denn leicht und mühelos wird sie zum buddha selbst wenn sie gar nichts tut

Zhang Deyi (1847-1918), der uns in dem Buch Die Entdeckung des Westens. Chinas erste Botschafter in Europa 1866 – 1894 (Feng Chen, aus dem Französischen von Fred E. Schrader, Frankfurt am Main: Fischer, 2001: S. 180) als der „erste chinesische Karrierediplomat“ vorgestellt wird, verbrachte zwischen 1866 und 1906 im diplomatischen Dienst seines Landes mehrere Jahre in Europa. Mit seinen europäischen Tagebüchern, den Wunderbaren Geschichten (Shuqi), wollte er seine Landsleute an seinen Erfahrungen in der Ferne, unter die auch Beobachtungen zu europäischen Parks und Grünanlagen fallen, teilhaben lassen. U.a. beobachtete Zhang, daß die europäischen Wohnhäuser den Menschen von der Natur abschneiden und folgerte daraus, dass diese vom Menschen architektonisch bewirkte Trennung von der Natur der Grund für die Existenz von öffentlichen Park- und Gartenanlagen sei. (ebenda: S. 54)

Ebenso wichtig wie diese Beobachtung dürfte aus interkultureller Sicht die Feststellung Zhang Deyis sein, daß die Funktion des Parks als öffentlicher Einrichtung für ihn interessanter sei als dessen ästhetischer Wert, da sich nach seinem Verständnis Regent´s-, Hyde- und St. James-Park, um nur einige der von ihm namentlich genannten Parkanlagen anzuführen, allzu sehr ähnelten. Überall seien der gleiche Bewuchs, die gleichen Teiche und die gleichen Wege sowie die gleichen Sitzbänke zu sehen. Und ein anderer chinesischer Gesandter, Li Shuchang (1837-1897), der von 1876 bis 1881 in England, Frankreich, Deutschland und Spanien als Berater der chinesischen Botschaft arbeitete, merkt in Ergänzung dazu an, dass es, wie er beobachtet habe, dem Besucher der Parkanlagen nicht auf botanische Vielfalt, sondern auf bestimmte Aktivitäten zur Rekreation ankomme. (ebenda: S. 54)

Mittlerweile – im sozialistischen China und auch schon in den Jahrzehnten davor – gibt es in allen chinesischen Groß- und Kleinstädten Parkanlagen, die, wie es von Zhang Deyi und Li Shuchang für die europäischen Anlagen vermerkt wurde, unter rein funktionalen Aspekten geplant und angelegt wurden. Obgleich in den letzten Jahren diese städtischen Flächen umgestaltet wurden und somit ein neues, viel freundlicheres Gesicht erhielten, ändert dies doch nichts an der Tatsache, dass nicht nur aus der Sicht eines traditionell geschulten Chinesen der Park und der Garten inkompatible Größen sind, die einer unterschiedliche Funktionalität gehorchen und damit sich auch in ihrem ästhetischen Programm wesentlich unterscheiden.

Im Gegensatz zum Park, in dem seit dem 19. Jahrhundert Volkssport und soziale Interaktion im Vordergrund stehen, ist der Garten ein Ort des Privaten, ganz gleich ob er nun, wie in China, für den Gebrauch des Kaisers, die Mußestunden von Angehörigen der Aristokratie oder von Großgrundbesitzern bestimmt war. Kontemplation und Imagination sind mit dem Garten eng verknüpft, weshalb sich auch die chinesischen Gesandten über die westlichen Parkanlagen mokierten, die trotz ihres Erholungswertes das nicht ermöglichen, was das Herzstück der traditionellen chinesischen Gartenanlage ausmacht: Seelenraum für seinen Erbauer und auch seine Besucher sowie ein Ort für einen Wahrnehmungsakt von Natur zu sein, der nicht loszulösen ist von einer bestimmten Kultur der Wahrnehmung.

In einem seiner Texte aus dem Band Wolkenpost (Zürich: Diogenes/ Steidl, 2021, S. 32) erfahren wir von dem als „Sprayer von Zürich“ bekannten Harald Naegeli, dass nicht nur in China ein kultureller Akt den Blick für die Natur öffnen und dabei auch schöpferische Potentiale freisetzen kann: „liebe freunde, heute begab sich die wolke (in menschengestalt) ins Museum Rietberg, um die werke eines zen-meisters namens sengai aus dem 15. jhdt zu besichtigen. die werke dieses mönchs bezaubern sie vor allem durch Humor und Heiterkeit. so geistig erfrischt, suchte sie eine dachterrasse auf, um den abendhimmel zu betrachten und zu zeichnen. ihre lieblingsbeschäftigung seit langem. denn leicht und mühelos wird sie zum buddha, selbst wenn sie gar nichts tut. liebe grüße, eure wolke“

„Grenz-Erfahrung“

„Damit Europa als Heimat verstanden wird, muss es bereist, kritisiert, besprochen werden, und dazu müssen die verschiedenen Erfahrungen und Perspektiven einander zugemutet, angeboten, verknüpft werden.“ Und: „Verstehen ist immer auch Arbeit. Einander in Europa zu verstehen, setzt voraus, dass wir erzählen und zuhören, dass wir vergleichen und als nicht gleich begreifen, dass die vielfältigen Sprachen und Erfahrungen bewahrt werden.“ (Carolin Emcke, „Grenz-Erfahrungen“, in: Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 40, 7. Oktober 2022, S. 12-25, Zitate: S. 23 und S. 25).

Haben diese Worte Carolin Emckes nur im europäischen Kontext ihre Richtigkeit? Meines Erachtens gelten sie auch für China, wie auch für jeden anderen Kulturraum dieser Welt. Um China verstehen zu können, muss es zuerst erfahren werden; die gemachten Erfahrungen müssen weiterhin im Gespräch vertieft und miteinander verknüpfen werden, wobei ein Hohelied genauso möglich sein muss wie die Kritik oder die „Zumutungen“, von denen Carolin Emcke spricht. Auch hier gilt die Grundregel des Spazierengehens als Kunst: Die gemachten Erfahrungen können nützlich sein, müssen es aber nicht. Sie sollen aus einer Haltung hervorgehen, die offen für die Polyphonie und Hybridität Chinas ist, wie es in dem Sammelband Polyphonie und Hybridität. Musikaustausch zwischen China und Europa der Fall ist. In diesem Band finden sich auch Texte meiner Frau und von mir selbst.

Die Konzentration auf das Zentrum der Macht, Beijing, verengt allerdings dabei den Blick. Es müssen „Grenz-Erfahrungen“ gemacht werden, der Stopp an Orten an der Peripherie gehört mit zum Programm. Und wenn diese Orte etwas mit China zu tun haben, welchen Platz geben wir ihnen dann in unserem Weltbild? Dürfen sie unser Bild der Welt und auch Chinas verändern? Der/ die Spaziergänger/in sagt ja, wobei der Rat von Franz Hessel, dass diese/r seine/n Begleiter/in sehr sorgsam auswählen sollte, zu bedenken ist („Von der schwierigen Kunst spazieren zu gehen“, in: Vom Glück des Spazierens. Geschichten und Gedichte, herausgegeben und mit einem Nachwort von Hartmut Vollmer, Ditzingen: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, S. 14-22). Hessel rät davon ab, mit Malern/ innen oder Schriftstellern/ innen zu spazieren, da sie „das Wanderbild“ ausschneiden und umrahmen und nicht einfach nur wunschlos in sich aufnehmen. Er empfiehlt die Begleitung durch Musiker (S.19), was schon fast wieder als eine Art Empfehlung für das eben genannte, jüngst im J. B. Metzler Verlag erschienene Buch gelten mag. Aber wo ist die Peripherie, wo endigt China, wo beginnt der Rest der Welt?

Während der Tang-Dynastie (618-907 n.Chr.), in deren Regentschaft das Goldene Zeitalter Chinas fällt, dehnte sich die chinesische Kultur bis weit an die Grenzen des Irans aus. Fergana und Transoxanien unterlagen ihrem Herrschaftsanspruch. Von dem regen Verkehr zwischen dem Reich der Mitte und westlichen Ländern während der Tang-Zeit (618-907) zeugen unter anderem archäologische Funde, die in Gräbern der Stadt Xi´an, dem früheren Chang´an, gemacht wurden. Als Grabbeigaben finden sich auch Ausländerfiguren, an denen sich die Entwicklung des Ausländerbildes in China exemplarisch nachvollziehen lässt.

Wie Achim Hildebrand in seiner Arbeit Das Ausländerbild in der Kunst Chinas als Spiegel kultureller Beziehungen (Han-Tang) festgestellt hat, ist in China die Ausländerdarstellung „in vielen Fällen nur Symptom für eine wesentlich tieferliegende geistig-intellektuelle Beeinflussung, die in der Philosophie, in Ästhetik und Kunst spürbar wird.“ (206) Ganz gleich, ob Buddhismus, Christentum, das zuerst in der Form des Nestorianismus nach China kam, oder Manichäismus und Islam – sie haben ihren Einfluss in China auf dem Weg über die Seidenstraße gewonnen. Die Ruinen und Trümmer von Wachtürmen, Sektionsstationen, Magazinräumen usw., die den Strom von materiellen und geistigen Gütern sicherten, legen noch heute ein beredtes Zeugnis davon ab, wie verletzlich dieser Verkehrsweg war, der von China aus durch die Sandwüste Ostturkistans und dann über die oft tiefverschneiten Pässe des Pamir führte. Den Oasenstädten ermöglichte es ihre geographische Lage, dass sie bis in die islamische Zeit ihre Rolle als Knotenpunkte an der Seidenstraße bewahren konnten. Sie blieben Zentren des Handels, des Handwerks, der Kunst und der Gelehrsamkeit auch über die Zeiten politischer und kriegerischer Wirren hinweg und boten dem Reisenden Rast und Erholung in dem weitläufigen Netz von Karawanenstraßen, das China mit dem östlichen Mittelmeer verband, aber auch vom Schwarzen Meer bis nach Indien führte.

Trotz aller Vorbehalte gegenüber den zentralasiatischen Nachbarvölkern verlief der Austausch auf der Seidenstraße bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts und darüber hinaus in beide Richtungen und zwar auf eine Weise, die keinen starren Mustern folgte. Denn die Stämme der zentralasiatischen Steppe waren durchaus flexible Gebilde, in die Teilstämme und einzelne Familienverbände eingegliedert oder ausgeschieden werden konnten. Stämme konnten auch durch Verträge miteinander in eine verwandtschaftliche Beziehung gebracht werden. Trotz der Existenz von Hochkulturen am westlichen und östlichen Ende der Seidenstraße gab es keine einzelne Kultur, die den Raum der Seidenstraße dominiert hätte. Vielmehr zeichnete sich der Raum der Seidenstraße durch eine transkulturelle Koexistenz von Hochkulturen und Steppenreichen aus. Dieses Mit- und Nebeneinander war allerdings einem steten Wandel unterworfen, da die Geschichte der Nomadenreiche in Zentralasien durch ein relativ rasches Kommen und Gehen bestimmt war. Wenn der Krieg kein angemessenes Mittel war, mussten immer wieder aufs Neue Föderationen und Konföderationen geschlossen werden. Daraus entstand ein über Jahrhunderte hinweg stabiles Grundmuster für das Stammeswesen zentralasiatischen Typs.

Unter den Fremden, die während der Tang-Dynastie nach China kamen, waren im Norden Türken, Uighuren, Tocharer, Sogdier und Juden und im Süden eher Personen aus dem heutigen Vietnam (Cham-Kultur), Khmer, Javaner und Singhalesen anzutreffen. Der von den Arabern getragene Seehandel brachte zusätzlich zahlreiche Fremde von den südlichen Häfen her ins Land. Unter ihnen waren nicht wenige Buddhisten aus Indien, die allerdings auch früher schon sowohl auf dem See- als auch auf dem Landweg über Zentralasien in Scharen eingewandert waren. Im Norden wie im Süden waren viele Araber, Iraner und Inder, wobei der kulturelle Einfluss des Iran sich über die zentralasiatischen Steppenländern hinaus bis nach Ostasien erstreckte. Auch in Nordwestchina, der Mongolei und auf der koreanischen Halbinsel war er bemerkbar. Man kann ihn auf chinesischen Bildern oder bei Tonfiguren in so Alltäglichem wie der Mode ersehen. Auch religiöse Vorstellungen prägte er nachdrücklich. Die iranische Bevölkerung war so bedeutend, dass die Tang-Regierung sogar ein spezielles Büro für „die Sarthavak” (wörtlich, „die Karawanenführer”) einrichtete. Ganz allgemein sei festgestellt, dass die Fremden aus ihren Heimatländern ihre lokalen Produkte nach China brachten, aber auch ihre „barbarische” Lebensweise und dadurch die chinesische Kultur auf mannigfaltige Weise beeinflussten.

Polyphonie und Hybridität. Ich lege ein CD auf.

Wortblumen sind Sonnenblumen. Gastbeitrag von Günter Wohlfart

Dem Autor ganz herzlichen Dank für seinen Text. Dass wir nach einer gemeinsamen Tagung in Xi´an/ VR China, auf dem Flug von Beijing nach Frankfurt/ Main, nebeneinander saßen, hat unsere Beziehung langstreckentauglich gemacht . 

Zur Person:

Günter Wohlfart stellt sich im Klappentext seines Buchs Die Kunst des Lebens und andere Künste. Skurrile Skizzen zu einem euro-daoistischen Ethos ohne Moral (Berlin, Parerga Verlag, 2005) folgendermaßen selbst vor: „Der Verfasser (www.guenter-wohlfart.de) lebt als `emeritierter´ Ziegenhirtengehilfe in seiner Zweisiedelei in den südfranzösischen Bergen. Er hat sich als Weisheitslehrling auf den langen Weg vom ordentlichen Professor und Lehrmeister zum Lebemeister gemacht. Es kommt ihm darauf an, die philosophischen Wahrheiten in seiner eigenen Lebenspraxis wahr zu machen. Philosophie ist für ihn keine bloße Kopf-Akrobatik mehr, sondern die Kunst des Lebens – und des Sterbens. Da das Leben, wie es so spielt, eine todheitere Sache ist, gibt er seine Langnaseweisheiten über das Leben-und-Sterben-lernen zum Besten, ohne dabei als eulenernster Germane das Lachen zu verlieren, vor allem über sich selbst.“

In seinem Buch Der Punkt. Ästhetische Meditationen schreibt er: „Die furchtbarstillen Augenblicke des Schönen sind die Augenblicke vollendeten Lebens, die Augenblicke der Aufgabe des Lebens, in denen wir dem Blick des Todes begegnen. / Der furchtbare aber göttliche Augenblick des Schönen ist Moment der Stille. Das Licht des Blicks des Gottes fällt ins Wort.“ (Freiburg/ München: Verlag Karl Alber, 1986, S. 170)

Extrablatt

                       Das Schöne und das Göttliche

                                      Licht- Blicke

                                                                       „To men theo kala panta

                                                                         kai agatha…”               

                                                                         Vor Gott ist alles schön                   

                                                                         und gut…

                                                                         (Heraklit B 102)[1]

Alles schön und gut …

Ich beschränke mich hier mal aufs Schöne und wage                 

als hera-klitterndes Wittgensteinchen die Sage:                                              Schön ist alles was der Fall ist;

im Augen-Blitz des Gottes;                                                                             

im Augenblick des Göttlichen..

Confessio: Ich bin ein Adorant des Sonnengottes – helio-trop.                         Meine Wortblumen sind Sonnenblumen, tourne-sols.

Die Sonne verdreht mir den Kopf; fast wie dem Vincent.

Und ich bekenne: Ich sitze hier als Oinosoph in der Sierra Nevada bei meinem abendroten vino tinto, dem Tinten-Wein für Schreiber. Er ist

mein `sundowner` beim Sonnenuntergang.

Ich ergötze mich am dunkelroten Zwielicht der

Götterdämmerung; heliotische Epi-phanie, Nachschein des

Göttlichen.

Ja,ja – sonnenklar: „Le crépiscule excite les fous.“ (Baudelaire),

die Dämmerung verzückt die Verrückten, aber ein bißchen

verrückt müssen die Künstler ja sein. Da dämmert es ihnen, den

minervischen Nachteulen; crepusculum – miraculum.

Wie schon gesagt: Das platonische ekphanestaton, das

Hervorleuchtendste ist das plötzlich (exaiphnäs) Schöne.

Der schöne Schein ist diaphan, durchscheinend.

Das bunte Licht des erschreckend Schönen, des Natürlichsten,

Lebendigsten, wirft dunkle Schatten.                                                        

Motiv des Tödlichen. Nature morte.

Der schöne Schein ist schon Vorschein, das Hervorleuchtendste 

ist zugleich das `Heimleuchtendste`.                                                      

Letzte Blicke des Lichts der Welt in der Lichtung des Nichts –                   

für Spätheimkehrer.  

(Text aus: DIE WEISHEIT DER SCHNEEEULE. Poetisch-philosophisches Sammelsurium für komische Käuze. Ein Album, Günter Wohlfart. Der Uhu aus Tuchan, im Indianer-Sommer 2022, S. 130/ 131)


[1] Vgl. dazu weiter und breiter auch mein Bilder-Buch Kap. 2.2.5 Das Schöne – Heraklits Pankallismus.

Leere, Offenheit und das Weiß – Rotes Fluoreszieren und die Ewigkeit

Ohne  ins Freie gehen zu müssen, empfand ich bei der Lektüre von Günter Wohlfarts jüngstem Werk ein Vergnügen, das mir sonst nur von meinen ästhetischen Spaziergängen bekannt ist.

Seinem opusculum novum DIE WEISHEIT DER SCHNEEEULE. Poetisch-philosophisches Sammelsurium für komische Käuze. Ein Album, (Günter Wohlfart. Der Uhu aus Tuchan, im Indianer-Sommer 2022) stellt Wohlfart folgende Worte voran: „`Weisheit schreibt/ mit weißer Tinte auf weißes Papier´/ frei/ nach Henry de Montherlant“ und „Weiße Nacht/ Weißes Schweigen/ hab Acht!“ Frage: Ist das Weiß, das wir hier mehrmals erwähnt finden, identisch mit der Leere, von der Hans Balmes in seinem Kommentar zu meinem letzten Beitrag spricht? Balmes in seinem Kommentar: „ich stelle mir oft vor, chinesische Landschaftsbilder hätten die leere Wand im Hintergrund der Gemälde von Vermeer inspiriert.“ Er zitiert ein Vermeer-Gedicht von Tomas Tranströmer, in dem es u.a. heißt: „Und die Leere kehrt uns ihr Gesicht zu/ und flüstert:/ `Ich bin nicht leer, ich bin offen´“.

Leere, Offenheit und das Weiß

Die Bilder des Delfter Malers Jan Vermeer bestechen durch ihre Wirklichkeitsnähe. Auf dem Bild „Eine Straße in Delft“ sind die offenen und die ausgebesserten Risse im Gemäuer der Häuser zu sehen. Vermeer setzt die Geometrie der tatsächlich verlaufenden Senkrechten, der Wagerechten und Diagonalen zum Aufbau seines Bildes ein. Beim Betrachten des Bildes erleben wir, wie die Zurückhaltung zum Bildmotiv wird. Sie findet ihre  Entsprechung, ihren Ausdruck, in einem gedämpften Licht und einer herabgestimmten Farbigkeit. Und noch ein weiteres Beispiel. Als Vermeer sein Werk „Junge Frau mit Wasserkanne am Fenster“ malte, faszinierte ihn ganz offensichtlich das Licht der Grachtenstadt Delft. Das Bild ist ganz erfüllt davon. Heller Mittagsschein flutet durch das halb geöffnete Fenster. Selbst die Schatten im Winkel sind durchsichtig geworden. Die zarte und sorgsame Pinselführung formt die Gegenstände, insbesondere das Wasserbecken, durch Nuancen der Helligkeit. In einem lichterfüllten Werk wie diesem begegnen sich Leere, Offenheit und auch das Weiß.

Wie bei so vielen anderen Begegnungen macht den Reiz der von Balmes vorgestellten Begegnung zwischen Bildern des „Goldenen Jahrhunderts“ der holländischen Malerei und Bildern der chinesischen Tuschmalerei aus, dass diese, trotz aller Nähe, aus sehr unterschiedlichen Kontexten leben. Leere, Offenheit und das Weiß entfalten im Falle der Bilder Vermeers und den Bilder der chinesischen Tuschmalerei ihre Bedeutung in ganz unterschiedlichen Vorstellungswelten.

Auffallend ist, dass  Vermeer in seinen Werken der Stimmung der Vereinzelung – einer Erscheinung der Zeit – Ausdruck verleiht. Beim Betrachten von Bildern, auf denen zwei Personen zu sehen sind, werden wir häufig zu Zeugen eines Zusammentreffens von Individuen, die sich nicht wirklich austauschen; jedes von ihnen bleibt für sich. Im Falle des Bildes „Junge Frau mit Wasserkanne am Fenster“, auf dem nur ein Individuum zu sehen ist, scheint die dargestellte Person nachdenklich und auf eine stille Weise in einer Betrachtung oder in einer Erinnerung versunken zu sein. Ganz offensichtlich besteht in diesem Fall ein natürliches Einverständnis zwischen der Frau und der ihr vertrauten Umwelt, während sich dieses in dem Miteinander von Menschen nicht richtig einstellen will. Gemalte Stille in beiden Fällen – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Ja, still sind auch die chinesischen Landschaftsbilder – aber dies, wie mir scheint, zuvorderst aus einem Grund, der sich der Abwesenheit von jeglicher Psychologie und aller konkreten soziohistorischen Bezüge verdankt. Im Unterschied zu den Werken Vermeers zeigt sich bei chinesischen Landschaftsbildern die Wirklichkeit nicht in der Enge von bürgerlichen Stuben, sondern in der Weite einer Welt, in der die Gesetze des Mikrokosmos denjenigen des Makrokosmos entsprechen. Wirklichkeit wird als ein Wirkgeschehen verstanden. Man könnte auch von einer Organisation des Wissens sprechen, für die nicht die Kontemplation in Zurückgezogenheit und Vereinzelung, sondern die kosmische Einbindung des einzelnen menschlichen Lebens entscheidend ist. Womit wir bei Fragen angelangt sind, die für meinen Blog von grundlegender Bedeutung sind: Finden die  „Ästhetischen Spaziergänge zwischen Ost und West“ nicht in völlig unterschiedlichen Lebens- und Erfahrungswelten statt? Gibt es gemeinsame Erfahrungen und, wenn ja, basieren sie nicht auf völlig unterschiedlich strukturierten Konzepten von Wirklichkeit, sodass sie doch wieder auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen sind?

Rotes Fluoreszieren und die Ewigkeit

Andreas Markus Simon verleiht in seinem Kommentar zu meinem letzten Text seiner Faszination Ausdruck, dass der Dichter Christian Bök in die DNA eines Bakteriums ein Gedicht codiert hat; wobei dieser DNA-Strang wiederum ein Protein erzeugt, in welchem seinerseits der Code eines weiteren Gedichts zu finden ist. Die genetische Veränderung bewirkt, wie Simon rekapituliert, dass das Bakterium rot fluoresziert: „Das ist schon sehr genial und gleichzeitig bizarr.“

Bei dem Ecoli-Bakterium, mit dem Bök den Vorgang durchgeführt hat, handelt es sich um ein Bakterium, das auch im menschlichen Darm vorkommt. Ziel des Projektes ist es jedoch, den Xenotext in ein Bakterium mit dem Namen Deinococcus radiodurans einzuarbeiten. Dieses Bakterium gilt als eine der widerstandsfähigsten Lebensformen. Es kann tausend Mal mehr radioaktive Strahlung aushalten als der Mensch. Sogar im leeren Raum des Weltalls kann es überleben. Gelingt Bök dieser letzte Schritt, hat er sein Ziel erreicht: Ein Gedicht zu schreiben, das selbst dann noch existiert, wenn der letzte Mensch verschwunden und die Sonne erloschen ist. Es wird gelesen und weitergeschrieben werden, und zwar in der Zellstruktur eines Bakeriums, das durch die gähnende Leere des Universums treibt.

Doch handelt es sich überhaupt noch um ein Gedicht, wenn kein Mensch mehr da ist, der es zu lesen vermag? „Rotes Fluoreszieren/ Rotes Schweigen/ hab Acht!“ – so dürfte in diesem Fall das Motto in Abwandlung des eingangs zitierten Satzes von Günter Wohlfart lauten. Wir bewegen uns bei Bök in einem posthumanen Zeitalter, in dem die Sonne erloschen ist und eine neue Form der Dichtung in Laboren und mithilfe von modernsten Technologien stattfindet. Leere und Offenheit haben hier einen Bezugsrahmen erhalten, in dem der Mensch und die verschiedenen Organisationsformen von menschlichem Leben nurmehr als Erinnerungen existieren. Sollte es der Fall sein, dass sich West und Ost erst dann verständnisvoll begegnen, wenn das posthumane Zeitalter erreicht ist? Bök wäre dann der neue Du Fu oder der neue Goethe?  

Das reine Bild

Der kanadische Dichter Christian Bök (geb. 1966) hat ein Gedicht geschrieben, das selbst dann noch existiert, wenn der letzte Mensch verschwunden und die Sonne erloschen ist. Es wird gelesen und weitergeschrieben in der Zellstruktur eines Bakteriums, das durch die gähnende Leere des Universums treibt. Dazu: Maximilian Hauptmann, „Der Xenotext. Schreiben, bis die Sonne erlischt“, in: alexandria. dein Magazin für Wissenschaft, Sommer/ Herbst 21, S. 48-53. Siehe auch: Christian Bök, The Xenotext: Book 1, 2015.

*

Schönheit und Naturgesetz finden wir miteinander aufs Beste in der traditionellen chinesischen Tuschmalerei vereint. Zum Beispiel scheint im Bild „Reisende zwischen Strömen und Bergen“ des songzeitlichen Malers Fan Kuan (ca. 960-ca. 1030 n.Chr.) Natur als ein Ort auf, an dem die Urenergie qi am Wirken ist. Das Bild zeigt aber auch, dass sich Natur nicht mit einer kompakten naturwissenschaftlichen Formel fassen lässt. Fan Kuan hat das Bild „Reisende zwischen Strömen und Bergen“ so komponiert, dass der Betrachter seiner selbst und seiner Stellung in der Welt, dem Kosmos, bewusst wird. Und er erkennt auch, dass das Bild nicht nur ein Bild ist, sondern eine ganz eigene Wirklichkeit bedeutet, deren Bestandteil er ist. Das reine Bild.    

Natur-Sein

Natur im Chinesischen: Der chinesischen Naturanschauung liegt ein Prozess zugrunde, der zu einer wechselseitigen Durchdringung des Gegenständlichen mit dem Geistigen und der Innen- mit der Außenwelt führt. Er ist in der kulturellen Praxis Chinas fest verankert. Eine ganze Kultur lebt von einem Naturbegriff, der mit den Mitteln der Poesie, Literatur, Malerei, Kalligrafie und Musik verewigt wurde und mit einer Fülle von Assoziationen verbunden ist. In diesem Naturraum, der zugleich ein Raum wahrer Kultur ist, können die Menschen Zuflucht finden, wenn die Grundlagen ihres geistigen und seelischen Lebens bedroht werden. Unter den Gegebenheiten einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die ihren ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt, stellt die Natur einen Rückzugsort, aber auch einen Ort des Gegenentwurfs dar, in dem der Mensch zu der wahren Form des Seins findet (am Schluss dieser Ausführungen bezeichne ich sie als „Natur-Sein“). Hier bewahrt der Mensch, wie es im Buch XXIII des Zhuangzi, Kapitel 2, „Innerlichkeit“ heißt, „das Dauernde“: „Wer das Dauernde erreicht hat, von dem fällt das Menschliche ab, und das Himmlische hilft ihm. Von wem das Menschliche abfällt, der gehört zum Reich des Himmels; wem das Himmlische hilft, der heißt Sohn des Himmels“. Und: „Wer sein Gesetz im eigenen Inneren hat, der wandelt in Verborgenheit“.  

In dem von Wolfgang Kubin übersetzten Gedichtband Zurück in die Gärten des 1964 geborenen Dichters Zhao Ye finden wir das 4. Gedicht eines mit „Der Fluß“ überschriebenen Zyklus von insgesamt vier Gedichten:

Ich sehe den Fluß fließen.

In mir waltet große Freude,

doch unaussprechlich.

Nach ihrem Weg durch die Schatten der Sonne

verharren die Vögel still in der Luft.

Ich entledige mich meines Leibes, möchte nichts als Blüte sein.

Möchte friedlich gehen, freudig kommen.

Ich bin gewatet durch alle Flußläufe

und habe diese Sandbank erwählt.

Da bette ich mein Haupt auf Kieselsteine.

Im Abend werde ich schlafen, tief und fest.

Die Ideale von Zhao Ye sind: „ein Schreiben als rein individuelle Angelegenheit“, „ein Leben zur Nördlichen Song-Zeit (960-1127)“, „das ästhetische Vergnügen, welches eine Agrargesellschaft bietet“ und „das moderne Gedicht in klassischer Traditon“ (Zhao Ye, Zurück in die Gärten, Gedichte. Aus dem Chinesischen von Wolfgang Kubin. Mit Federzeichnungen von Christian Thanhäuser. Ottensheim/ Donau: Edition Thanhäuser, 2012, Gedicht: S. 13, Zitat: S. 71) Nicht im Jenseits sieht Zhao Ye – wie auch Zhuangzi – das Himmlische, sondern im Hiesigen, in der Natur und natürlich auch in den Dichtern. Nein, an eine höhere Instanz als sich selbst glaubt dieser Dichter nicht. Natur-Sein.

Aber wer geht, findet kein Ende

In einem von Thomas Bernhard für die Salzburger Festspiele geschriebenen Theaterstück war vorgesehen, für einen kurzen Augenblick totale Finsternis eintreten zu lassen. Dagegen standen jedoch die Sicherheitsvorkehrungen des Theaters, nach denen die Notbeleuchtung unter keinen Umständen gelöscht werden dürfe. Das Tauziehen zwischen Thomas Bernhard und dem Amt für öffentliche Sicherheit endete zunächst im Entschluss des Autors, das Stück zurückzuziehen. Die Pointe dieser Geschichte besteht natürlich in der Vorführung der Tatsache, dass a) totale Finsternis, auch nur für die geringste Zeit, unter gesellschaftlichen Bedingungen nur schwer möglich ist, und dass b) Sinn und Zweck einer Demonstration darin bestehen kann, dass sie schon gleich gar nicht zustande kommt. Hat das etwas mit dem „Gehen“ und dem „Denken“, die Thomas Bernhard ineinssetzt, zu tun? Ja, wenn man wie Bernhard (oder auch Judith Hermann oder so mancher Spaziergänger) davon überzeugt ist, dass nichts stimmt, aber alles wahr ist und die totale Finsternis ein guter Augenblick dafür ist, dies aufzuzeigen. 

In seinem Buch „Gehen“ treibt Thomas Bernhard die philosophische Verspottung des Philosophierens auf seine Spitze. Im Laufe der Erzählung wird dem Leser klar, dass es nirgendwo einen Punkt gibt, an dem man stehenbleiben könnte. Es wiederholt sich die Erfahrung, dass überall Fragen auftauchen, die unbeantwortbar, weil unabschließbar sind. So wird das Denken zu jener Verrücktheit, für die die Gesellschaft nichts anderes als geschlossene Anstalten übrig hat. Diejenigen, die sich in diesen Anstalten befinden, sind nur dadurch von denjenigen, die sich außerhalb der Anstalten befinden, unterschieden, dass sie ins „Gehen“, d.h. ins Denken geraten sind.  Über die Trostlosigkeit ihrer Situation bringt sie nur der trotzige Hohn hinweg, mit dem sie diejenigen persiflieren, die sich einer frivolen Philosophie der Sicherheit hingeben. Thomas Bernhard ist fürs Denken, fürs „Gehen“. „Gehen“ ist besser als Stehenbleiben; aber wer geht, findet kein Ende.

Claus Peymann, der Regisseur vieler Stücke von Thomas Bernhard, feierte jüngst seinen 85. Geburtstag in einem grünen Idyll zwischen Wald, Villen und Seen im Südosten Berlins. In der Luft Vogelgezwitscher und der lässige Swing zweier Live-Musiler, am Abend ergänzt um Stechmücken, Lampions und Fackeln. Der Jubilar selbst wie auch die Gäste schienen unbelastet durch die Absurdität, in die der Mensch nach Thomas Bernhard dadurch verstrickt ist, dass er als denkendes Wesen in eine nicht zu denkende gesellschaftliche Wirklichkeit versetzt ist, d.h. in eine Umgebung, die mit seinem Wesen in keiner Weise korrespondiert.

*

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern meiner Texte erfüllte Sommertage, in denen keiner von ihnen in den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Denken und Sein gerät – die absolute Differenz, die vollendete Feindschaft möge Ihnen erspart bleiben. Kommen Sie „gehend“ zumindest in der Ferienzeit gut in die Wirklichkeit zurück. In der Erzählung „Gehen“ von Thomas Bernhard heißt es: „Wenn wir einen Gehenden genau beobachten, wissen wir auch, wie er denkt. Wenn wir einen Denkenden genau beobachten, wissen wir auch, wie er geht. Wir beobachten einen Gehenden längere Zeit auf das genaueste und kommen nach und nach auf sein Denken, auf die Struktur seines Denkens, wie wir, wenn wir einen Menschen längere Zeit beobachten, wie er denkt, nach und nach darauf kommen, wie er geht. Beobachte also längere Zeit einen Denkenden und beobachte dann, wie er geht, umgekehrt, beobachte längere Zeit einen Gehenden und beobachte dann, wie er denkt.“

Am 16. August 2022 hören Sie wieder von mir. Ich bitte sie zu notieren: Danach werde ich weiterhin 14-tägig am Dienstag der jeweiligen Woche unter <aesthetische-spaziergaenge.de> einen Text ins Netz stellen. Allerdings werde ich Sie/ Euch dann nicht mehr jedesmal darüber benachrichtigen.

Prägnanz und Bildhaftigkeit

„Die Welt jungschauen und junghören, auch im Altern“ (Handke in einem seiner Tagebücher).

Eine ganz spezifische Form des Jungschauens und Junghörens von Welt stellt das Haiku dar. Das Haiku ist mit siebzehn Silben (5+7+5) wohl die kürzeste Lyrikform der Welt und weckt in dieser höchst komprimierten Form die anfänglichsten Wirkungen und Kräfte der Worte. Kein Göttergrollen, sondern „fuga“, die ästhetische Anmut. In wenigen Worten ist unendlich viel enthalten: Nicht nur das, was da geschrieben steht, sondern das ganze Wesen des Verfassers, die Welt, in der er lebt, und die Natur, mit der er vereint sein will, sollen sinnbildlich ausgedrückt werden. Bewandert zu sein – das ist der Punkt.

Heinrich Geiger, 31.05.2022

GASTBEITRAG

Hubertus Thum

Am Rand des Schweigens. Lyrik des Ostens als neues Genre der westlichen Literatur?

Ob chinesische Vierzeiler der Tang-Zeit oder klassisches japanisches Haiku – fernöstliche Lyrik ist bei Sinologen und Japanologen wegen ihrer außergewöhnlichen Prägnanz und Bildhaftigkeit berühmt. Gelegentliche Veröffentlichungen von Übersetzungen für ein breiteres Publikum, in Deutschland etwa Günther Debons schon länger zurückliegende Anthologie „Mein Haus liegt menschenfern“, haben chinesische Lyrik auch außerhalb der Fachwissenschaft bekannt gemacht und ihr einen Kreis interessierter Leser und Liebhaber erschlossen.

Anders beim Haiku. In den letzten fünf oder sechs Jahrzehnten hat es, beginnend mit der Veröffentlichung der vierbändigen englischen Anthologie von R. H. Blyth (1952), weltweit nicht nur viele Übersetzer und Leser gefunden, sondern zahlreiche Freunde, die sich auch als Schreibende in ihrer Muttersprache daran versuchen. Einen Moment, den Goethe vielleicht als „Augenblick der Ewigkeit“ begriffen hätte, in maximal siebzehn Silben zu fassen (der chinesische Vierzeiler bringt es immerhin auf zwanzig Schriftzeichen oder Wörter), ist offenbar eine reizvolle Herausforderung an die sprachlichen Fähigkeiten des Verfassers. Denn beim „kürzesten Gedicht der Weltliteratur“ ist äußerste Ökonomie der Sprache gefragt, ohne damit das Textverständnis zu unterlaufen, eine Gratwanderung, die Antoine de Saint-Exupéry treffend in den folgenden Satz gekleidet hat: „Ein Text ist nicht dann vollkommen, wenn man nichts mehr hinzufügen, sondern nichts mehr weglassen kann.“

Neue Einsichten haben das Haiku zudem von ursprünglichen Dogmen und literarischen Zwängen befreit. In westlichen Sprachen bewegt sich die Anzahl der Silben heute überwiegend zwischen 11 und 17, die Auffassung als reines Naturgedicht ist weggefallen. Wir im Abendland – und viele Japaner – schreiben in freien Formen und Rhythmen. Ob der Name Haiku für diese Gedichte noch angemessen ist, bleibt selbst in Japan eine offene Frage. Vermutlich sollten sie unter dem Namen „Kurzgedicht, poetische Miniatur“ oder „Mikrogramm“ als selbstständiges Genre geführt und betrachtet werden. Tatsache ist: Immer mehr Menschen aus Ost und West entdecken im Bewusstseinsstrom des Alltags poetische Bilder, Gefühle und Gedanken, die es wert sind, von ihnen festgehalten zu werden. Gerd Börner, Michael Denhoff und Hubertus Thum haben unter ihrer Netzpräsenz www.haikuscope.de zahlreiche klassische und zeitgenössische Beispiele gesammelt und veröffentlicht. Die Plattform verzeichnete im Jahr 2021 über 44 000 Besuche; dabei wurden nahezu 226 000 Seiten aufgerufen.

Stadt- und Klangräume. Gastbeitrag von Christian Stelzer

Für Xiong´an, eine neue Ökostadt 120 Kilometer südlich von Peking, plant der Spanier Vicente Guallart (ehemaliger Chefarchitekt von Barcelona) eine Siedlung mit einer durchgängigen urbanen Kreislaufwirtschaft. Das am Computer entworfene Modellprojekt Xiong´an basiert auf dem Leitbild einer Stadt der kurzen Wege, in der Menschen die meisten Ziele zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen. Dieses Ziel haben sich auch die Stadtplaner vieler europäischer Städte gesetzt. In Kopenhagen und Oslo wurden Autos bereits Schritt für Schritt aus dem Stadtzentrum verbannt. In Paris sollen bis 2024 rund 650 Kilometer neue Radwege dazukommen. Und in Japan baut Toyota am Fuß des Mount Fuji mit „Woven City“ gerade eine Laborstadt für ForscherInnen und MitarbeiterInnen des Unternehmens, in der Menschen, Gebäude und Fahrzeuge miteinander in einem vollständig vernetzten System verbunden sind. Im Untergrund fließen Daten, Strom und Wasser, aber auch Wasserstoff. Vorreiter solcher Smart Cities war Panasonic. Das Unternehmen wird 2022 in der Nähe von Osaka bereits eine dritte Modellstadt vorstellen. Zusammen mit den Bewohnern und Partnerfirmen untersucht der Konzern in seinen Laborstädten die Anwendung neuer digitaler Techniken in realer Umgebung. Mit der Digitalisierung besteht allerdings die Gefahr, dass nach der autogerechten Stadt mit der Smart City ein weiteres Mal ein technikgetriebenes Leitbild das menschliche Lebensumfeld in den Hintergrund drängt.

Was macht eine lebenswerte Stadt aus? Genügt es, wenn sie reibungslos funktioniert – mit fließendem Verkehr, sauberer Luft, wenig Lärm, viel Grün?

Stadtplanung ist kein einfaches, unkontroverses oder konfliktfreies Unterfangen. Soziokulturelle und ökologische, technokratische und ökonomische Aspekte müssen gleichermaßen Berücksichtigung finden. Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass die Stadt ein Ort sein kann, der viele Menschen aus unterschiedlichen Kulturen auf eine bereichernde Art und Weise miteinander wohnen lässt. Wir wissen aber auch, dass das Gegenteil der Fall sein kann. Allzu deutlich ist, dass die Technik es im Moment (und wohl nie) schafft, zufällige Begegnungen, die für das kulturelle Miteinander unerlässlich sind, zu reproduzieren. Nähe und Ferne, Distanzpositionen, Interdependenzen: ohne Gespräch eine zerfallende Welt. Meines Erachtens ist die Parkbank der Testfall für eine lebendige Stadt. Ist überhaupt noch jemand bereit, sich auf eine zu setzen oder zerlegt er/ sie sie gleich in ihre Einzelteile?

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Ich erinnere mich voller Freude an die gemeinsamen Stadterkundungen mit Christian Stelzer, von dem der heutige Gastbeitrag stammt. Ich habe dabei Achtsamkeit gelernt. Stadtplanung im Sinne von Komplettregulierung, Durchdigitalisierung und Bezugnahme auf menschliche Universalien, die in einer Smart City auf das Maß der Masse hochgerechnet werden können – niemals wären uns solche Gedanken bei unseren gemeinsamen Spaziergängen in den Sinn gekommen.

Der Begriff der „Masse“ gefällt mir überhaupt nicht. Er klingt nach Faschismus und Krieg. Menschen und ihre Kulturen sind unglaublich divers. Stehenbleiben, verweilen, sich umsehen, hören, sich selbst verorten und anderen Menschen ihren Platz lassen – damit wird man diesem Faktum gerecht. Manchmal ganz lange an einem bestimmten Ort oder in einem bestimmten Raum verbleiben; ganz ohne benennbaren Grund; losgelöst von Gedanken an Modellprojekte; vielleicht Blicke oder auch Worte austauschend; vielleicht aber auch gar nichts. Wenn dann zum richtigen Zeitpunkt an einem bestimmten Ort Musik erklingt, dann stellt der Flaneur unter Beweis, dass er nicht nur Ausdauer im Gehen, sondern auch im Sitzen hat.

Heinrich Geiger, 17.05.2022

GASTBEITRAG

Spaziergänge in West…

Vorwort

Heinrich Geigers Blogeinträge und verschiedene Gastbeiträge lesen wir mit Interesse. Seit unseren Hamburger-Zeiten Anfang der 80-er Jahre befreundet, tauschen wir uns von Zürich nach Bonn und umgekehrt über all die Jahre immer wieder in freundschaftlicher Verbundenheit aus. Seiner Aufforderung komme ich gerne nach und versuche ein paar Gedanken zu Papier zu bringen.

Allerdings: Angesichts eines brutalen, menschenverachtenden und zerstörerischen Krieges in der Ukraine und vor dem Hintergrund wachsender nationalistischer und populistischer Tendenzen in Europa, auch zunehmender Judenfeindlichkeit und immer grösser werdender Flüchtlingsströme, bin ich hin und her gerissen und sehr verunsichert, ob ich mich mit kritischen Gedanken,  Wahrnehmungen und eigenen Betrachtungen überhaupt beschäftigen darf.

Als Architekt habe ich mich ein Arbeitsleben lang mit Räumen beschäftigt, als engagierter Musikant mit Raumklang und als Mediator mit verschiedensten Wahrnehmungen der Welt. Dies allerdings ausschliesslich im Westen – die östliche Welt ist mir selber weitgehend fremd und so bewegen sich meine physischen und gedanklichen „Spaziergänge“ ausschliesslich in der westlichen Welt.

Stadtspaziergänge

Unlängst, auf einem Spaziergang in Hamburg, durch die wunderschön renovierten „Stadthöfe“, lese ich an einer Wand: „Flanieren ist eine Art Lektüre der Strasse“. Wie wahr, denke ich, und nehme spazierend diese sehr sorgfältig aufgearbeiteten baulichen Zeugen aus einer anderen Epoche wahr. Eine kleine Reise durch die Geschichte. In der Langsamkeit des Spazierens – oder eben des Flanierens – liegt eine ganz eigene Qualität. Indem ich mich bewege, nehme ich Räume erst wahr und habe die Muße, meinen Gedanken dabei freien Lauf zu lassen.

In der Hafencity, diesem in absoluter Rekordzeit hochgezogenen neuen Stadtteil in Hamburg, stehen alte Hafenkräne am Quai des Baakenhafens. Sie begleiten die neuen Luxuswohnbauten und erinnern an die frühere Nutzung und Bedeutung dieses Ortes. Ich schlendere daran vorbei, unter einigen hindurch, und werde mir bewusst, wie anders das Leben für die Menschen gewesen sein muss, die hier hart gearbeitet und eben nicht so exklusiv und luxuriös gewohnt haben. Als Stadtwanderer wird Geschichte lebendig, lassen sich Räume wahrnehmen und Geschichte erahnen.

Architekt(o)ur

Ein Gang durch die neue Kunsthauserweiterung von David Chipperfield Architects in Zürich löst Beklemmung aus: Wie wuchtig steht dieser „Mocken“ als grosses Gebäude an der Strasse, wie unsensibel die allseitig gleiche Fassade. Keine horizontale Teilung in Sockel-, Mittelbereich und oberem Abschluss. Ohne stadträumlichen Bezug zu den beiden bestehenden Kunsthausbauten  auf der gegenüberliegenden Strassenseite. Wie hilflos die paar Stühlchen und Tischchen entlang der Wand vor der Bar im Erdgeschoss. Und im Innern: Eine riesenmäßige Halle, mit Großtafelschalungen aus Beton gegossen. Den Blick in den dahinterliegenden Garten versperrt durch eine wuchtige, breite Treppe. Voluminöse Brüstungen und Übergänge, die beiden Seiten dieses Kunstbunkers verbindend. Ich stehe verloren in der grossen Halle und weiss nicht, in welche Richtung ich mich bewegen soll. Orientierungs- und richtungslos – Abbild einer allgemeinen Verunsicherung in unserer Zeit?

Wie raffiniert dagegen das Museum für angewandte Kunst in Frankfurt am Main von Architekt Richard Meier aus den 80-er Jahren: Schon beim Eintritt in dieses feine Haus geht mein Blick, vom natürlichen Licht geführt, in Richtung Rampe, die mich einlädt auf einen Rund-Gang, mit raffinierten Durchblicken, mit Ausblicken, mit räumlichen Querbezügen und mit Blickführungen auf ausgestellte Werke. Und wie sensibel der Umgang mit der alten Villa auf dem Grundstück, deren Grundmasse für den Entwurf bestimmend waren und mit der das neue Haus im Dialog steht.

In dieser Architektur darf ich mich bewegen, kann atmen – sie tut der Seele gut.

In der europäischen Architektur meine ich seit einigen Jahren eine Tendenz festzustellen: Weg vom differenzierten, räumlich anspruchsvollen städtebaulichen Entwurf, hin zu einfach und schnell erklärten Verhältnissen. Weg vom Aufeinander- Zugehen, weg vom Dialog zwischen den gebauten Protagonisten und hin zu möglichst simplen, plakativen und autistischen Lösungen. Eine Analogie zur politischen Entwicklung unserer Zeit? Ist diese Welt so komplex und kompliziert geworden, dass viele sich nach (vermeintlich) einfachen und schnell verständlichen Erklärungen sehnen? – Machthungrige Populisten haben einfaches Spiel.

Klangraum

Neulich in der St. Michaelis Kirche in Hamburg: Wieder einmal ein Orgelkonzert in diesem wunderbaren Kirchenraum! Ein herrliches Instrument, grossartiges Präludium und Fuge von J.S. Bach. Meine Gedanken kreisen, bewegen sich und Raum, Klang und Zeit kommen zusammen, werden Eins. Und irgendwann tut sich – nur ein ganz klein wenig – für mich der Himmel auf. Dieser Zustand des, wie ich es nenne, „nicht mehr“ und gleichzeitig des „noch nicht“ ist beglückend und macht mir einmal mehr bewusst, dass wir Wanderer und flüchtige Gäste auf diesem wunderbaren Planeten sind. Geschenkte Zeit! Wir sollten sie Sinn- voll und umsichtig nutzen – und unserem Planeten Sorge tragen.

Nachtrag

  • Viktor Orban vom ungarischen Bürgerbund ist in Ungarn Anfang April zum wiederholten Mal und mit deutlichem Mehr als Ministerpräsident gewählt worden.
  • In Serbien wurde der national- konservative Aleksander Vucic im April als Präsident deutlich bestätigt.
  • Im Wahlkampf in Frankreich rückt Marie Le Pen vom „Rassembement National“ bedrohlich in die Nähe von Noch- Präsident Emanuel Macron. Es bleibt der zweite Wahlgang Ende April abzuwarten. Ausgang offen.

Christian Stelzer, Zürich /  12.04.2022

Christian Stelzer

Geboren und aufgewachsen in Zürich. Architekturstudium an der ETHZ (eidg. Techn. Hochschule Zürich) und später, berufsbegleitend Ausbildung zum Mediator. Erste Berufsjahre in Hamburg. Von 1985 bis 2017 in verschiedener Tätigkeit als Architekt, Projekt- und Teamleiter sowie als Bauherrenvertretung bei privaten und öffentlichen Bauträgern in Zürich tätig. Seit 2017 selbständig mit eigener Firma in den Bereichen Baumanagement und Mediation (www.stelzer-meba.ch). Die aktive Beschäftigung mit Musik (Querflöte/ Kammermusik) ist wertvoller Ausgleich zur beruflichen Tätigkeit.

Inmitten der Musik

Mit einer besonderen Form der Erinnerung haben wir es bei dem Beitrag des 1955 in Ahaus/ Westfalen und heute in Bonn lebenden Komponisten und Instrumentalisten (Campanula, Cello) Michael Denhoff zu tun. Es ist die Erinnerung an eine musikalische Entwicklung, die aus „Energiekonserven“ (Aby Warburg) lebt. Sie reicht weit in die ersten Lebensjahre Michael Denhoffs zurück. Ihr Verlauf lässt sich nur sehr ungenau mit dem Begriff des „Wegs“ fassen, da es ja nicht um eine eindeutige Entwicklungsschiene oder -linie geht, wie wir gleich noch erfahren werden. Vielmehr geht es um das Nachwirken von prägenden Erlebnissen, die, wie es bei einem Musiker nicht überrascht, akustischer und zwischenmenschlicher Natur sind. Für meine ästhetischen Spaziergänge ist relevant, dass Denhoff sich „inmitten der Klänge“ bewegt und zum Beispiel mit seiner Komposition Circula el tiempo aus dem Jahr 1994 eine scheinbar zeitgedehnte und in den Raum geweitete Klangwelt beschwört. Bei dieser Komposition handelt es sich um eine Musik, die auf ihre Art „die Temperaturen des Erlebens von Zeit, die vielfachen Dimensionen von Ton und Farbe, die Aspekte sensiblen Hineinhorchens in Klänge und deren Gegenbild, die Stille, beleuchtet.“ (Zitat Michael Denhoff. Booklet zur CD Campanula. Michael Denhoff spielt Werke von Blumenthaler, Bach, Denhoff, Kurtág, Zimmermann, Erkrath: CYBELE, 1995). Dem Werk steht als Motto eine Gedichtstrophe von Jorge Guillén voran: El instante,/ Pulsado, sonado sobre/ Tantas cuerdas,/ En susurro se recoge (Der Augenblick/ gepulst, getönt auf/ so vielen Saiten,/ nimmt sich zurück im Flüstern).

Circula el tiempo ist in meinen Augen eine Partitur für eine Situtation, die sich idealiter auch für einen oder mehrere ästhetische Spaziergänger einstellen kann. Das Stück ist so konzipiert, dass die Ausführenden (maximal 4 Personen) möglichst weit voneinander in einem „Klang-Rechteck“ um die Zuhörer herum positioniert sind. Idee ist, dass sich das farblich differenzierte Klanggeschehen möglichst kreisförmig im Raum entfalten kann. Jede/ Jeder der Ausführenden beginnt ihren/ seinen Part an einem unterschiedlichen Ausgangspunkt; über die beiden Raumdiagnolen in der Mitte des musikalischen Ablaufs nähern sich die Stimmen 1 und 3 bzw. 2 und 4, die nach exakt festgelegten Einsätzen metrisch unabhängig spielen und auf die schon klingenden Stimmen hörend reagieren, zu einem „Echo“ in schwebender Nähe an.

Heinrich Geiger, 02.05.22

Inmitten der Klänge

Meine ersten musikalischen Erlebnisse

Wer in einem Musikerhaushalt aufwächst – meine Eltern waren Schulmusiker –, für den ist Musik wohl so selbstverständlich wie Essen und Trinken. Soweit ich zurückdenken kann: es war immer Musik um mich herum.

Zu Hause wurde viel gesungen. Man erzählte mir später, ich habe das Sprechen erst nach dem Singen angefangen. Mit einem klobigen Grundig-Tonbandgerät, das mein Vater aus dem Schulbestand gelegentlich nach Hause mitbrachte, hielt er unser gemeinsames Singen fest.

Wenn ich diese Aufnahmen heute höre, bin ich gerührt von meiner klaren und hellen Kinderstimme, die schon mit zwei Jahren absolut intonationssicher war.

Regelmäßig versammelten sich bei meinem Vater abends drei seiner Freunde, um sich mit ihm zum schon sprichwörtlichen „Stillvergnügten Streichquartett“ zu formieren. Ich muß etwa drei Jahre alt gewesen sein, als mein Vater mir erstmals erlaubte, etwas länger wach zu bleiben, um bei ihrem Musizieren zuhören zu dürfen. Das war für mich ein ganz großes Ereignis! Im Schlafanzug saß ich inmitten der Musik, die vier Spieler um mich herum. Mein Vater spielte die Bratsche und schien der Spiritus rector zu sein, denn er legte die Noten auf. Gespielt wurde Haydn und Mozart. Ich war völlig überwältigt vom wundervollen Klang, der mich umgab, ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchströmte mich. Fortan durfte ich ziemlich regelmäßig zuhören, wenn man sich wieder zum gemeinsamen Quartettspiel traf.

Als der Cellist ein paar Jahre später als Finanzbeamter nach Frankfurt versetzt wurde und somit diese Position im Quartett neu besetzt werden mußte, sagte ich meinem Vater, ich wolle nun auch dieses Instrument erlernen, um dann die Cellostimme im Quartett zu übernehmen. Dazu ist es zwar nie gekommen, aber Cellist bin ich so geworden!

Noch heute, wenn ich Haydns „Quinten-Quartett“ oder Mozarts „Dissonanzen-Quartett“ höre, spiele oder unterrichte, stellt sich die Erinnerung an dieses wohl besonders prägende Kindheitserlebnis ein.

Noch ein weiteres, geradezu bestürzendes Erlebnis verbindet sich für mich mit der Gattung Streichquartett, der wohl vollkommensten Art musikalischen Denkens. Ich war damals zwölf oder dreizehn Jahre alt, hatte auf dem Klavier und dem Cello schon ein gewisses Können erreicht, hatte mittlerweile auch angefangen, zu komponieren und somit auch eine Vorstellung von den musikalischen Epochen, mit Begeisterung spielte ich vor allem Beethovens Sonatinen und die mich magisch anziehenden Stücke von Bela Bartók auf dem Klavier, die ich mit meinen eigenen Kompositions-Versuchen auch zu imitieren suchte, da bekam ich für meine damals schon stetig wachsende Schallplatten-Sammlung eine Single geschenkt, auf der Beethovens „Große Fuge“ vom Juillard-Quartett eingespielt war. Als ich diese Musik hörte, war ich schockiert: das sollte Beethoven sein?! Mein ganzes musikalisches Gebäude stürzte in sich zusammen, ich verstand die Welt nicht mehr. Ich war aufgewühlt, denn was ich da hörte, hatte nichts mit dem zu tun, was ich zuvor mit dem Namen Beethoven verband. Diese mir damals völlig unverständliche, mich aber in ihrer gestischen Wucht und mit ihren harmonischen Herbheiten spontan überwältigende Musik schien mir viel moderner als alles, was ich schon von Bartók kannte!

Dieses Hörerlebnis hat nachgewirkt wie kaum ein anderes. Immer wieder unternahm ich den Versuch, das Geheimnis dieser Partitur zu ergründen, hörend und analysierend. Erst mit dem 1. Satz meines 4. Streichquartetts (1988) konnte ich – so glaube ich – diesen nachhaltigen Eindruck selbst komponierend ‚abarbeiten’. Und noch heute entdecke ich bei jedem erneuten Studium der „Großen Fuge“ neue, mich elektrisierende Aspekte. Mit dieser Musik kann man an kein Ende kommen!

Michael Denhoff, Bonn im Mai 2012 (neu gesichtet anläßlich der Auff. des 1. Satzes meines 4. Streichquartetts in der Reihe WORTKANGRAUM am 14. Juli 2021)