„GehBorgen“

Gehen. Meditationen und Reflexionen am Ende des Jahres 2021

„GehBorgen“ von Sabine Braun:

„Ich habe mir mein Leben geborgt. Vom Himmel und der Erde, von Bäumen und Blumen, von Felsen und vom Feuer, von den Sternen und der Sonne, von Winden und Wellen. Ich fühle mich geborgen in den Schwingen meiner Engel. Fliegende Engel. Tanzende, bebende, weiche und mächtige Wesen. Sie sprechen zu mir, wenn ich ihnen meine Sprache und Wege zeige, meine Gedanken mit ihnen teile. Sie sind unterwegs neben mir. Immer und überall. Auf allen Wegen. Von Anfang bis Ende.“ (Sabine Braun, „GehBorgen“, in: Gegenüberstellung. Brücke zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, Regensburg: Verlag Schnell & Steiner GmbH, 2014, S. 47)

„The God Project“ von Djawid C. Borower:

„`Wahrheit´ ist wohl der gefährlichste Begriff der Menschheitsgeschichte, vor  allem, wenn er mit dem Begriff „Gott“ verbunden ist. Die Kunst trennt sie voneinander.“ (Djawid C. Borower, „The God Project“, in: Gegenüberstellung. Brücke zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, Regensburg: Verlag Schnell & Steiner GmbH, 2014, S. 45).

„Sinnzusammenhang“, ein Zitat von Josef Beuys:

Mit dem Begriff der „Autonomie“ der Kunst wurde in der Kunsttheorie des 20. Jahrhunderts die Unabhängigkeit der Kunstproduktion von allen Vorschriften und Vorgaben des kirchlichen Christentums besiegelt. In dem Begriff der „autonomen Kunst“ kommt zum Ausdruck, dass nicht nur die institutionalisierte Religion, sondern auch die großen Systeme der traditionellen Ästhetik für sie keine Bedeutung mehr haben. Der einzelne Kunstgegenstand, seine Entstehung und seine Kommunikation stehen im Mittelpunkt des Interesses, weshalb auch die Kunsttheoretiker nicht mehr von „Kunst“ überhaupt, sondern von Strukturen, Schematisierungen, Botschaften, ästhetischen Gegenständen, poetischen Nachrichten, ästhetischer Zeichenverbindung sprechen und damit das zuvor durch metaphysische Prämissen vereinheitlichte Phänomen „Kunst“ in einen gefächerten Bereich aufklärbarer Teilkomponenten zerlegen. Daraus folgt für ihren „Sinn“, dass dieser in der Sache selbst – dem einzelnen Kunstwerk – und nicht mehr in übergreifenden theologischen oder philosophischen Einheiten zu suchen und zu finden ist: „Das autonome Kunstwerk muss aus sich heraus den Sinnzusammenhang entwerfen, der dem fragenden Menschen Orientierung gibt“, wie Josef Beuys (1921-1986), an dessen hundersten Geburtstag im zurückliegenden Jahr erinnert wurde, feststellte (in: Franz Joseph van der Grinten/ Friedhelm Mennekes, Herausgeber, Menschenbild – Christusbild. Auseinandersetzung mit einem Thema der Gegenwartskunst, Stuttgart, 1985, S.112)

„Gehend weiche ich aus ins Reale“ von Heinrich Geiger

Und wenn die „Kunst“ ganz verschwunden ist im Gewöhnlichen, fühle ich mich „GehBorgen„. Gehend weiche ich aus ins Reale, und hoffe in der Begegnung mit ihm wieder die Welten zu erschließen, die mir die Scheinwelten der Werber und Designer raubten. Wenn ich stehen bleibe, werde ich mir meiner eigenen künstlerischen Voreinstellung bewusst, die Zong Baihua als „westlich“ im „Führer der Ästhetik“ (meixue xiangdao, Verlagsgesellschaft der Universität Beijing (Hrsg.), Beijing, 1982, S. 8)  bezeichnet: Ich will nicht, dass die Freiheit der Kunst von Ansprüchen ganz gleich welcher Art, und seien es ethische, eingegrenzt wird. Ich schaue, und das ist genug, um „GehBorgen“ im Sinne der Kunst des Gehens zu sein. Und also ist das Soziale an der „Geh-Kunst“ im „westlichen“ Sinne (Zong Baihua) recht eigentlich das Asoziale, weil sie immer aus der Distanz erfolgt. Sie trägt dem Prinzip Rechnung, dass erst die Befreiung von jeder Verantwortung es ermöglicht, die eigene Verantwortung neu zu begreifen. Nur die Unbestimmtheit der Ästhetik birgt die Chance auf eine andere Form der Bestimmtheit, vielleicht sogar der Selbsterkenntnis.

„Kunst und Kirche“ von Heinrich Geiger:

Kunst und Kirche bilden nicht mehr ein harmonisches Miteinander. Obgleich im Laufe des 20. Jahrhunderts der Graben zwischen ihnen vertieft wurde, befruchten sie sich aber nach wie vor. Das Verhältnis von Religion, Spiritualität und Kunst erweist sich im institutionalisierten Rahmen der Kirche auch heute noch als höchst produktiv. Berühmte Künstler der Moderne, die nicht kirchlich gebunden waren, schufen Werke für Kirchenräume. Der Jude Marc Chagall (1887-1985) schuf Glasfenster für Kirchen und Kathedralen. Le Corbusier (1887-1965) – er war Calvinist – entwarf die Architektur der Marienwallfahrtskirche Ronchamp. Henri Matisse (1869-1954), ein dezidierter Agnostiker, gestaltete die Kirche der Dominikanerinnen in Vence und vertiefte sich in die katholische Liturgie. Fernand Léger (1881-1955) und Giacomo Manzù (1908-1991) schufen die Glasfenster von Audincourt beziehungsweise die Bronzetür von St. Peter in Rom. Beide waren Kommunisten.  

Die wunderbaren Kunstwerke, die in kirchlichen Räumen im Laufe des 20. Jahrhunderts entstanden, wurden im Geiste eines veränderten Verhältnisses von Kunst, Ästhetik und Kirche geschaffen. Denn im Laufe des 2. Jahrtausends unserer Zeitrechnung, zwischen Mittelalter und Gegenwart, hatte ein gewaltiger Erosionsprozess stattgefunden, der die klassischen kirchlichen Bindungen freisetzte. Dies geschah wie folgt: Nach und nach wurden die Konfessionen von der Aufklärung eingeholt, wobei die Freiheit der Kunst, gemäß bildungsbürgerlicher Wertehierarchie, zur ranghöchsten Form der Meinungsfreiheit avancierte. Kunst und Ästhetik beerbten religiöse Traditionen. Wer dem Gedanken der Freiheit der Kunst folgte, war nicht mehr bereit, das „römische Prinzip“ der Kirche und die Institutionalisierung des Glaubens zu akzeptieren. In diesem Geiste wurde die Religion in einem urprotestantischen Sinne eher als Frage nach dem Sinn und nach den Ursprüngen allen Seins verstanden. Die im Auftrag der Kirche entstandenen Werke von Marc Chagall, Le Corbusier, Matisse, Leger und Manzù, die ich oben nannte, beweisen, dass die Institution Kirche weiterhin Künstler bis in die jüngste Gegenwart zutiefst zu inspirieren vermochte – jenseits eines absoluten Wahrheitsanspruchs.

*

Gehen, um „GehBorgenheit“ zu finden;

Gehen, um dem Anspruch einer absoluten Wahrheit zu entkommen;

Gehen, um einen Sinnzusammenhang zu entwerfen;

Gehen, um aus der Distanz, die eigene Verantwortung für die Welt neu zu begreifen;

Gehen und die Begegnung mit einer Institution, der Kirche – nicht nur zur Weihnachtszeit.

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern meines Blogs ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein erfülltes Neues Jahr.

Herzlich, Heinrich Geiger

21.12.2021

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5 Kommentare

  1. Lieber Heinrich,

    Dein letzter Blog-Beitrag ist eine wunderbare Abrundung des Themenspaziergangs rund um das Spazierengehen, den Du Deinen Lesern eröffnet hast.
    Zum Thema Kunst und Kirche fällt mir als gebürtigem Kölner natürlich noch das beeindruckende Kirchenfenster ein, das Gerhard Richter für den Kölner Dom erschaffen hat. Es ist mit seiner Vielzahl von farbigen Quadraten vordergründig abstrakt und losgelöst sowohl von klassischen als auch moderneren religiösen Motiven – und so gab es aus dem Klerus Kritik an dem Fenster (was zu Deiner Aussage passt, dass Kirche und Kunst kein harmonisches Miteinander mehr bilden). Nichtsdestotrotz hat Gerhard Richters Fenster aus meiner Sicht eine klare spirituelle Dimension. Das kann man erfahren, wenn man im Dom vor diesem nach Süden ausgerichteten Fenster steht und die farbige Lichtflut wahrnimmt, die in das Kirchenschiff strömt. Kirchliche Architektur sollte die Gläubigen beeindrucken, und diesen Aspekt unterstützt Richters Werk eindeutig.
    Herzliche Grüße,
    Erich

    1. Lieber Erich, Religionen sind mehr oder weniger stark schriftenbasiert. Mir hat aber dabei immer etwas gefehlt; erst Bilder vermochten das Ungenügen zu beheben. Und auch während der Predigt ertappte ich mich häufig dabei, dass ich nicht dem Prediger folgte, sondern mich an den im Kirchenraum zu sehenden Wandmalereien erfreute. Und, wenn „die farbige Lichtflut“ einmal „strömte“ (wie Du es geschrieben hast), dann war ich überwältigt. Heinrich

      1. Lieber Heinrich,
        die Millionen von Seiten, die im Zuge des Christentums verfasst wurden, waren über Jahrhunderte nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Insofern hast du Recht, die Religionen seien schriftenbasiert. Seit etwa 1200 Jahren versucht man, den Gläubigen die Religion auch über Bilder zu vermitteln, weil lange Zeit nur wenige Menschen des Lesens oder Schreibens mächtig waren.
        Aber auch Bilder können nur den Zeitgeist widerspiegeln, in dessen Zeit sie entstanden sind. Vieles davon zeigt martialische Szenen (vor allem die Barockzeit schwelgt in der Darstellung von gefolterten Menschen) allen voran der Gekreuzigte. Und wenn die Folterungen nicht explizit dargestellt wurden, hat man sie in Metaphern verbrämt ( z.B: Katharina mit dem Rad) Die Zeitgenossen konnten die Bilder damals ikonologisch entziffern. Dieses Wissen fehlt den meisten Menschen heute. Da bleibt, wenn man die Geschichten kennt, nicht viel Erfreuliches.
        Insofern kann ich Erichs Blick auf Richters Bild gut nachvollziehen, ( Der Klerus hat es nur deshalb genehmigt, weil er es ihnen geschenkt hat.) da er diese ganzen unsäglichen Geschichten ausblendet und damit die spirituelle Dimension betont.
        Herzliche Grüße
        Harald

  2. Lieber Heinrich
    endlich nehme ich mir die Zeit in deinem großartigen Blog zu lesen und finde so viele ansprechende Gedanken, an die wir im Gespräch anknüpfen können. Hast du irgendwo den Gedanken von Heidegger schon vermerkt, dass man keinem Gedanken trauen sollte, den man nicht im Gehen gedacht oder geprüft hat? Auch diesem Gedanken sollten wir dann bald gehend nachgehen.
    Für heute erst einmal herzliche Weihnachtsgrüße an dich und Xiuwei
    Heinz

  3. Lieber Herr Geiger,

    Ihre Reflexionen habe ich mit Vergnügen gelesen

    „Gehend weiche ich aus ins Reale“ – Ja, auch wenn mein Fokus und mein Verständnis von dem „Realen“ (um in Ihrer Terminologie zu bleiben) vielleicht ein anderer ist. Ein Gespräch darüber fände ich lohnend.

    In Zeiten von Corona, gespaltenen Gesellschaften, gefährdetem Frieden und Klimawandel haben die von Ihnen angesprochenen Themen für mich zwar einen hohen intellektuellen Reiz. Doch sie berühren mich nicht existenziell. Es mag meinem protestantischen Hintergrund, meinem Studium und meinem früheren Beruf geschuldet sein, dass Sinnzusammenhänge für mich eher aus dem Wort (oder einer Situations- oder Textanalyse) zu gewinnen sind. Von einem Kunstwerk erwarte ich keine Orientierung. Mir genügt, dass es mich berührt, erregt – egal ob ich es „ schön“ oder schockierend finde. Wichtig ist, dass ich die Intentionen des Künstlers oder den Kontext verstehe, in dem es entstanden ist. Dass es meine Spiritualität anspricht, ist relevant, aber nicht entscheidend.

    Ihnen uns Ihrer Familie ein gutes Neues Jahr, in der Hoffnung, dass es gelingt, die Pandemie wenigsten einzuhegen.

    Herzlich , Wolfgang Runge

    29.12.2021

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