Antworten

Der im letzten Blog veröffentlichte Beitrag von Anja M. Rommel fordert persönliche Stellungnahmen heraus. Sensibilität auf dem Sprung. Nachfolgend zwei Antworten, die beide aus biographischen Erfahrungen leben.

Antwort 1 (Thorsten Schirmer)

Liebe Frau Rommel,

„Überlieferung aus erster Hand“ meint ja bekanntermaßen im übertragenen Sinn das direkte Schöpfen aus der Quelle einer Überlieferung, die im Falle der Chan-Malerei in Ostasien verortet wird. Vor vielen Jahren hatte ich eine Ausstellung in New York, in die sich eher zufällig eine Gruppe deutscher Touristen verirrte. Als diese begann, sich angeregt über meine Werke auszutauschen, schaltete ich mich schließlich in die Unterhaltung ein, um ein paar Erklärungen zu dem Ursprung der Chan-Malerei beizusteuern. Als sich die Gruppe schließlich verabschiedete, blieb eine ältere Frau in der Tür stehen, dreht sich noch einmal zu mir um und sprach: „Ich finde Ihre Bilder ganz wunderbar, aber wenn ich mir so etwas kaufen wollte, dann nur aus erster Hand von einem ostasiatischen Künstler.“ Ich antwortete ihr, dass sie in Ostasien lange nach einem solchen Künstler suchen müsse, da ich niemanden kenne, der so malt wie ich. So verorten sich die Tuschespuren meiner Hand eben weder in Ost noch in West, sondern allein in mir. Und mehr noch: Aus Sicht des Chan gilt es zu erkennen, dass es überhaupt keine erste oder zweite Hand gibt, dass es kein Ich und also auch keinen Tod eines Ichs gibt, dass zwischen der Kontemplation im Sitzen oder im Liegen auch nicht der kleinste Unterschied besteht. Hakuin Ekaku (1686-1769), der zu den bedeutendsten Vertretern des japanischen Chan zählt, hat dies in seinem berühmten Gongan zum Ausdruck gebracht, das da lautet: „Horcht auf das Klatschen der einen Hand!“

Herzliche Grüße

Thorsten Schirmer

Antwort 2 (Heinrich Geiger)

Liebe Anja,

eigentlich fing alles gut an. Als ich im ersten Semester Sinologie und Chinesische Kunst und Archäologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München studierte, begegnete ich in den Räumen des Sinologischen Instituts immer wieder einem Asiaten, von dem ich bald schon erfuhr, dass er ein Auslandschinese aus Indonesien ist. In welchem Semester er studiert, interessierte mich nicht. Danach zu fragen, verbot allein schon der Geist, der damals in einem „Orchideenfach“ vorherrschte: Man studierte, vertiefte sich in Themen, ohne die Jahre zu zählen. Ich sprach ihn immer mit „Billy Eastfalia“ an. Ich meinte, diesen Namen bei einer Professorin des Sinologischen Instituts gehört zu haben. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass dieser Mann, der mich aufgrund seiner asiatischen Erscheinung faszinierte, „Billy Westfalia“ heißen könnte.

East and West: Das Unglaubliche geschah. Ich bemerkte, dass Billy nicht nur von manchen mit „Herr Westfalia“ angeredet wurde, sondern auch auf beides hörte: „Herr Eastfalia“ oder „Herr Westfalia“, beide Anreden nahm er mit völliger Regungslosigkeit entgegen. Er korrigierte den anderen nicht, er widersprach ihm nicht, versuchte nichts richtigzustellen. Billy wurde mir zu einem Vorbild. Bis zum heutigen Tage bin ich ihm dankbar dafür, dass er mich schon gleich zu Anfang meiner Laufbahn als Sinologe lehrte, die Unterscheidung zwischen East und West als völlig nebensächlich abzutun und nicht auf der identitären Differenz, die sich mit geografischen Zuschreibungen verbindet, zu bestehen. Gegenläufig zu den identitären Bestrebungen der jüngsten Zeit, ist mir das Spiel mit den Namen und mit den Identitäten zu einem wahren Vergnügen geworden.

Peter Handke proklamiert in seinem Buch Innere Dialoge an den Rändern (2022), sich vor der „Ideologiefalle Genauigkeit“ zu hüten. Stattdessen plädiert er für eine „Genauigkeit des Vagen“. Und brüsk richtet er sich gegen alle Anweisungen für ein zeitgemäßes Schreiben, die gleichermaßen für Romane wie für Reportagen gelten. Offensiv hält er dagegen, was die Literatur ausmacht: „Eine Klärung durch Rätselhaftigkeit, Rätselhaftwerden, Schleierhaftwerden“. Letzteres, das „Schleierhaftwerden“ ist für Handke geradezu ein Gütesiegel. Und damit ist der Bogen zurückgeschlagen zu „Billy Eastfalia“, der auch die Anrede „Billy Westfalia“ ohne Widerspruch entgegennahm, und dem Gedanken des „Zeitraumerblühens“. Nicht Zuweisungen, sondern Suchbewegungen in der Sprache, die von Sinnlichkeit, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit getragen sind, sind wichtig. Und, unsere Sympathien sollten den Randständigen und Sonderlingen, die sich unter Umständen auch keinem Studienplan fügen, gelten: den von Peter Handke vielfältig beschworenen Kaspar-Hauser-Figuren. Laut Handke ist das Epische, das Erzählen das Gegenteil von „Wissen“. Vom Wissen sein Leben zu bestreiten, nennt er „eine Art Tod“.

Billy bin ich leider nicht mehr begegnet. Auf meinen ästhetischen Spaziergängen ist er immer dabei. Da er im Rollstuhl saß/ sitzt, laufe ich langsam. Rücksicht ist nötig. Denn er muss ja sich und den Rollstuhl mit der Kraft seiner Arme vorwärtsbewegen.

Beste Grüße,

Heinrich

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