: „Straße Oben Unten Neun“ und der Canton Tower in Guangzhou

Pikachu und Robert fuhren in die Innenstadt zurück. Dort hatte sich die Situation inzwischen geändert, abermals waren die Fußgängerzonen von Menschenmassen überflutet, allen voran die Shangxiajiu, die STRASSE OBEN UNTEN NEUN, die erste und älteste der Fußgängerzonen in Guangzhou, der es Pikachu besonders angetan hatte. Das war ihre bevorzugte Flanierstraße. Aber die Straße mit den vielen Geschäften war derart überlaufen, dass nur noch ein Dahintreiben und Mitschwimmen möglich war, gewissermaßen Leib an Leib in einem schier endlosen Strom von schwarzen Pilzköpfen, aus dem hin und wieder eine strahlend schöne Pilzköpfin lächelnd hervorschaute … Hätte sich Pikachu mit dem Poeten nicht von Handgelenk zu Handgelenk mit einem Seidenschal straff zusammengefesselt, wäre der Gastpoet vermutlich schlicht davongetrieben worden und hätte sich orientierungslos unter sanft wirbelnden Menschenmassen zurechtfinden müssen. Gewöhnliche Deutsche und andere Kleinstaatler wären jetzt vermutlich ausgeflippt, aber Robert Marian hatte sich als ein Schwimmer in der Menge stabilisiert. Die Beijing Lu, die andere berühmte Fußgängerstraße, war zwar ebenso voll, zog sich aber sehr in die Länge, weshalb der Besucherstrom allmählich abschwoll, bis Pikachu und Robert, dem Labyrinth entronnen, wieder am erhaben-mondänen Ufer des Perlflusses angelangt waren.   

Während dieses anregenden Bads in der Menge hatte Doktor Marian an das kurze Pariser Gedicht des großen, umstrittenen Dichters Ezra Pound In a Station of the Metro gedacht; durch Guangzhou führten ebenfalls mehrere Metrolinien und es gab viele Stationen, die ohne Weiteres zu dem Zweizeiler aufs Beste passen würden. Doch ein Spaziergang durch die STRASSE OBEN UNTEN NEUN und die Beijing Lu passte noch besser:

The apparition of these faces in the crowd;

Petals on a wet, black bough.

Ah, ein starkes Bild, ein hundertprozentiges Bild! Dieses Image, das fest im Raum steht, bevor es sich auflöst … Man wird sich fragen müssen, ob  die Welt ein Traum ist, der Traum eines Demiurgen, zumindest ein Traum Ezra Pounds? „Dein Traum, mein Traum?“ Ein Traum in den Seelen vieler Menschen, eine unauslotbare Traumesblüte … Apparition, geladenes Wort in einem Bedeutungshorizont, der sich sowohl aufbaut wie negiert, als wirkliche und unwirkliche Erscheinung, als Täuschung der Sinne, zugleich als Geburt eines Sterns … Das alles ist auf den Gesichtern in der Menge ablesbar, zumindest erahnbar, im kollektiven und im eigenen Unbewussten…

Der nächtlich glitzernde Perlfluss lobt die Dichter und beruhigt die Nerven. Das sanfte Dahintreiben des Wassers und der beleuchteten Schiffe ruft innere Stille hervor … Aufregung, Stille, Aufregung … Gestern schritten Pikachu und Robert die Uferpromenaden ab, heute ist der CANTON TOWER das Ziel. Wie Pounds poetische Cantos ist der Canton Tower ein architektonisches Produkt der Erhabenheit und der Höhe … Der in sich geschwungene Turm kitzelt mit seiner Spitze den Himmel in 600 Metern Höhe und/oder kratzt diesen an … Der kolossale Turm ändert im Abstand von wenigen Minuten seine mehrfarbig in sich abgestufte Beleuchtung, die Robert auf den Gedanken bringt, dass der Turm ein Eigenleben führt, dass er höchst lebendig sei und so etwas wie einen Herz- und Pulsschlag vorweise.

Der Turm war noch jung…; erst seit vier Monaten konnte er besichtigt werden. Die niederländisch-englischen Architekten hatten sich in Übereinstimmung mit der Stadtregierung Guangzhous etwas Besonderes, einen besonderen Turm ausgedacht, nämlich einen WEIBLICHEN TURM. Da alle Türme in der Regel als männlich, ja sogar als Phallussymbol gelten, sollte dieser alternative CANTON TOWER eine sanfte, weibliche Ausstrahlung zum Ausdruck bringen. Na denn, wie das? Das klingt schön postmodern, elegant postmodern … Wahrscheinlich wird man/frau beim Betrachten des Turmes den Kopf verdrehen, die Glieder verrenken. Zwei versetzt laufende Ellipsen ranken sich in die Höhe, die eine in sich gedrehte hyperbolische Struktur ergeben, während die Lichtlinien einen Schleier, ein Gewand darstellen. Der niederländische Architekt Mark Hemel gibt eine honette Interpretationshilfe: “The result is a tower like a ‘sexy female’, the very reason that earned her the nickname: ‘super-model’.” 

Das war gut, ein Super-Model am nächtlichen Himmel Guangzhous, eine ‚Türmin‘ und Femme fatale, welche die höchst lebendige Wirtschaftsmetropole dominiert … Pikachu, die kleine chinesische Dame, schien neben der großen Dame zu verblassen, aber wer die tollere Femme fatale war, das sei dahingestellt. Die große war unnahbar und kühl, ein Ereignis am Himmel, die kleine war süß und heiß und räkelte sich auf dem Blumenteppich unter den Banyan-Bäumen … Genug der gar nicht so unziemlichen Vergleiche, die nächtliche Aufgabe bestand darin, die liebe Türmin alias den Canton Tower zu besteigen, obgleich nicht zu Fuß; die FlaneurInnen wollten sich nicht unnötigerweise erschöpfen. Um die ‚Türmin‘ zu erklimmen, erwarb Robert Tickets für die Plattform D; nach einiger Wartezeit fuhren sie mit einem superschnellen Fahrstuhl nach oben.

Plattform D war die zweithöchste Plattform in 340 Metern Höhe, hoch genug, um auf einem imposanten verglasten Skywalk um den Betonkern des Turmes herum zu wandeln und auf die Stadt im Abenddunkel hinabzublicken. Abermals war es der hier sehr breite Perlfluss, dessen schwarzblaues Band die Blicke vom Turm auf die Stadt fesselte … Nächtlicher Perlfluss, ein leicht gewundener, träger Strom, der von angestrahlten Brücken in großen Abständen unterteilt wurde … Die Flussufer waren dezent beleuchtet, einzelne Schiffe trieben auf dem Wasser dahin; unterhalb des Turms befand sich eine illuminierte Flotte vor Anker. Pikachu und Robert, die auf dem Skywalk spazierten, waren höher hinausgelangt, als die meisten Laserstrahlen aufstiegen, so dass die beiden von diesem magischen Gefunkel unter sich, welches vom Fluss reflektiert wurde, sattsam in den Bann gezogen wurden.

Quelle: Wulf Noll. Drachenrausch. Flanieren in China. Schiedlberg/Österreich: Bacopa Verlag, 2019, 284-287.

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1 Kommentar

  1. Ganbei, ganbei.
    Ich beneide diesen Flaneur Robert ein bisschen, weil ich in ihm eine alte Sehnsucht wieder erweckt fühle. Auch ich wollte als junger Lehrer gern einige Jahre ins Ausland, um fremde Kulturen kennenzulernen. Tatsächlich kam eines Tages eine Anfrage aus Nanking. Nach Absprache mit meiner Frau schickte ich eine Bewerbung ab. Einige Zeit später kam ein Antwortbrief, in dem mir von einem Vertrag abgeraten wurde, mit der Begründung, die Chinesen würden uns nach chinesischen Maßstäben unterbringen, was einer sechsköpfigen deutschen Familie nicht zuzumuten sei. So war dieser Traum dahingeschmolzen. Umso mehr macht es Spaß, diesen Robert für mich flanieren zu lassen und an seinen Beobachtungen teilzunehmen. Das ist das Schöne an Geschichten: Man muss nicht alles selbst erleben.

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