V o r s p a n n
Heinrich Geiger, „GehBorgen“ im Blog „Ästhetische Spaziergänge“, 21.12.2021:
„Gehend weiche ich aus ins Reale, und hoffe in der Begegnung mit ihm wieder die Welten zu erschließen, die mir die Scheinwelten der Werber und Designer raubten.“
Wolfgang Runge, in einer Email vom 07.01.2022:
„Was ich unter dem „Realen“ verstehe? Als ich meinen Kommentar niederschrieb, war „real“ für mich, was außerhalb meiner selbst existiert und erfassbar ist, also nicht nur als gedankliches Konstrukt. Etwa ein Gegenstand oder ein in Wirklichkeit bestehendes Gesellschafts-, Regierungssystem, etwa das der VR China – im Gegensatz zum gedanklichen Konstrukt „Sozialismus“. Allerdings je länger ich darüber nachdenke, desto weniger befriedigt mich eine solche Gegenüberstellung. Denn jede Beschreibung des Realen ist eben auch eine Stilisierung.
Jetzt frage ich mich: Was ist für Sie das „Reale“ in das Sie „gehend“ ausweichen ? „
T e x t
„Was, wenn alles nur eine Illusion wäre und nichts existierte? Dann hätte ich für meinen Teppich eindeutig zu viel bezahlt“, befand einmal Woody Allen. Tatsächlich hätte er es beim Kauf des Teppichs ruhig versuchen sollen, einen Rabatt auszuhandeln, denn das Problem ist vielschichtig: Selbst wenn sein Teppich auch dann noch existiert, wenn er den Raum verlässt, dann ist doch nicht auszuschließen, dass er möglicherweise weder Form noch Farbe hat, wenn er gerade einmal nicht hinsieht. Denn schon seit Jahrzehnten gibt es gewisse Zweifel, ob die Dinge, die wir gerade nicht beobachten, wirklich jene Eigenschaften haben, welche wir im Falle einer Beobachtung an ihnen wahrnehmen. Freilich gilt das weniger für Teppiche als für Elementarteilchen, deren Verhalten durch die Quantentheorie, die uns den naiven Realismus ausgetrieben hat, beschrieben wird. An die Stelle des naiven ist der physikalische Realismus getreten – aber kann der alleinige Gültigkeit für sich beanspruchen?
Mit dem Buch „Warum es die Welt nicht gibt“ (Berlin: Ullstein Verlag, 2015, 271 Seiten) verunsichert ein Vertreter des sogenannten „Neuen Realismus“, der Bonner Philosoph Markus Gabriel, nicht nur Menschen wie Woody Allen, die einen Gegenstand wie einen Teppich für teures Geld erworben haben und sich deswegen nicht mit der Vorstellung abfinden wollen, dass er auf einer reinen Illusion beruht. Er fordert auch viele Kolleginnen und Kollegen innerhalb seiner Zunft zur Auseinandersetzung mit der Idee der Wirklichkeit heraus. Und dies mit Fragen, die schwerer nicht sein könnten und eng miteinander verknüpft sind: „Was ist das, was wir als Welt bezeichnen“, „Was nennen wir Wirklichkeit“, und „Können wir von dieser Wirklichkeit überhaupt eine verbindliche Vorstellung haben?“ Zur Entwarnung sei gesagt, dass Gabriel zumindest die Richtigkeit von Sätzen unter bestimmten Bedingungen anerkennt, was man auch wieder auf das Teppichbeispiel beziehen könnte. Er sagt: „Die Idee der Wirklichkeit ist an sich leer. Da ist an der Stelle nichts. Das heißt aber nicht, dass wir an dieser Stelle in unserer Gedankenwelt eingeschlossen wären. Wir sind schon da draußen. Aber sind wir so, wie unsere wahren Sätze es aussagen.“ Dass der Teppich, den Woody Allen als seinen eigenen bezeichnet, tatsächlich existiert, wäre weiterhin durch die Tatsache abgesichert, dass es „nicht Nichts gibt“. Gabriel spricht hier von der Lebenswirklichkeit, die es uns nahelegt, die Richtigkeit von Aussagen als „Tatsachen“ nicht zu bestreiten: „Wir müssen unsere theoretischen Folgerungsbeziehungen verankern dürfen in Sätzen, die wir normalerweise nicht bestreiten würden – außer wir sind wahnsinnig oder betreiben gerade eine bestimmte Form von Wissenschaft.“ Und weiter: „Unser Ausgangspunkt sind immer nur wir selbst“(Zitate aus: „“Die Idee der Wirklichkeit ist an sich leer“. Was ist der Unterschied zwischen einem Satz über einen Gegenstand und dem Gegenstand selbst? Ein Gespräch mit dem Philosophen Markus Gabriel, der heute auf der phil.Cologne auftritt“, in: Feuilleton der „Frankfurter Rundschau“, Dienstag, 2. Juni 2015, 71. Jhg., Nr. 125) Mit eigenen Worten würde ich es so formulieren: Unsere Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit ist das Wirklichste, was wir haben und nicht das, was wir losgelöst von uns als wirklich voraussetzen.
Bildlich gesprochen (ich verwende hier ein Bild, das John R. Searle in seinem Buch „Seeing Things as They Are. A Theory of perception“ anführt) nehmen wir also „Wirklichkeit“ nicht wie einen Film in einem Kino wahr, das wir nie verlassen haben und auch nie mehr verlassen werden. Folgt man Gabriel, dann sind alle Weltbilder falsch, weil sie unterstellen, dass es eine Welt gibt, von der wir uns ein Bild machen können. Anstelle von „Weltbildern“ gibt es „Sinnfelder“, „die sich in unendlichen Variationen unendlich vermehren“. (Siehe: „Warum es die Welt nicht gibt“, S. 126) Unter den Bedingungen der IT-Welt und deren „Virtual Reality“ ist allerdings, wie ich einwerfen möchte, die Bedeutung von „Sinnfeldern“ neu zu definieren – und zwar auf eine Weise, die es mir als Mensch nach wie vor ermöglicht, handelnd tätig zu werden. Ich gebe zu bedenken, dass eine Gesellschaft, die lediglich auf Partizipation ohne physische und persönliche Präsenz baut, sich auf dem Weg zu einer Phantom-Gesellschaft befindet.
Sherry Turkle, Psychologin am MIT, hat sich weltweit einen Namen mit ihren Studien über Mensch-Computer-Wechselwirkungen gemacht. Befragt nach einer bündigen Lagebeurteilung unserer digitalen Gesellschaft, antwortete sie in einem Interview: „Wir haben den Punkt erreicht, da Simuliertes nicht mehr als Zweitbestes gilt (….) Wir erleben die erste Generation, die mit der Simulation heranwächst und darin eine Tugend sieht; und die sich schwertut festzustellen, wo die Realität von der Simulation – oft auf unmerklich Weise – abweicht.“ (Eduard Kaeser, „Ich simuliere, also bin ich. Über die Notwendigkeit, Imaginäres und Reales auch im nicht ganz geheuren digitalen Alltag zu unterscheiden“, in: Feuilleton der NZZ, 19. Januar 2011, Nr. 15). Zu bedenken ist, dass Technik-Simulakren und Automaten den Menschen seit der Antike in ihren magischen Bann ziehen; dem Realen ist immer schon das Virtuelle oder das Imaginäre beigemischt. Da es häufig keine klare Scheidung zwischen dem Realen und dem Virtuellen gibt, übersteigt unser Vorstellungvermögen immer wieder die Grenzen der realen Situation. Das, was ist, erhält sein Würze nicht allzu selten durch das, was sein könnte – womit wir wieder, auf einer neuen Ebene, bei einem Begriff von Wirklichkeit wären, der erst dann „wirklich“ wird, wenn er sowohl die äußere Realität (Woody Allens Teppich) wie auch deren Wahrnehmung durch den Menschen umfasst.
Meinem Verständnis nach sind die geistige und die sprachliche Verfasstheit von Realität die zentralen Kriterien für das, was wir als „wirkliche Wirklichkeit“ bezeichnen. In ihr verschwinden die Grenzen zwischen einem Außen und einem Innen. Wird diesem Sachverhalt nicht Rechnung getragen, ist eine Verständigung über das, was wir ganz selbstverständlich als „Wirklichkeit“ bezeichnen, gerade im interkulturellen Kontext, nur sehr schwer möglich. In dem Klassiker „Zen-Buddhismus und Psychoanlayse“ von Erich Fromm, Deisetz Teitaro Suzuki und Richard de Martino aus dem Jahr 1971 (S. 129, 130) lesen wir: „Es ist ganz offenkundig, dass der Nachdruck, den die Sprache auf die verschiedenen Quellen legt, aus denen man eine Tatsache erfährt (…), einen großen Einfluss auf die Art hat, wie die Menschen die Tatsachen erleben.“ Vor diesem Hintergrund möchte ich dem Sozialismus, den Wolfgang Runge in seiner Email als „gedankliches Konstrukt“ bezeichnet, in der chinesischen Gesellschaft einen hohen Wirklichkeitsgrad zusprechen, insbesondere wenn es sich bei ihm um den „Sozialismus chinesischer Prägung“ handelt, den die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) propagiert. Inwieweit meine These richtig ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Ich würde mich freuen, wenn wir das Thema entweder in den Kommentaren oder in einem Text wieder aufgreifen könnten. Die Frage lautet: Ist die „wirkliche Wirklichkeit“ das, was wir meinen mit Händen greifen zu können, wie wir es uns normalerweise vorstellen? Oder geht es bei ihr nicht vielmehr um einen Kosmos von Vorstellungen, der nur in einem mittelbaren Bezug zu dem Greifbaren/ Sehbaren/ Erfahrbaren steht und sich in den Köpfen einzelner Menschen und im Konzert der Kulturen und Nationen völlig unterschiedlich Geltung verschafft? Muss vor diesem Hintergrund nicht unsere Begegnung mit China, das sich anschickt, dem Grenzbereich zwischen Realität und Simulation eine bisher noch nicht dagewesene realpolitische Dimension zu geben, neu gedacht werden? —— Zurück zum ästhetischen Spaziergang, der in diesem Kontext mehr alsnur l´art pour l´art ist.
Als Ästhetischer Spaziergänger, der ich mich zwischen Ost und West bewege, ist Wirklichkeit für mich nicht vorstellbar ohne die Einsicht, dass es keine „einzige begriffliche Ordnung, der sich alles fügen muss, was existiert“, gibt. („Warum es die Welt nicht gibt“, S. 235) Wie ich in meinem 2019 bei Matthes & Seitz erschienenen Buch „Den Duft hören. Natur, Naturbegriff und Umweltverhalten in China“ aufgezeigt habe, verhindert selbst ein so „realer“ Begriff wie derjenige der „Natur“ es nicht, dass die Gesprächspartner im interkulturellen Kontext über höchst unterschiedliche „Wirklichkeiten“ sprechen und so zu keinem gemeinsamen Handeln in Sachen Umwelt- und Klimaschutz finden. Hier zeigt sich, dass der Begriff der „Wirklichkeit“ im Plural gedacht werden muss. Wenn man sich der Mentalisierung der Welt bewusst geworden ist, entwöhnt man sich langsam ihrer eindimensionalen Festlegung. Man versteht dann nach und nach, dass „Wirklichkeit“ höchst unterschiedlich verstanden wird. Meiner Meinung nach ruft diese Einsicht nach der Kunst des ästhetischen Spaziergangs. Spaziert man, dann lassen sich komplexe Sachverhalte, die die Lebenswirklichkeit jedes einzelnen Menschen und verschiedener Kulturen auf je eigene Weise berühren, anders erfahren, anders offenlegen und dann auch anders erzählen. Der ästhetische Spaziergang, so wie ich ihn praktiziere, verdankt sich einer Realitätsleidenschaft, durch die Dynamiken unbewussten Wissens bewusst werden.
Dazu mehr in meinem Blog am 01.02.2022