Beim Lesen des Titels von Christians Dillos Buch „Der tiefe Wunsch nach Lebendigkeit“, dessen Inhalt Gudula Linck nachfolgend vorstellt, möchte man sofort loslaufen und die Idee, die es verkündet, für sein eigenes Leben verwirklichen. Und das Überraschende ist: Jeder kann mitmachen, denn in jedem steckt ein Entdecker, man muss nur den Blick so einstellen, dass man hinter den trostlosen Tatsachen den prachtvollen Garten des Lebens findet: den hellen Traum, die heilenden Bilder.
Das Buch wird im Untertitel als ein „Wegweiser für das 21. Jahrhundert“ vorgestellt. Und das ist nicht so einfach. Wir sind ja nicht automatisch auf der besseren Seite, nur weil wir es wünschen. Ich möchte den Gedanken des „Wegweisers“ mit der Frage nach den geschichtlichen Voraussetzungen unseres Denkens und Fühlens konkretisieren: „Wessen Vorstellung bin ich, wessen Veranstaltung?“ und damit mir eingestehen, dass ich eine schwere Bürde trage. Der Gedanke, ob die Geschichte nach Hegels Regie immer deutlicher Richtung Fortschritt und Vernunft verläuft, spielt keine Rolle. Wichtiger ist, dass das Wahnsystem Realität um seinen Alleinvertretungsanspruch gebracht werden muss. In seinem Gedichtband „Das Auge des Entdeckers“ schreibt Nicolas Born: „Du kannst nicht davon leben/ mit der Wirklichkeit zu konkurrieren/ noch kannst du von der Wirklichkeit leben/ aber du kannst einen Eingriff überleben/ und alles zurück kriegen/ und durch das Leben gehen/ durch schnell verfallende Bilder/ das warst du.“ Nichts Abgeklärtes ist in diesen Versen, stattdessen: eine schöne traurige Unruhe und das märchenhafte Verlangen nach einer Welt, in der das Wünschen hilft – und die Einsicht, dass „Kunst heißt das Leben mit Präzision verfehlen!“
Ich bedanke mich bei Gudula Linck, die uns das Buch Christian Dillos vorstellt – ein Werk, das uns dazu anregt, das Leben in seiner Wirklichkeit zu erschließen. Es möge uns aber auch, wie ich hinzufügen möchte, lehren, mit dem möglichen Scheitern künstlerisch-ästhetisch umzugehen.
Bonn, 19.03.2024 Heinrich Geiger
Christian Dillo: Der tiefe Wunsch nach Lebendigkeit. Ein buddhistischer Wegweiser für das 21. Jahrhundert. Berlin: Ullstein, 2022. 458 Seiten, 22,99 Euro. ISBN 978-3-7934-2437-6
Gleich zu Beginn des Buches, noch vor dem Inhaltsverzeichnis, steht das Zitat von Dōgen (1200-1253), dem das Buch seinen Titel verdankt: „Der tiefe Wunsch nach Erwachen und die umgebende Welt halten gemeinsam eine Hand auf – eine Hand frei aufgehalten, inmitten des Seins.“
Dōgen gilt als einer der bedeutendsten Zenmeister Japans und Gründer der Zen-Sōtō-Schule, die bis heute existiert. In dieser Tradition praktiziert der Autor seit nunmehr 30 Jahren, derzeit als Abt des Zen-Centers von Boulder, Colorado.
Wenn im Titel statt „Erwachen“ das Wort „Lebendigkeit“ erscheint, so verweist das bereits auf ein zweifaches Anliegen des vorliegenden Buches:
Erstens, den Buddhismus phänomenologisch zu durchleuchten, um die mit buddhistischer Praxis verbundene menschliche Erfahrung „mit intellektueller Präzision“ (S. 148) zu untersuchen und so zur Entwicklung des Buddhismus beizutragen.
Damit geht, zweitens, ein kritischer Blick einher, weil es loszulassen gilt, was „historisch veraltet“ ist (S. 145): etwa die Lehre von der Reinkarnation, vom Erwachen/Nirwana als Endzustand und von der Allwissenheit Buddhas.
Manchmal genügt eine etwas andere Formulierung, um signifikante Lehrinhalte auf den Boden gespürter Wirklichkeit zurückzuholen, wenn der Autor z. B. die „vier edlen Wahrheiten“ als die „vier Vollzüge“ erläutert.
Vor diesem Hintergrund ist der Wunsch nach Lebendigkeit – in einer zunehmend säkularen und rationalen Welt – dann nichts anderes als der Wunsch nach unmittelbarem Erleben unserer eigenen „vibrierenden Vitalität“: „Dieses Gerade-jetzt-hier-Sein ist das, was ich Lebendigkeit nenne.“ (S. 338) Für diese „Grundschwingung der Lebendigkeit“ führt der Autor eine Reihe schöner bildhafter Wendungen an: „eine Art Summen, ein inneres Schimmern“, „Champagnerperlen“ (S. 116).
Der Wunsch nach Lebendigkeit ist dann buddhistisch, wenn wir auf die Möglichkeit vertrauen,
- unsere Erfahrung zu transformieren (Transformation)
- uns von unnötigem Leid zu befreien (Freiheit)
- im Einklang mit den Dingen zu leben, so wie sie wirklich sind (Weisheit)
- zum Wohle aller Wesen zu handeln (Mitgefühl).
Beim Schreiben an diesem Buch standen dem Autor zwei Zielgruppen vor Augen: „diejenigen, die sich für Selbsttransformation interessieren, aber noch nicht wissen, wie eine buddhistische Perspektive dazu beitragen könnte. Und diejenigen, die den Buddhismus bereits praktizieren, aber an Verfeinerungen von Sichtweisen und Übungsansätzen interessiert sind.“ (S. 15).
Von den ausdrücklich genannten Gewährsleuten bei diesem Unterfangen seien zwei Philosophen aus dem deutschsprachigen Raum genannt: zum einen Hermann Schmitz (1928-2021), der Begründer der Neuen Phänomenologie. Ihm verdankt der Autor das Augenmerk auf leiblich Gespürtes als unmittelbarer Ausdruck von Erleben und Erfahren; zum andern Rolf Elberfeld (1964), Professor für Kulturphilosophie an der Universität Hildesheim. Mit ihm teilt er das Interesse an einer „verändernden Wirksamkeit philosophischen Denkens“ (Elberfeld). So gesehen, erweisen sich Theorie und Praxis des (Zen)Buddhismus als Erscheinungsformen einer transformativen Phänomenologie: „Mit der Idee, den Buddhismus als eine transformative Phänomenologie zu betrachten, möchte ich ihn anschlussfähiger machen.“ (S. 45)
Das vorliegende Buch ist in vier Teile gegliedert, die jeweils einem der oben genannten vier Aspekte buddhistischer Praxis gewidmet sind. Es dient somit zugleich als Handbuch auf diesem Übungsweg, zumal über die Seiten verstreut Atem- und andere Übungen zur Sprache kommen.
Transformation (Teil Eins) zielt nicht darauf, „unser Menschlich-Sein sein zu transzendieren“ (Bruce Tift), „sondern darum, immer vollständiger und freier darin anzukommen“ (S. 16), und zwar „in Richtung weniger Leiden, mehr Weisheit und angemessenem ethischen Handeln“ (S. 144). Buddhistische Phänomenologie ist nicht am Wissen um des Wissens willen interessiert, „sondern stellt Wissen in den Dienst von Transformation“ (S. 144).
Befreiung (Teil Zwei) meint hier Freiwerden von unnötigem Leiden. Leiden ist dann „unnötig“, wenn das Leid zunimmt, nur weil einer unangenehmen Erfahrung (Schmerz) Widerstand entgegengebracht wird: „Auch wenn der Schmerz sehr heftig ist, entsteht kein Leid, solange es keinen Widerstand dagegen gibt: Leiden = Schmerz x Widerstand.“ (S. 153)
Das so bestimmte Verhältnis von Schmerz und Leid führt im Buddhismus zur Empfehlung, nicht (mit Abwehr) zu reagieren, vielmehr gelassen in „Nicht-Reaktivität“ zu verweilen: „Sobald wir die Fähigkeit haben, uns unserem Schmerz zuzuwenden, statt uns von ihm abzuwenden, ist das Leiden bereits kleiner geworden… Um kontinuierlich frei von Leiden zu sein, bedarf es einer Praxis, die von Moment zu Moment Widerstand in Akzeptanz transformiert.“ (S. 155)
Hier ergibt sich ganz nebenbei ein Verständnis von Nirvana jenseits aller Metaphysik: Die Frage ist, „wie wird Reaktivität ‚wiedergeboren‘, d. h.: in diesem Geist hier jetzt von diesem in den nächsten Moment weitergetragen… Momenthafte Nirvana-Erfahrungen sind allen Menschen möglich und zugänglich.“ (S. 177-178)
Weisheit (Teil Drei) bedeutet, „im Einklang mit den Dingen handeln, so wie sie wirklich sind“. Wenn wir durchs Leben gehen, ohne uns der reaktiven Muster bewusst zu werden, die uns im Laufe unseres Lebens zu einer zweiten Haut geraten sind, dann bleibt uns solcherart Weisheit verschlossen: Spontane, erst recht eingeschliffene Verhaltensweisen verstellen womöglich die Dinge, so wie sie wirklich sind: „Solange ich in meine reaktiven Muster verstrickt bin, ist mein Geist dafür nicht offen genug; stattdessen werde ich alles tun, um die Dinge in Einklang mit meinen eigenen Vorlieben und Abneigungen zu bringen“ (S. 263).
Mitgefühl (Teil Vier) impliziert, zum Wohle aller Wesen zu handeln: „Buddhistisch gesehen bleibt unsere Befreiung allerdings unvollständig, wenn wir den Effekt, den wir auf andere haben, ignorieren.“ (S. 258) Umgekehrt sind wir selbst dem Effekt, den andere auf uns haben, ununterbrochen ausgesetzt. Schon deshalb wird uns daran gelegen sein, dass sich die anderen wohlfühlen in ihrer Haut und Umwelt.
Darüber hinaus ist Mitgefühl Ausdruck von Lebendigkeit: Wenn es darum geht, „unser Gefühl von Lebendigkeit zu steigern und zu verfeinern, werden wir ein natürliches Interesse haben, diese Fähigkeit in uns weiterzuentwickeln.“ (S. 360)
So setzt Mitgefühl als Teil buddhistischer Lebenskunst voraus, dass wir uns um Kultivierung von Resonanz, allseitiger Teilnahme und „wechselseitiger Einleibung“ (Schmitz) bemühen und „Ver-Antwortlichkeit“ (S. 360) übernehmen.
All dies macht nicht bei den Menschen Halt. Ein von Mitgefühl getragenes Weltverhältnis, ein „ökologisches Mitgefühl“, erfreut sich an der Schönheit der nicht-menschlichen Natur, lindert auch hier Not und Schmerz und verhält sich verantwortlich.
Aus Platzgründen kann hier auf weitere Stichworte nicht eingegangen werden – so lebendig, poetisch und in höchstem Maße „benutzerfreundlich“ sie auch daherkommen. Die für mich wichtigen seien immerhin genannt: Selbst und Bewusstsein, Geist und Körper, Meditation, Aufmerksamkeitsbewusstsein versus Denkbewusstsein, die irritierenden Emotionen, Raum und Zeit und nicht zuletzt das Atmen – als verlässliche und allgegenwärtige Brücke zur eigenen Lebendigkeit im Hier und Jetzt: Wer bin ich? Die Summe der Geschichten, die ich mir und anderen über mich erzähle? Die Erwartungen der anderen, die ich erfülle? Oder bin ich diese „Schwingtür, die sich bewegt, wenn wir einatmen und ausatmen?“ (Shunryū Suzuki) (S. 135)
Zwischen die vier Teile (Transformation, Befreiung, Weisheit, Mitgefühl) sind drei Exkurse eingestreut: erstens zum Buddhismus als einer transformativen Phänomenologie; zweitens zum Thema „Buddhismus und Psychotherapie“; drittens zur „Spürenswirklichkeit“, dem felt sense nach Eugene Gendlin.
Eine Vorbemerkung des Autors und sein Epilog – erstere ausführlich, letzterer kurz und bündig – geleiten umsichtig in das Buch hinein und hinaus und geben dem knapp fünfhundert Seiten umfassenden Werk seine Rahmung. Das der deutschen Ausgabe vorangestellte Vorwort von Mariana Leky erfrischt mit Witz und Humor. Ihren Vorschlag, sich ganze Sätze aus dem Buch „über die Spüle zu hängen“, habe ich zwar nicht befolgt. Dafür ist mein Kalender 2024 mit zwölf ausgewählten Passagen aus Christian Dillos Buch bestückt. Mit seinen feinsinnigen und feinsprachlichen Überlegungen, die aus langjähriger Praxis schöpfen, werden sie mich durchs Drachenjahr begleiten.
Gudula Linck, em. Professorin für Sinologie a. d. Universität Kiel
Freiburg im Februar 2024