Innerlich – Äußerlich

Liebende

Zwölf Jahre lang bereisten Marina Abramović, die Nomadin unter den zeitgenössischen Künstlern, und Ulay Uwe Laysiepen gemeinsam die Welt und führten ihre Aktionen auf – etwa zu Themen wie Beziehung, Erschöpfung oder Erneuerung durch spirituelle Erfahrung in der Einsamkeit der Wüste. 1988 entwarfen sie das größte Kunstwerk ihrer Zusammenarbeit: „The Lovers – Walk on the Great Wall of China“.

Jeweils zweitausend Kilometer wollten sie auf der Chinesischen Mauer aufeinander zugehen, um sich in der Mitte zu treffen. Ulay startete in der Wüste Gobi, Marina Abramović am Gelben Meer. Drei Monate waren sie unterwegs, begleitet von Kunstkritikern und kommunistischen Aufpassern, ehe sie sich am 3. Juni wieder begegneten. An diesem Tag wollten sie ursprünglich heiraten, kann man heute bisweilen lesen. Nein, ihre Absicht sei es von Anfang an gewesen, korrigiert Marina Abramovic, sich an diesem Tag voneinander zu verabschieden und sich nie wieder zu sehen: Äußerlich aufeinander zugehen, innerlich sich voneinander trennen – sowie es dann tatsächlich auch geschah.

Marathon-Mönche

Während ihrer Ausbildung, und zwar  über einen Zeitraum von sieben Jahren, laufen sie oft um den Berg Hiei (auf der Grenze des nordöstlichen Stadtbezirks Sakyō-ku von Kyōto), dass die Strecke am Ende der des Erdumfangs entspricht. Äußerlich gehen sie auf niemanden zu, innerlich bilden sie mit allen Lebewesen eine Einheit.

Und ich

Bin gestern zum Einkaufen gelaufen. Irgendein Fahrer von irgendeinem PKW hupte an irgendeiner Ampel und rief bei offenem Fenster laut irgendein unflätiges Schimpfwort. War es an mich oder an eine andere Person gerichtet? Äußerlich ging dieser Irgendein auf niemanden zu, innerlich bildete er mit niemandem eine Einheit. Nach der Rückkehr blickte ich auf Seite 3 einer überregionalen deutschen Tageszeitung in das Gesicht eines Mannes, der sich für den größten aller Führer hält und derzeit tagtäglich Menschen umbringt und quält. Ich meine, eines agressives Hupen und ein hasserfülltes Geschrei zu vernehmen.

In vierzehn Tagen gehe ich auf die Konzepte von Mitte und Harmonie im Kontext des Gehens (China) ein. Danach erscheint dann wieder ein Gastbeitrag des von mir sehr geschätzten Flaneurs, Philosophen und Literaten Wulf Noll, der den Leserinnen und Lesern der „Ästhetischen Spaziergänge“ bereits gut bekannt ist.

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6 Kommentare

  1. Seit ewigen Zeiten denken die Menschen darüber nach, was Klugheit und was Dummheit ist. Das erinnert mich an folgende Episode: Als meine Tante mir einen Schreibtisch schenkte, sagte ich zu mir: „Auf geht’s, du setzt dich jetzt an diesen Tisch, und als Erstes formulierst du einen besonders klugen Gedanken.“ Doch einen besonders klugen Gedanken vermochte ich nicht zu formulieren. Da sagte ich mir: „Gut. Es ist mir nicht gelungen, einen besonders klugen Gedanken zu formulieren, dann formuliere ich eben einen besonders dummen.“
    Doch auch einen besonders dummen Gedanken konnte ich nicht formulieren.

    Daniil Charms (1905 St. Petersburg -1942 Leningrad)

  2. Sehr poetische Gedanken zum Spannungsverhältnis von Innerlichkeit und Äußerlichkeit! Vielen Dank für diese Inspiration.

  3. Was unterscheidet einen Marathonläufer von einem Marathon-Mönch? Was haben sie gemeinsam? Beide legen große Strecken zurück. Beide kommen dabei in eine Art Alltagstrance.
    Der eine geht kontemplativ, meditierend, barfuß oder in Sandalen, der andere läuft mehr oder weniger schnell in meist ziemlich teuren Laufschuhen und entsprechendem Outfit und sucht immer wieder den Vergleich mit anderen, z.B. bei Wettkämpfen.
    Ich habe auf diese Art läuferisch die Erde wohl eineinhalb Mal umrundet, oft in Gesprächen mit Gleichgesinnten. Bei den großen Events mit vielen tausend Teilnehmern bilden alle am Start so etwas wie eine Einheit, von außen betrachtet. Man redet miteinander, klatscht und hopst, meist begleitet von lärmender Musik und einpeitschenden Moderatoren. Innerlich ist jeder allein, bei sich, um sich für die Herausforderung zu wappnen, die ihn in physische und psychische Grenzbereiche führt. Jeder läuft für sich allein, auch wenn ihn sein Laufshirt einer Gruppe zuordnet. Innerlich bildet er/sie mit niemand eine Einheit.
    Und ich?
    Wenn ich meine Runde an der Ilz drehe, empfinde ich mich als ein Teil der Natur, denke nicht an Zerstörer und Völkermord. Nach dem Duschen fühle ich mich gut durchlüftet, wie ein Stück Wäsche, das in der Sonne getrocknet ist. Bei den Abendnachrichten holt mich die Wirklichkeit wieder ein.

  4. Das Gemeinte befriedigt mich nicht; es ist nicht sehr vernünftig, äußerlich aufeinander zuzugehen, um sich innerlich voneinander zu trennen. Auch das dritte Beispiel hinkt, mit niemandem eine Einheit zu bilden, lässt mich an Autismus oder an Leibniz‘ „fensterlose Monade“ denken. Ich bin nicht religiös, aber die „Marathon-Mönche“ sind besser drauf: „Äußerlich gehen sie auf niemanden zu, innerlich bilden sie mit allen Lebewesen eine Einheit.“ – In eine andere Richtung gedacht: Reisen im Äußeren können Reisen ins Innere sein und umgekehrt. Auch Handkes Konstrukt bzw. Buch „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ stimmt nachdenklich. Dazu findet man auf Google Books zwei kluge Sätze: „Jeder Satz hat eine Geschichte. Ergebnis ist, dass die satzweise Beschreibung der Außenwelt sich zugleich als Beschreibung der Innenwelt, des Bewusstseins des Autors erweist, und umgekehrt und wieder umgekehrt.“

  5. Ich denke, das Gemeinte kommt, auch wenn man unterschiedliche Ansichten hier anbringen kann, sehr deutlich durch: Es ist ein Gedankenspiel, inwiefern das Spirituelle oder Gedachte mit dem tatsächlich umgesetzten in Verbindung gesetzt werden kann. Und es wird klar, dass nur allzu viele Menschen den Kontakt zwischen ihrem Inneren und dem gemeinten Äußeren verloren haben. Bei dem Autofahrer kam nur sein Ego durch…

  6. Aufeinander zugehen in der festen Absicht, sich nach der Begegnung folgenlos und auf Dauer zu trennen – das ist (auch) mit meinen (zugegeben: westlichen) Vorstellungen von menschlichen Handeln nur schwer in Einklang zu bringen. Wenn ich vorher wusste, daß ich von einen Zusammentreffen mit dem Gegenüber nichts zu erwarten hatte, warum habe ich mich dann auf den Weg zu ihm gemacht? Aus Inkonsequenz oder Nachgiebigkeit gegenüber Anpassungsdruck? Wäre allenfalls entschuldbar. Als Selbstinszenierung? Mag bei Aktionskünstlern wie Abramovic und Laysiepen mit dazu gehören. Als Nichtkünstler, allenfalls Kunstbetrachtender, sollte (und werde) ich mir solche Exzentrik versagen.

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