Grußwort von Heinrich Geiger
Rebecca Solnit sieht in ihrem Buch „Wanderlust. Eine Geschichte des Gehens“ (S. 329) von allen Performances um das Thema Gehen einen Lauf auf der Chinesischen Mauer als die „dramatischte, ambitionierteste und extremste“ an. Der Titel der Perfomance lautet „Lovers“; ausgeführt wurde sie 1988 von Marina Abramovic´ und Ulay, deren Zusammenarbeit mit einer Reihe begann, der sie den Namen „Beziehungsarbeit“ gaben.
Was ein Flaneur ist, wurde bisher nie so richtig definiert. Wulf Noll, von dem drei Gastbeiträge in diesem Blog zu lesen waren, gibt uns in seinem 2019 erschienenen Buch „Drachenrausch. Flanieren in China“ Einblicke in die „psychische Realität eines Pluralisten“ (S. 107). Mit dem Begriff des „Pluralisten“ finde ich die Wesenszüge eines Spaziergängers bestens umschrieben. Aber auch Marc Hermann gibt uns einen wichtigen Hinweis, was ein Flaneur ist: Es handelt sich bei ihm um einen Menschen (ich möchte ihn als „Zeitgenossen“ bezeichnen), der an der Welt teilhat, sie „wirklich“ sieht – weswegen sie ihm auch zur „Umwelt“ wird. Ich freue mich sehr über seinen Beitrag, da er ins Offene führt; hinaus aus den Begrenzungen und Denkverboten, die uns identitäre Konzepte setzen .
Marc Hermann hat Germanistik, Philosophie und Sinologie in Kiel, Shanghai und Bonn studiert. Der Fachwelt ist er bekannt als langjähriger Redakteur der wissenschaftlichen Zeitschriften „minima sinica“ und „Orientierungen“ sowie als Dozent am Sinologischen Seminar der Universität Bonn. Er hat zwei Texte aus den „Ästhetischen Spaziergängen“ (meixue sanbu) Zong Baihuas übersetzt: „Der Ort des Schönen“ (mei cong hechu xun) und, zusammen mit Sebastian Gault „Der Ausdruck von Leere und Fülle in der chinesischen Kunst“(zhongguo biaoxian li de xu he shi). Die Übersetzungen finden sich in minima sinica 2/ 2004, S. 69-83 und minima sinica 2/ 2002, S. 104-115.
Marc Hermann
Gehen – als schweifendes Spaziergehen – führt immer ins Offene. Wer geht, panzert sich in keinem System ein, sondern öffnet sich für neue Eindrücke, Gedanken, Gefühle. Ist es ein Zufall, dass Nietzsche und de Montaigne leidenschaftliche Spaziergänger waren? Nietzsche mahnte bekanntlich, „keinem Gedanken Glauben zu schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung“; „das Sitzfleisch“ nannte er „die eigentliche Sünde wider den Heiligen Geist“. Und Montaigne erklärte: „Meine Gedanken schlafen ein, wenn ich sitze. Mein Geist geht nicht voran, wenn ich nicht meine Beine in Bewegung setze.“ Der wahre Spaziergänger – als der in keinem System Behauste – lebt deshalb jene fluide, in jeder Situation sich neu erfindende Weisheit, die François Jullien in seinem Buch Der Weise hängt an keiner Idee so schön als „das Andere der Philosophie“ beschrieben hat – ein Anderes, das in China viel wirkmächtiger als im Abendland gewesen ist.
Mit dieser Weisheit verbunden sind – wie auch Heinrich Geiger immer wieder beschrieben hat – die Einübung in das In-der-Welt-Sein und in die eigene Leiblichkeit. Das klingt nicht gerade nach viel, doch in Zeiten, in denen der Leib- und Weltverlust des modernen Menschen ein derartiges Ausmaß angenommen hat, dass sich jegliche sinnliche Präsenzerfahrung im Spiel der Konstrukte und Diskurse zu verflüchtigen droht – salopp gesagt: im endlosen Schwadronieren eines Intellekts, der nur noch um sich selbst kreist -, wäre damit tatsächlich unendlich viel gewonnen: nämlich ein Weltverhältnis, das nicht wie das vermeintlich autonome Subjekt früherer Zeiten auf Herrschaft zielt, sondern sich in Nähe, ja liebender Teilhabe an seiner Um- und Mitwelt erfüllt – oder, wie Peter Sloterdijk so schön gesagt hat, in der Teilhabe an „Sphären“ als gemeinsamen „Beseelungsräumen“.
Als „Erkenntnisgänger“ tut der Spaziergänger eigentlich nicht viel mehr als: sehen. Aber wirklich sehen – innerlich schweigend, achtsam, ganz der Welt geöffnet – ist (wie Krishnamurti gesagt hat) vielleicht das Schwerste, was es gibt.
Sind vertrocknete Blätter schön? Kommt drauf an, wie man sie betrachtet. Wenn ich einen Haufen davon im Garten zusammenreche, den mir der Wind aus dem benachbarten Wald hergeblasen hat, bin ich eher nicht erbaut.
Wenn ich mir ein einzelnes Blatt aufhebe, es mit ins Haus nehme und versuche, es zu aquarellieren, erschließt sich mir eine Natur voller absichtsloser Ästhetik, die mich mit Freude erfüllt und staunen lässt.
Es kommt immer auf die Umstände an, welche mich umgeben oder begleiten, wenn ich meine Gedanken auf etwas richte.
Lieber Herr Landspersky,
da bin ich völlig Ihrer Meinung. Der idealtypische Spaziergang, den ich mir in meinem Beitrag ausgemalt habe, zeichnet sich für mich nicht zuletzt dadurch aus, dass in ihm jedes Nutzenkalkül aufgehoben ist. Einem Gartenbesitzer fällt es (allein schon eben weil er „Besitzer“ ist) naturgemäß schwerer, eine solche Perspektive einzunehmen.