Identität – Nicht – Identität

Zum Thema der Begegnung mit sich selbst und mit anderen

Zwei Teile

Heinrich Geiger, Eine Begegnung mit einem Menschen mit einem verstümmelten Namen

Er stammt aus einer Gegend, aus der auch eine andere mir bekannte Person stammt. Ob ihm zu Zeiten des „Ostblocks“ sein Name ebenso polnifiziert wurde? Wurden ihm einfach auch die letzten Buchstaben seines deutschen Nachnamens gestrichen, damit er zu einem der ihren, wenn auch mit einem verstümmelten Namen, in einer Region wurde, deren Zugehörigkeit immer wieder wechselte? Ich habe ihn nicht danach gefragt, weil in unserem Gespräch kein Platz dafür war. Vielmehr hörte ich ihm gebannt zu, wie er mir von seinen beruflichen Träumen, die alle nichts mit seiner derzeitigen Tätigkeit zu tun haben, erzählte. Eigentlich habe er Maler werden wollen, und, wie er mir nur wenige Minuten danach sagte, würde ihn das  Musikmachen faszinieren, und, wiederum ein paar Minuten später, berichtete er mir von seiner Leidenschaft für Fremdsprachen. Ostasiatische Sprachen hätten ihn schon immer interessiert. Zumindest mit seinem letzten Interessensschwerpunkt war er bei mir genau richtig. In seinen überbordenden Vorstellungen zeigte sich mir eine Verbundenheit mit der Welt, so als würde das Leben direkt durch ihn strömen, jenseits der apokalyptischen Zukunftsbilder und im festen Bewusstsein um eine Vergangenheit, die mehr ist als Imperialismus, Ausbeutung, Unterdrückung und Vernichtung.  

Am vergangenen Samstag, es war der 16. September 2023, bin ich also einem Menschen begegnet, den, wie ich mein Erlebnis in Worte fassen möchte,  die Sehnsucht nach dem  Nicht-Identischen leitet. Er will sich nicht nur mit Berufskollegen treffen, sich nicht nur in Kneipen setzen, in denen er unter seinesgleichen ist, sondern er will sich für eine Welt öffnen, die völlig anders als seine derzeitige ist. Wem ich da begegnet bin und was da passiert ist ? – das kann ich nicht genau sagen. Aber die Begegnung mit ihm hat für mich einen geheimen Reiz, wie das „Parliament of Ghosts“, das der ghanaische Künstler Ibrahim Mahama (geb. 1987 in Tamale, Ghana, wo er jetzt auch lebt und arbeitet) als einen experimentellen Raum erschuf, in dem verschiedene Formen der Vorstellung und der Theorie zugelassen sind. Mahama interessiert sich nicht für die Welt, wie sie ist, sondern für das, wie sie sein kann. Ihn treibt die Hoffnung an, aus den Ruinen der Vergangenheit ein „weiteres Versprechen für die Zukunft“ abzuleiten, „das noch viel größer ist als die Zukunft, die es (die Vergangenheit, Ergänzung durch Heinrich Geiger) einst darstellte.“  

Ist das Leben etwa ein Experiment der Kunst und die Kunst ein Experiment des Lebens, das mit einem Faktor ganz bestimmt rechnen muss: den Unzulänglichkeiten des Lebens? Daniel Beerstecher (weitere Infos über Daniel Beerstecher und seine Arbeit unter: www.danielbeerstecher.de) zeigt uns mit seinen „Marathon“-Läufen, dass die radikale Entschleunigung eine Möglichkeit ist, der Sinnhaftigkeit des Daseins und auch den Fragen nach der Nicht-Identität und der Identität nachzuspüren.  

Daniel Beerstecher, „Slow Walk“  

In einer Email vom 03.09.23, 20:48, schreibt Daniel Beerstecher:  

Liebe Freunde und Bekannte,
 
die erste Hälfte meines meditativen Slow-Walks ist geschafft! In den letzten vier Wochen habe ich pro Tag jeweils eine 400-Meter-Runde auf einer Tartan-Laufbahn zurückgelegt und im Durchschnitt zwischen 3 und 3 ½ Stunden dafür benötigt.
In dieser Rundmail möchte ich euch einen Einblick geben, was es mit einem macht, wenn man Tag für Tag seine Runde im meditativen Slow Walk dreht, vor allem, wenn es nicht so läuft, wie man es sich vorgestellt hat. Wie das Wetter Einfluss nimmt, welche Gedanken einem bei solch einem Projekt durch den Kopf gehen und einige kleine Anekdoten vom Rande der Laufbahn. Viel Spass beim Lesen!

Informationen zum Projekt findet ihr unter:   www.slowwalk.de  

Mein Fazit nach der ersten Hälfte:
Eigentlich wollte ich mit diesem Kunstprojekt durch das Sammeln von vielen Daten der KI metaphorisch das Meditieren erklären. Letzten Endes hat mich aber in den letzten Wochen die KI, bzw. die Technik und die äußeren Umstände das Meditieren gelehrt!
 
Wenn die KI und die Technik machen, was sie wollen:
Aus den Erfahrungen mit meinem Slow-Walk-Marathonprojekt Walk in Time, 2019, war mir bewusst, auf was ich mich mit diesem Projekt eingelassen habe. Deshalb wusste ich auch, dass ich körperlich und mental gut vorbereitet war und unter normalen Umständen keine allzu großen Schwierigkeiten mit den Anforderungen des Projekts haben sollte.
Womit ich allerdings weniger gerechnet hatte, waren die technischen Probleme der ersten Wochen, die den täglichen Slow Walk zu einer echten Herausforderung gemacht haben. Die Kameras haben mich nicht so getrackt, wie sie es eigentlich hätten tun sollen. In einigen seltenen Fällen sind sie einfach „fremdgegangen“. Wenn eine/r Läufer/in an mir vorbeigelaufen ist, hat sich die Kamera manchmal entschlossen, die schnellere Person in den Fokus zu nehmen und ihr zu folgen, um dann nach wenigen Metern durch die KI-gesteuerte Gesichtserkennung zu bemerken, dass sie der falschen Person folgt. Da war es allerdings schon zu spät, weil das Trackingsystem der Kameras mich schon aus dem Blickfeld verloren hat und dann das Bild irgendwo auf dem Fußballfeld oder der Laufbahn hängen geblieben ist. 
Als wir eine Lösung für dieses Problem gefunden haben, kamen die heißen Tage mit Temperaturen bis zu 33 Grad Celsius im Schatten. Ich habe die Temperaturen ganz gut weggesteckt, allerdings war die Technik dafür nicht ausgelegt. Die Internetverbindung ist immer wieder abgestürzt, Programme haben sich aufgehängt, die Daten wurden nur teilweise übertragen und aufgezeichnet, weil das Handy wegen Überhitzung abgeschaltet hat. Ein Access Point und ein Internet-Router mussten defekt ausgetauscht werden.    

Die Kunst der Meditation und das Akzeptieren von Hindernissen:
Für viele mag es unmöglich erscheinen, 3-4 Stunden in einem meditativen Slow Walk unterwegs zu sein. Um nicht zu verzweifeln oder gar verrückt zu werden, muss man lernen, aufkommende Gedanken zu beobachten und immer wieder loszulassen, den Fokus zurück auf die Atmung und das langsame Gehen zu lenken. Wenn zum Beispiel der Gedanke aufkommt, dass ich nach einer Stunde „nur“ 130 Meter geschafft habe und dann noch 270 Meter vor mir liegen, dazu ist es noch heiß, man ist müde und der Sonne voll ausgeliefert, dann kann ich diesen Gedanken einfach wieder loslassen, ohne daran zu verzweifeln, dass ich noch 2/3 der Strecke vor mir habe.
Schwierig wurde es jedoch für mich, wenn mir ständig durch den Kopf ging: Funktioniert die Technik noch? Haben die Kameras mich verloren? Was könnte das Problem sein? Wann hat der Techniker wieder Zeit, sich die Sache anzuschauen? Macht das Projekt überhaupt noch Sinn, wenn die Aufzeichnungen nur teilweise und fehlerhaft funktionieren? Wie lässt sich daraus später überhaupt noch ein ausstellbares Kunstwerk machen? Dazu das Wissen, dass das Budget eigentlich schon längst überzogen ist und für mich selbst nicht mehr viel übrig bleiben wird…
Fragen dieser Art, die einem dann durch den Kopf gehen, könnte ich noch endlos aufzählen. Ich hatte ja 3-4 Stunden Zeit, über solche Dinge nachzudenken, wütend zu sein, mich zu ärgern, Angst vor dem Scheitern zu haben, sowohl künstlerisch als auch körperlich. Solche Gedanken machen dann die Meditation unglaublich zäh und schwierig. 
In unserem Alltag versuchen wir, unangenehme Gedanken und Gefühle zu vermeiden, indem wir uns zum Beispiel mit dem Handy und sozialen Medien ablenken. Ein Gläschen Wein am Feierabend kann uns ebenfalls auf andere Gedanken bringen. Doch Umstände und Herausforderungen wie diese sind vielleicht auch der beste Lehrmeister, wenn wir uns ihnen stellen…
In der Meditation bleibt einem nichts anderes übrig, als sich seinen Gedanken zu stellen, sofern man nicht abbricht. Diese negativen Gedanken immer wieder zu bemerken, ohne sie zu bewerten, loszulassen, zur Atmung zurückzukehren und zu akzeptieren, dass nicht immer alles so läuft, wie man es sich vorgestellt hat, die Runde zu Ende zu bringen und sich dann erst Gedanken darüber zu machen, welche Schritte als nächstes gemacht werden müssen, um die Probleme zu beheben. Das musste ich in den letzten Wochen lernen und das war, bzw. ist nicht immer einfach! Aber ich habe ja auch noch ein paar Wochen Zeit, mich darin zu üben…
     
Temperaturunterschiede von knapp 20°C innerhalb weniger Tage.
Das Wetter kann man wohl in den letzten Wochen als sehr wechselhaft bezeichnen, vor allem, wenn man sich diesem konsequent ausgeliefert hat, wie ich. Besonders spürbar waren die Wetterwechsel am Ende der dritten Woche… Am Donnerstagnachmittag hatte es noch 33 Grad Celsius im Schatten, am Montag dann 15 Grad Celsius und Regen. Auch wenn mir die hohen Temperaturen zuvor am meisten Sorgen bereitet haben, ist es mir gelungen, gut damit klarzukommen. Ich habe mich mit Kleidung, Hut und Sonnenschutz gegen die direkte Sonnenstrahlung gewappnet, viel getrunken und wahrscheinlich in der Gehmeditation meine Körperfunktionen auf ein Minimum reduziert. Richtige Läufer, die bei solchen Temperaturen einen Marathon in der gleichen Zeit absolvieren, haben wahrscheinlich mit ganz anderen Herausforderungen zu kämpfen. Beim Slow Walk ist es, wie oben beschrieben, eher eine Kopfsache als eine körperliche Entbehrung.
Am Freitag nach dem heißesten Tag kam der Wind, der die Kameras an den Masten zum Zittern und Schwingen brachte. Da der Slow Walk auch eine Gleichgewichtsübung ist, hat mich die ein oder andere Windböe fast aus dem Gleichgewicht gebracht. Entgegengewirkt habe ich dem, indem ich mir vorgestellt habe, mich noch mehr mit dem Standbein auf der Tartanbahn zu verwurzeln, während ich das andere Bein in Slow-Motion-Bewegung nach vorne brachte. Es hat funktioniert! 
Am darauffolgenden Tag hat dann der Dauerregen eingesetzt. Kurz nach dem Start hat er begonnen und kurz vor dem Ziel geendet. Obwohl es mit ca. 21 Grad Celsius da noch nicht wirklich kalt war, bin ich ziemlich durchfroren über die Ziellinie gegangen. Der Körper war an das kühlere Wetter einfach noch nicht gewöhnt. 
Am Montag folgten dann 15 Grad Celsius und viel Regen. Allerdings war ich auf die folgenden kalten Tage besser vorbereitet. Mit langer Unterhose und sehr warmer Outdoor-Kleidung von Vaude ausgerüstet, konnte mir an diesem Tag auch die Kälte nichts anhaben, trotz des Temperatursturzes von knapp 20 Grad Celsius innerhalb von vier Tagen.    

Kleine Anekdoten vom Rand der Laufbahn:
An einem der ersten Tage des Projekts, als die technischen Probleme und erste körperliche Ermüdungserscheinungen sich breitgemacht hatten, fand ich nach dem Zieleinlauf die Zeichnung einer Sekretärin des Instituts für Sport und Bewegungswissenschaften neben meinem technischen Equipment. Daneben stand der Text: „Vielen Dank für Ihre Inspiration zum Entschleunigen“. Das hat mich in diesem Augenblick unglaublich berührt und mir neue Kraft gegeben, um nicht aufzugeben. 
Das Stadion wird von mehreren Platzwarten betreut, die sich um die Anlage kümmern, den Rasen mähen und die Aufsicht über die Sportanlagen haben. Sie sehen also täglich meine Slow-Walk-Performance. Wenn ich komme oder gehe, sitzen sie oft in ihrem Büro, das ich passiere, und wir tauschen noch ein paar freundliche Worte zum Wetter, dem Sportplatz oder meinem Slow-Walk aus. Einer von ihnen hat mir vor kurzem berichtet, dass er versucht hat, selbst einige Meter im Slow Walk zu gehen. Es ist ihm nicht wirklich gelungen. Er konnte das Gleichgewicht nicht halten und ist ins Schwanken gekommen. Bewundernd meinte er, dass ich sehr starke Beine haben muss, um über einen solchen langen Zeitraum immer mein Gleichgewicht zu halten. Ich habe ihm dann erklärt, dass es weniger mit Kraft, als mit Konzentration zu tun hat, ein guter Gleichgewichtsinn erfordert wenig Kraft. Die Schrittgeschwindigkeit passt sich der Atmung an, der Blick ist auf den Boden vor einem gerichtet. Dann hat er bemerkt, dass man für den Slow Walk im Kopf wohl dann ziemlich ruhig bleiben muss und das wohl die größte Herausforderung bei diesem Projekt ist…
Gespräche wie dieses erfreuen mich immer wieder, weil ich merke, dass mein täglicher Slow-Walk etwas mit den Leuten macht. Sie beginnen darüber nachzudenken. Leider bekomme ich es viel zu wenig mit.        
Einladung Heinrich Geiger: Eure Gedanken zum Thema „Slow Walk“ sind herzlich willkommen!

Gastbeitrag Thorsten Schirmer (Tuschmaler)

Meinen letzten Beitrag vor den Sommerferien hatte ich in der Hitze des Juni 2021 dem 1975 verschollenen Künstler Bas Jan Ader (geb. 1942) gewidmet, der ausgezogen war, das Wundern zu lernen. Ob er das Wunderbare gefunden hat, wird man nie erfahren. Bei dem Maler Thorsten Schirmer, der heute zu Wort kommt, ist die Situation schon klarer. Seine Tuschmalereien sind „wunderbar“, indem sie unser Auge durch ihre große Spontaneität bei gleichzeitiger technischer Perfektion beeindrucken. Bas Jan Ader hatte ich in meinem Text vom Juni 2021 mit einem Zitat aus Kierkegaards Abhandlung „Der Einzelne“ attestiert, dass es ihm gelungen sei, „durch vieljährige Anstrengung, Arbeit und Uneigennützigkeit nichts zu werden“. Thorsten Schirmer hat sich ebenso eine künstlerische Haltung erarbeitet, die im Sinne des Chan-Buddhismus aus dem „Nichts“ lebt – der Überwindung von allerlei Zwängen, die die menschliche Natur nun einmal mit sich bringt. Diese Haltung wird im Chan als Erleuchtung oder Erkenntnis bezeichnet.

Ich wünsche uns allen einen „erleuchteten“ Sommer.

Bonn, 03.07.2023                                                                           Heinrich Geiger

Zur Person des Autors

Thorsten Schirmer wurde 1969 in Hannover geboren. Er arbeitet seit 1984 im Stil der klassischen Chan-Malerei, die er sich rein autodidaktisch angeeignet hat. Auf das traditionelle Landschaftsthema im Chan-Stil der „Verschütteten Tusche“ spezialisiert, gestaltet er seine Werke nur mit den Fingern und schwarzer Tusche. Die auch in China sehr seltene Hinwendung zu diesen alten Ausdrucksformen und Maltechniken brachte ihm im Mutterland dieser Kunst hohe Anerkennung ein. Bereits mit 21 Jahren wurde er u. a. zum Gastdozenten der Pädagogischen Hochschule Anhui ernannt, seit 2013 ist er Professor der West Anhui Universität. Er veröffentlichte Forschungsarbeiten über die Frühphase der Chan-Malerei unter Li Gonglin (1049-1106) sowie die Landschaftsmalerei im Chan-Stil der „Verschütteten Tusche“ des chinesischen Mönchsmalers Yujian (13. Jhd.) und seiner japanischen Nachfolger. Seine Werke wurden in China, Japan, den USA und in Deutschland ausgestellt. Neben Fachartikeln verfasst er Bücher über die Maltradition Chinas und Japans, die dieser zugrunde liegenden Philosophie sowie den kulturellen Hintergrund. Thorsten Schirmer hat viele Kunstaustauschprojekte in Deutschland und China organisiert und ist Initiator der Partnerschaft zwischen der Region Hannover und der chinesischen Präfektur Luan. Zudem ist er Mitbegründer und Vorstand der „Akademie für west-östlichen Dialog der Kulturen“ mit Sitz in Nürnberg.#

Text

Die Tuschespur der Katze

Ein Deutscher auf dem Weg des Malens im Geiste des Chan-Buddhismus

Die Ausformung der Übungswege zählt zu den höchsten Leistungen der ostasiatischen Geisteswelt. Wenn auch zu allen Zeiten überall auf der Welt kreatives Schaffen unter dem Einfluss philosophischer und religiöser Strömungen stand, von diesen befruchtet oder sogar unmittelbar initiiert wurde, so ist es dennoch einzig im Kulturkreis Ostasiens zu einer vollwertigen Anerkennung des Schöpferischen als eigenes Konzept zur geistigen Vertiefung und Erkenntnissuche gekommen. Der Weg des Malens im Geiste des Chan-Buddhismus ist dafür eines der herausragenden Beispiele, dessen Spuren sich bis in das 11. Jahrhundert zurückverfolgen lassen.

So sehr uns diese Überlieferung heute aufgrund ihrer geradezu modern anmutenden Bildsprache und geistigen Tiefe anzieht, so selten findet eine praktische Annäherung von westlicher Seite aus statt. Einen solchen Versuch unternimmt seit 2019 der deutsche Künstler Jan-Michael Ehrhardt, Jahrgang 1964, unter meiner Anleitung. Er entdeckte als Jugendlicher sein Talent zur Malerei, das ihm über die schwierige Zeit der persönlichen Entwicklung hinweghalf. Diese frühe Selbsterfahrung mit den heilenden und persönlichkeitsentwickelnden Eigenschaften der Malerei motivierte ihn, nach Abschluss der Schulzeit ein Studium der Kunsttherapie zu absolvieren. Anschließend arbeitete er zunächst fünf Jahre als Kunsttherapeut und begann zudem, regelmäßig Zuochan, eine Kontemplationsübung des Chan, zu üben. Schließlich fasste er den Entschluss, aus seinem bürgerlichen Lebensweg auszusteigen, um sich in das Intersein-Zentrum zurückzuziehen, einer Chan-Gemeinschaft in der Linie des weltberühmten vietnamesischen Meisters Thich Nhat Hanhs (1926-2022), der ihm 2012 die Lehrerlaubnis erteilte.

Es sind jene zentrale Fragen des Daseins, die uns Menschen über alle Grenzen von Raum und Zeit hinweg verbinden. Was ist das Ich? Was geschieht nach dem Tod? Niemand ist je mit gesundem Verstand in diese Welt geboren worden, der sich nicht diese beiden existenziellen Fragen gestellt hätte. So löste sich auch dereinst ein nordindischer Fürstensohn mit Namen Siddhartha Gautama vor rund 2.500 Jahren aus der Gemeinschaft seiner Familie und des Hofstaates, um einsam suchend sein Daseinsleid zu überwinden. Also machte er sich auf in die Wälder und übte Askese, um dieses leidende Ich abzutöten. Nach verzehrenden Jahren der ergebnislosen Entbehrung musste er sich jedoch schließlich eingestehen, dass dies ein Irrweg war. Schließlich entschloss er sich dazu, der Entsagung zu entsagen, Körper und Geist fortan mit Maß und Bedacht zu pflegen, um in der stillen Versenkung das zu erkennen, was er hinter dem Scheinbild seines Ichkonzeptes erahnte: Die Leerheit aller Form und Individualität, das schöpferische Nichts der universellen Einheit, die große Befreiung des Nirwana.  Nachdem ihm dies gemäß der Überlieferung ebenso plötzlich wie unwiderruflich gelang, wählte er den Weg zurück in die Gemeinschaft, um seine Lehre vom Rad des Lebens und der Erlösung den Menschen zu vermitteln, die ihn fortan ob seiner Erkenntnis „den Erwachten“, d.h. den Buddha, nannten. Unter den ihm nachfolgenden Schulen des Buddhismus war es besonders die Dhyana-Lehre, deren Anhänger sich der Versenkungsübung Buddhas ganz und gar verpflichtet fühlten. Aus ihr entstand schließlich der Chan-Buddhismus, den wir im Westen besser unter seiner japanischen Lesart „Zen“ kennen. Der chinesische Begriff „Chan“ leitet sich als verkürzte phonetische Wiedergabe von jenem Sanskritwort „Dhyana“ (wörtl. „Versenkung“) ab.

Die Tatsache, dass die hier vorgestellte Vermittlung der Chan-Malerei zwischen zwei Menschen des Okzidents stattfindet, mag Fragen aufwerfen. Ist dies überhaupt möglich, da keiner von beiden in diesen fernen und für den Westen so rätselhaften Kulturkreis hineingeboren wurde? Ist nicht die Überlieferung aus erster Hand unabdingbar notwendig, um sich ihm auf dem Wege künstlerischer Praxis erfolgreich zu nähern? Diesen zweifellos berechtigten Fragen stehen aber zugleich auch andere gegenüber: Welche Chancen ergeben sich aus einer distanzierteren Betrachtung des ostasiatischen Erbes unter Einbeziehung unserer westlichen Kunstauffassung? Vermag unsere moderne, globalisierte Welt reif für einen emanzipierten Umgang mit dem kulturellen Erbe der Menschheit sein, ohne dass Trennendes zwischen den Kulturkreisen zum unüberwindlichen Hindernis wird?

Die Malerei des Chan-Buddhismus schöpft ihr Selbstverständnis aus der Überzeugung des Chan, dass neben seiner Hauptübung der stillen Kontemplation im Sitzen praktisch jede wiederholbare Tätigkeit einen Weg zur Erkenntnis im Geiste des Buddha ebnen kann, sofern sie mit einer entsprechenden Einstellung geübt wird. Ganz gleich ob es sich um die Arbeit im Klostergarten, das Reinigen der Räume oder das Zubereiten der Mahlzeiten handelt, der Klosteralltag eines Chan-Mönchs ist ein einziges, erweitertes Feld der Übung. Neben den Tätigkeiten des täglichen Lebens entdeckte der Chan aber noch weitere Übungen für sich. Es waren in seiner Frühphase zunächst die von Chan-Mönchen des chinesischen Shaolin-Klosters entwickelten Kampfkünste, gefolgt von den friedlichen Künsten der Musik, Kalligraphie und Malerei.

So unterschiedlich die Übungen im Einzelnen auch sein mögen, eint sie doch eine wesentliche Eigenschaft. Sie alle haben das Potenzial zur lebenslangen Verfeinerung, was eine elementare Voraussetzung dafür ist, sich mittels der unendlichen Wiederholung einer Tätigkeit kontinuierlich geistig entwickeln zu können. Freiwillige Beschränkung auf eine bestimmte Form der Übung engt somit den Erfahrungshorizont keineswegs ein, sondern öffnet ihn nach traditioneller Überzeugung erst zu universaler Weite. Auf den Weg des Malens bezogen, bedeutet dies, dass sich der Übende zumeist auf ein einziges Sujet konzentriert, in das er sich lebenslang vertieft.

Entsprechend stand für Jan-Michael Ehrhardt am Anfang seines Übungswegs die Suche nach einem geeigneten Sujet.  Die Frage beantwortete sich aus seiner Begeisterung für Katzen, die ihn seit seiner Kindheit begleiten. Ferner galt es, die der Persönlichkeit des Schülers entsprechende Maltechnik sowie die dafür am besten geeigneten Malmittel zu finden. Traditionell sind diese Papier, Tusche, Reibstein und Pinsel. Sie werden auch als die „Vier Schätze“ verehrt, wobei bezeichnenderweise nur die reinschwarze Tusche gemeint ist, die auch zur Kalligraphie genutzt wird. Der Verzicht auf Farbe erklärt sich aus der kontemplativen Grundhaltung der Chan-Malerei. Jede Farbe entfaltet eine eigene emotionale Wirkung, was dem Ziel dieser Kunst eher entgegenwirkt. So bleiben die meisten Werke monochrom im neutralen Tonspektrum der schwarzen Tusche mit ihren Abstufungen bis hin zum lichtesten Grau.

Rund vier Jahre der Übung und Unterweisung sind für ihn mittlerweile ins Land gegangen – eine kurze Strecke auf dem Weg des Malens und dennoch erfüllt vom Wesentlichen des Weges. Das Rüstzeug übergeben, die ersten Schritte sorgsam begleitet, das Ziel so genau umschrieben, wie es aufgrund seiner Unbeschreibbarkeit eben möglich ist, hat der Wanderer in dieser Zeit einige beachtliche Etappen hinter sich gebracht. Was keine Unterweisung vermitteln kann, musste er dabei aus sich selbst schöpfen: Den Mut, sich ins Unbekannte zu wagen, die Disziplin, stetig voranzuschreiten, die Energie, auch lange Durstrecken zu überwinden, das Selbstvertrauen, auf seine innere Stimme zu hören, die Sensibilität, aus der stillen Betrachtung des Äußeren Inspiration für die Bildwerdung des Inneren zu schöpfen, die Sehnsucht nach der Wahrheit und schließlich die Liebe zur Übung, derer es unabdingbar bedarf, um den Weg nicht zu verlieren.

Die Liste der Voraussetzungen für einen Schüler auf dem Weg des Malens ließe sich fortschreiben; so lang sie sein mag, so kurz ist jene, mit der sich des Lehrers Eigenschaften zusammenfassen lassen: Erfahrung und Einsicht, ohne die eine Vermittlung des Weges undenkbar wäre, Güte, ohne die man das Herz des Schülers nicht erreicht, sowie Anspruch, ohne den kein Lehrer je einen Schüler erfolgreich entwickelt hätte. Dies zu verstehen, bedeutet zugleich, das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler umzukehren. Nicht der Lehrer ist es, der überragt. Überragend muss der Schüler sein, um all die vielen Eigenschaften in sich zu vereinen, derer es bedarf, den Weg des Malens zu meistern. Der Lehrer ist nicht mehr als ein bescheidener Wegweiser. Ihm bleibt nur die stille Hoffnung, sich zur rechten Zeit am Weg zu positionieren und vom vorbeiziehenden Schüler wahrgenommen zu werden. Dabei hilft es wenig, dem Schüler die notwendige Aufmerksamkeit abzuringen. Was der Schüler nicht zu erkennen vermag, wird seinen Weg nicht lenken, selbst wenn man es ihm direkt vor Augen zu führen meint. Kongzi hat dies vor rund 2.500 Jahren so umschrieben:

„Wer nicht strebend sich bemüht, dem helfe ich nicht voran, wer nicht nach dem Ausdruck ringt, dem eröffne ich mich nicht. Wenn ich eine Ecke zeige, und er kann es nicht auf die anderen drei übertragen, so wiederhole ich nicht.“ (Lun Yü, Buch VII, Vers 8)

Das Glück des Lehrenden liegt darin, den rechten Schüler zu finden. Wohl mag der Schüler vielleicht imstande sein, aufgrund hervorragender Eigenschaften den Weg auch ohne Lehrer erfolgreich zu gehen, niemals hingegen vermag der Lehrer, ohne einen fähigen Schüler erfolgreich zu lehren. So dienen schließlich beide einander, sich auf dem Weg des Chan zu verwirklichen.

Die Taiwan-Erfahrung: Eine Reflexion unter wissenschaftlich-akademischen Gesichtspunkten

Wäre ich bei meinem Taiwanaufenthalt unter Umständen zu ganz anderen Einsichten gekommen, wenn ich mich einfach hätte treiben lassen und nicht einem festen Plan gefolgt wäre?

Auch so kann die Erkundung eines Ortes aussehen: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind mit einer Polaroid Kamera oder, alternativ, Schreibuntensilien ausgerüstet, weiterhin tragen sie einen Würfel bei sich. Bevor sie sich auf den Weg machen, entweder alleine oder in Gruppen, verständigen sie sich darauf, dass die Route nicht vorgegeben ist, sondern immer wieder neu bestimmt wird, wenn der Wegverlauf eine Entscheidung verlangt. Geradeaus, links, rechts oder zurück? Der Würfel entscheidet. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, ich nenne sie Spaziergänger, landen so „zufällig“ an Orten, die sie mit ihrer Polaroid Kamera fotografieren und unter Umständen auch zusätzlich mit Worten beschreiben. Bild und Wort, sie können miteinander kombiniert werden. Unter einem Polaroid, das einen verwilderte Ecke in einer Vorstadt zeigt, könnte zum Beispiel stehen: „Prekärer Ort“ oder „Leerstand?“

Warum aber legen Menschen ihren Stadtführer beiseite und lassen sich treiben? Ich möchte zwei Beweggründe nennen, die für diese Entscheidung ausschlaggebend sein könnten: 1. Das Zerbrechen fixierter Identitätskonstruktionen und Wahrnehmungskonventionen und 2. Die Einübung einer Form von Aufmerksamkeit, die schwebend ist und so eine durch eigene Fixierungen unverstellte Beobachtung und, wenn gewünscht, Analyse ermöglicht. Der große Flaneur Franz Hessel (1880-1941) spricht in Bezug auf das Flanieren von einer „Wanderschau“, einer „ambulanten  Nachdenklichkeit“. Und er führt das “ große Vorrecht des Spaziergängers“ an, der „nicht einzutreten“ und „sich nicht einzulassen“ braucht. „Er liest die Straße wie ein Buch, er blättert in Schicksalen, wenn er an Hauswänden entlang schaut.“ Bei Joseph Roth (1894-1939) lesen wir: „Was kümmert mich, den Spaziergänger, der die Diagonale eines späten Frühlingstages durchmaschiert, die große Tragödie der Weltgeschichte?  ……  Jedes Pathos ist im Angesicht der mikroskopischen Ereignisse verfehlt, zwecklos verpufft. Das Diminutiv der Teile ist eindrucksvoller, als die Monumentalität des Ganzen. Ich habe keinen Sinn mehr für die weite, allumfassende Armbewegung des Weltbühnenhelden. Ich bin ein Spaziergänger.“

TAIWAN. Mein Taiwanaufenthalt bestand aus zwei Phasen: erste Phase in einer Gruppe, und zwar im Rahmen eines universitären, akademischen Projektes (summer school); zweite Phase privat. Was erstere anbelangt, so stellte einer der Teilnehmer der summer school fest, dass die Seminarrunden in den Räumlichkeiten unserer taiwanesischen Gastuniversität und die Erkundungen im Stadtraum von Taipei, in der die Gastuniversität liegt, zwei unterschiedliche Erfahrungswelten beinhaltet hätten. Meiner Meinung nach ist der, der dies erkennt, schon auf dem richtigen Weg, denn er ist sich dessen bewusst, dass Beobachtungen und Erkenntnisse von den Bedingungen, unter denen sie gemacht werden, nicht losgelöst werden können – weswegen auch der universitäre-akademische Kontext unter Umständen ganz andere Erkenntnisse als der private gebiert. Wie lassen sich aber die beiden Erfahrungswelten miteinander verbinden, wie lässt sich vermeiden, dass sich der Unterschied zwischen ihnen zu einem unüberbrückbaren Gegensatz aufbaut?

In Taiwan wurde mir nochmals klar, dass Wissenschaft oftmals dafür missbraucht wird, Fragen auszuschließen oder nur so weit zu beantworten, dass deren eigentliches Potential entschärft wird. Leerstellen dürfen nicht vorkommen. Wie also mit ihnen umgehen? Bei der Lektüre von wissenschaftlichen Arbeiten meine ich nicht allzu selten die Angst zu spüren, irgendwo eine Lücke zu hinterlassen oder einen wunden Punkt zu offenbaren. In der Mythologie spricht man von der „Achillesferse“. Geradezu manisch werden alle Fugen, Brüche mit den Mitteln des Schriftlichen und mit allem möglichen zitierten Wissen gestopft und bis zu dem Punkt eliminiert, dass die Erfahrung, die ich „Taiwan-Erfahrung“ nennen möchte, nicht mehr möglich ist. Formal richtig zitiert? Jawohl, aber dennoch bleiben, bei genauerem Hinsehen, die Schwachstellen oder auch die Abgründe.

Das Arbeiten mit den Dimensionen von Raum und Zeit müsste, wie mir in Taiwan bewusst wurde, mehr Beachtung erfahren; ebenso die Überlegung, was passiert, wenn ich einen Sachverhalt verschriftliche und ihn nicht etwa bildlich darstelle. Taipei ist keine Stadt wie aus einem Guss, und auch in Tainan zeigt sich der städtische Raum sehr unterschiedlich – was diskursiv, von Begriff zu Begriff methodisch fortschreitend, nicht zu fassen ist. Außerdem wird diese Vorgehensweise einem Gegenstand nicht gerecht, dessen Merkmal die Vielschichtigkeit ist. Die städtebauliche Nachlässigkeit, mit der mit den unterschiedlichen Baustilen umgegangen wird, sollte nicht überraschen. Auch fehlt dem Hochhaus Taipei 101, das der höchste Wolkenkratzer der Welt war, bis er Anfang 2007 vom Rohbau des Burj Khalifa abgelöst wurde, das futuristische Flair, das zum Beispiel die Hochhäuser in Shanghai ausstrahlen. Allerdings hat es Charme, wie man nach dem Erreichen der obersten Stockwerke feststellen möchte. Dort überraschen die Besucherin/ den Besucher verschiedene Requisiten, mit denen sie/ er sich entweder als Engel mit rosa Flügeln oder als Entdecker inmitten der Tierwelt des Dschungels fotografieren lassen kann. Überall grünt und blüht es, aus Plastik, wuschelige und kuschelige Teppiche laden zum Träumen ein. Das Gedicht „Mittagsschlaf“ (wuxiao) des taiwanesischen Dichters Lin Xiuer (1914-1944) aus dem Jahr 1935 zeigt, wie ein träumerischer Geist von den Feldern einer bäuerlichen Kultur und den 1930er Jahren bis in die höchsten Etagen eines „Wolkenkratzers“ in den 2020er Jahren reicht. Es lautet: „Von Blume zu Blume gespannt/ Die Hängematte des Lichts/ In der/ Zum Mittag Engel schlafen/ Eine Brise wieget/ Durchsichtige Träume“.

Was verstehe ich unter der „Taiwan-Erfahrung“? Obgleich die Motorräder nach der Grünschaltung der Ampel mit ohrenbetäubendem Lärm in eine Richtung losrattern, habe ich Taiwan als eine Welt erlebt, in der die kulturellen Energiestränge nicht entlang der Hauptverkehrswege verlaufen. Diese dienen nur dem Vorwärtskommen, dem Zurücklegen eines Weges zwischen einem Ort A und einem Ort B. Das Wichtige spielt sich in Vierteln/ Quartieren, in den Seitengassen ab, in die man als Nichtortskundiger nur dann vordringt, wenn man vor dem Verlorengehen keine Angst hat. Dort trifft man auch auf taiwanesische Flaneure. Die Wirklichkeit des Inselstaates besteht darin, dass dieser eine unüberschaubare Zahl von kleinen Quartieren und Seitenstraßen, aber wenig attraktive Hauptwege  aufweist. Bei der VR China ist es anders, zumindest in der Wahrnehmung von außen. Die Fachwelt meint mit den beiden „K“´s, Kommunismus und Konfuzianismus, eine feste Orientierung bei der Beschreibung des Landes zu haben, die in der Feststellung, dass China die Supermacht des 21. Jahrhunderts sei, gipfelt. Im Falle Taiwans ist sich die Fachwelt nicht ganz sicher, wie sie mit dem Land umgehen soll? Sie reduziert es ganz einfach auf das andere, kleine China, das, um bestehen zu können, eines mächtigen großen Bruders, nämlich der USA bedarf.

ZUM SCHLUSS. Es geht, um meine akademische-wissenschaftliche Taiwan-Erfahrung auf den Punkt zu bringen, in der Begegnung mit einem fremden Land/ einer fremden Kultur um die Grundlagenforschung zu den Dispositiven des Wissens und deren Erprobung; es geht um das Strapazieren der Ränder, der Bruchstellen und die Verwerfungen des Wissens. Die Frage, was in der Ordnung des Wiss- und Wahrnehmbaren nach welchen Gesetzmäßigkeiten erscheint beziehungsweise erscheinen darf, stellt sich unablässig. Sie ist nur dadurch mit Gewinn zu lösen, dass man sich immer wieder treiben lässt und auf diese Weise alle Voreinstellungen unterläuft. Wer so vorgeht, gerät nie in den Verdacht, dass seine Text von einer Künstlichen Intelligenz (Stichwort „ChatGPT“) geschrieben worden sind.

Taiwan (Fortsetzung)

In der Stadt Tainan nehmen wir uns ein Taxi. Der Mann am Steuer nennt sich selbst nicht auf Hochchinesisch „Chauffeur“ (siji), sondern auf Taiwanesisch „General der Beförderung „. Wir freuen uns. Denn zum ersten Mal in unserem Leben werden wir von einem General befördert. Er bringt uns zu einem Ort, der aufgrund seiner mächtigen Architekur schon von weitem zu erkennen ist: Dem mit einer Kuppel gekrönten Chimei Museum, dessen Sammlung größtenteils aus Exponaten westlicher Kunst besteht: Gemälde des 13. bis 20. Jahrhunderts, Skulpturen von Rodin, dessen Lehrer, von Zeitgenossen und Assistenten Rodins. Weitere Abteilungen zeigen Waffen und Rüstungen, ausgestopfte Tiere und Fossilien von allen Kontinenten und eine an Bedeutung alle anderen Abteilungen übertreffende Musikinstrumentensammlung. Insgesamt sind annähernd 4000 Gegenstände zu sehen. Nach einem Besichtigungsmarathon von 7 Stunden erholen wir uns im Tainan Metropolitan Park, auf dessen Gelände das Museum liegt. Er ist von Geigenklängen erfüllt. Sie entströmen Lautsprechern, die diskret das Gelände durchziehen und sich gut mit den Bronzeskulpturen von Jugendlichen vertragen, die keinem anderen Ziel dienen als der Manifestation des Schönen. Der Name des Museums ist Programm: Denn Chi Mei (qi mei) bedeutet „außergewöhnlich schön“. Was ist aber das Schöne (mei)? Im Park beobachte ich eine junge Familie, die ihrem Kaninchen die Freuden eines ungehinderten Auslaufs ermöglicht. Interessanterweise folgt das Tier seinem Herrchen aufs Wort. Auf einer der Brücken, die über ausgetrocknete Bachläufe führen, bemerken wir eine junge Frau mit Baseballmütze, die an einer Leine eine Gans spazieren führt. Um ihr das Gehen auf Pflaster und Teer zu erleichtern, hat sie ihr Schuhe angezogen. Gänseschuhe – nie zuvor hatten wir derartiges erlebt. Die junge Frau ist freundlich. Gerne lässt sie sich und ihr Tier fotografieren. Sie geht weiter, wobei sie, genauso wie die Kaninchenhalter, Vertrauen in die Folgsamkeit ihres Tieres hat. Denn sie lässt die Leine schleifen. Die Gans watschelt gut beschuht voran, die junge Frau, nicht ganz so gut beschuht, folgt ihr, mitten durch das gelassene Treiben im Tainan Metropolitan Park.

Zurück in Bonn. Gerade habe ich wieder einen Mann gesehen, der für mich der Inbegriff des Spaziergängers ist. Immer wieder bin ich ihm begegnet: In einer stillen Straße am Fuße des Venusberges, auf dem Gehsteig entlang des stark befahrenen Hermann-Wandersleb-Rings, in Buschdorf, in Beuel usw., es gibt keinen Ort, an dem ich nicht auf diese Gestalt mit ihren weit abstehenden Haaren (Schopenhauer oder auch Beethoven wäre möglich), mit ihrer bürgerlichen, aber nicht modischen Kleidung und einer Tasche in der Hand gestoßen wäre. Zugegebenermaßen erstaunt mich dieser Mann, da er an Orten  auftaucht, an denen ich ihn niemals vermutet hätte. Der Schritt zügig voran und immer eine Tasche in der Hand, die aber niemals gefüllt ist; weder von Einkäufen noch von Akten. Ich frage mich, was eigentlich das Ziel dieses Mannes ist? Denn er ist zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten zu sehen. Ein Berufsweg scheint nicht seine Schritte zu lenken. Auch scheint er nicht einkaufen zu müssen. Eines ist mir aber klar: Ich kann ihn mir nicht in einem Park mit einem Kaninchen oder einer Gans, die er an der Leine führt, vorstellen. Ja, es gibt sie, die wunderbaren Unterschiede zwischen den Kulturen.

Im Falle von Spaziergängern fällt es uns leicht, diese zu akzeptieren – weshalb ich auch das Spazieren liebe. Ich akzeptiere, dass eine Familie ihrem Kaninchen Auslauf gibt, eine junge Frau mit ihrer Gans spaziert und ein mit seinem Aussehen an Beethoven oder Schopenhauer erinnernder Mann unentwegt seine Runden durch eine deutsche Stadt zieht. Das akzeptiere ich nicht nur, sondern begrüße ich sogar. Dabei mag es mir einfach nicht in den Kopf gehen, dass sich die Diskussion über die Länder, in denen Gänse spazieren führende Damen und eine Tasche in der Hand tragende Männer anzutreffen sind, immer stärker vergröbert – so als wären sie alle vom Antagonismus der Systeme überzeugte und zum Kampf bereite Zeitgenossen. Hier der Westen, dort der Osten, hier mein Machtbereich und dort deiner, und über allem Kampfflugzeuge, deren Flüge nicht nur jungen Frauen und mittelalterlichen Männern, sondern auch ihren Kaninchen, Gänsen und leeren Taschen immer bedrohlicher näher kommen. Während meines Taiwanaufenthaltes durfte ich erleben, dass Machtgesten die auf dieser Insel lebenden Menschen nicht zu erschrecken vermögen und nur am Rande beschäftigen. Es gibt Wichtigeres, als immerfort Bomben zu bauen. Und ich bin auch immer wieder begeistert, wenn ich in Deutschland auf Menschen mit dieser Geisteshaltung treffe.

Was wohl der „General der Beförderung“, der uns sicher zum Museum der „außergewöhnlichen Schönheit“ fuhr, zum Thema der wachsenden Kriegsgefahr sagen würde? Wir hatten nicht die Zeit, auf solche schwierigen Fragestellungen einzugehen. In der Kürze der Zeit haben wir uns über die Unterschiede zwischen Mandarin und Taiwanesisch unterhalten, und sind dabei auf einige Spachvarianten im Taiwanesischen gestoßen, die sich bereits vor langer Zeit von der Entwicklung der übrigen sinnitischen Sprachvarianten abgekoppelt haben und lexikalisch weiter vom Mandarin entfernt sind als jede andere Varietät (u.a. auch das Kantonesische).

Der Spaziergänger aus Bonn würde uns vielleicht bei der Wahl dieses Gesprächsthemas zustimmen. Menschen, die sich bewegen, sei es als „General der Beförderung“ oder als spazierender Bürger mit dem Aussehen eines Beethoven oder Schopenhauer, wissen um die Bedingungen des Seins und gehen ihnen gerne auf den Grund. Lavulas Gerens „Trilogie der Bergbewohner“ (shandiren san bu qu), das die Probleme der Ureinwohner Taiwans in knapper, geradezu amüsanter Weise beschreibt, lautet: „Auf dem Berg      hüpfend vorwärts/ Den Berg hinab      purzelnd vorwärts/ Am Fuß des Bergs      gebückt vorwärts“. Im Ausstellungskatalog einer im Kaohsiung Fine Arts Museum (KMFA) vom 25.02.2023 bis zum 08.09.2024 zu sehenden Ausstellung sprechen die Überschriften zu den gezeigten Werken Bände: „Young man, worry not? What´s in the head of angry youth in those years with the undercurrents of „Existentialism“?“, „Years of seeking identity: How to feel „native“ and „local“?“, „The blackening of art/ black painting in an industrial city – More than one type of „black““, „The unspeakable: White terror during the authoritarian period“, „Awkward: People in the hushed years“, „In-betweens before and after the Martial Law Period: Paradigm-shifting critical writings“, „New world after a broadened horizon: Transcending the tradition toward the contemporary time“.

Um auf die „Trilogie der Bergbewohner“ Lavula Gerens, der 1956 im Kreis Taitung geboren wurde und zum Volk der Paiwan gehört, zurückzukommen:  Das Palastmuseum mit seinen wunderbaren Werken chinesischer Geschichte liegt am Fuß eines Berges.

Taiwan

Oft wird Taiwan als kohärente Einheit gegenüber Festland China betrachtet. Allerdings fehlt es an einer solchen Kohärenz. Wie noch bei wenigen Reisen zuvor, habe ich bei meinem Taiwanaufenthalt im Frühjahr des Jahres gespürt, dass es ein universales Recht gibt, von dem wenig gesprochen wird: das Recht auf Verschiedenheit von und vor allen vorgefertigten kulturellen und politischen Zuschreibungen. Wobei dieses Recht nicht nur für Staaten, sondern auch für einzelne Bevölkerungsgruppen gelten sollte.

Im Alltagsleben Taiwans ist allenthalben die japanische Prägung spürbar. Die fünzigjährige japanische Kolonialherrschaft hat bleibende Spuren hinterlassen. Ein kurzer Blick zurück: Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Taiwan durch die Kolonialherrschaft Japans modernisiert und japanisiert. Jeder Taiwaner musste die japanische Schrift und Sprache lernen und den Treueschwur auf den japanischen Kaiser leisten, was bedeutete, ein Japaner zu werden. Im Straßenbild sind nach wie vor die baulichen Zeugnisse der japanischen Herrschaft zu erkennen. Nach der Kapitulation Japans im August 1945 wurde Taiwan der vom Bürgerkrieg zerrissenen chinesischen Republik überantwortet. Von der Entwicklung, die danach das chinesische Festland nahm, unterschied es sich dadurch, dass ihr Ausgangspunkt keine „Befreiung“ durch eine revolutionäre Bewegung (in diesem Fall die Kommunistische Partei Chinas)  war. Die alteingesessenen Taiwaner haben keine Erfahrungen im Kampf gegen Japan im Zweiten Weltkrieg gemacht. Ebenso fehlen ihnen die Fluchterlebnisse. Das erzeugte und erzeugt auch heute noch Unverständnis zwischen den Bevölkerungsgruppen und führte zu einer Spaltung der politischen Erwartungen und Orientierungen im Blick auf die Zukunft des Landes, nämlich Wiedervereinigung mit China einerseits und Unabhängigkeit von China andererseits.   

Von der Volksrepublik China unterscheidet sich Taiwan auch dadurch, dass es erfolgreich den Übergang von einem autoritären Regime zum demokratischen Rechtsstaat meisterte. Erste Schritte waren bereits unter Tschiang Tsching-kuo (Chiang Ching-kuo, Jiang Jingguo), dem Sohn Tschiang Kai-scheks (Chiang Kai-shek, Jiang Jieshi), eingeleitet worden. Unter Lee Teng-hui, der nach dessen Tod im Jahr 1988 Präsident wurde, machte der Inselstaat Taiwan, der sich nach wie vor als die 1912 von Sun Yat-sen gegründete Republik China versteht, den tiefgreifendsten Wandel in seiner Geschichte durch. Nachdem die USA unter Präsident Carter in der Anerkennung Chinas die Seiten gewechselt hatten, musste die taiwanesische Elite erkennen, dass zur Wahrung eines soliden Restbestands an amerikanischer Unterstützung das alte, autoritäre Regime nicht mehr taugte. Lee Teng-hui, der 1996 als erstes Staatsoberhaupt in der chinesischen Geschichte demokratisch gewählt wurde, brachte den Umschwung, wobei  nicht nur Taktik, sondern auch Überzeugung im Spiel war. Für Lee „ist Demokratie universal“. Die Reife der Demokratie in Taiwan wurde im Jahr 2000 durch die Präsidentschaftswahlen, die zur Ablösung von Lee Teng-hui führten, auf eine beeindruckende Weise unter Beweis gestellt.

Auch in Taiwan stellt sich natürlich die Frage, wer „das Volk“ ist? Wer entscheidet über den „selbstbestimmten Weg“, seine Inhalte, seine Ziele? Und, was geschieht mit den Gegnern dieses Weges? Zu beobachten ist auf jeden Fall, dass in Taiwan sehr unterschiedliche kulturelle Gedächtnisse miteinander konkurrieren. Dies lässt sich historisch folgendermaßen einordnen: Nach der Aufhebung des Ausnahmezustandes im Jahr 1987 begannen die alteingesessenen Taiwaner ihre eigene Identität zu suchen. Ein Beispiel. Im Jahre 1996 beauftragte das Kultusministerium den damaligen Vorsitzenden des „Institute of History and Philology Academia Sinica“ mit der Leitung des Redaktionsauschusses der Geschichtsbücher für den gymnasialen bzw. High School-Unterricht. Dieser kritisierte an der bisherigen Ausrichtung der Geschichtsbücher zwei Punkte: den Mangel an taiwanesischer Geschichte und die sterotype Vereinfachung bzw. Vereinheitlichung der chinesischen Geschichte. Seinem Vorschlag zufolge sollte Taiwan im Zentrum des Interesses stehen. Tu, so hieß der Leiter des Redaktionsauschusses, orientierte sich an einer Vorstellung von Taiwan als einer Bühne der menschlichen Aktivität, auf der alle ethnischen Gruppen auftreten. Ausgehend von dem Gedanken einer regionalen statt nationalen Geschichtsschreibung gliederte er den Geschichtsunterricht in fünf Schritte: zunächst die taiwanesische Geschichte von den Urvölkern bis zur Gegenwart, dann die chinesische Geschichte, danach die der südost- und nordasiatischen Nachbarstaaten Taiwans und schließlich die europäische Geschichte und die Geschichte der restlichen Staaten. Eine heftige Diskussion entbrannte. Um diese sich schnell politisierende Diskussion zu beenden, entschied schließlich das Kultusministerium, den Redaktionsausschuss aufzulösen. Grundgedanke: Ein Feuer kann schnell zu einem Flächenbrand werden, wenn es auf dem trockenen Boden des Nationalismus entzündet wird.

Folgt man Christopher Hughes, dessen Buch Taiwan and Chinese Nationalism: National Identity and Status in International Society im Jahr 1997 (London, New York: Routledge) erschien, dann war die Demokratisierungspolitik  Lee Teng-huis nur deswegen möglich, weil sie losgelöst von der Frage der nationalen Identität erfolgte. Hughes schreibt: „Es wurde immer klarer, dass die Einheit Chinas nicht mehr länger das letzte Ziel der Republik China war; Ziel war nurmehr die Einheit einer Art von China, deren Verwirklichung wohl Generationen benötigt.“

Gastbeitrag von Monika Littau

Die Gastbeiträge in meinem Blog haben mittlerweile Tradition. Ich empfinde sie als große Bereicherung. Der nachfolgende Text von Monika Littau stammt aus ihrer Zeit als Poet in Residence in Qingdao, VR China. Ihm entnehme ich, welche Voraussetzungen für einen literarisch ertragreichen Aufenthalt in einer fremden Kultur nötig sind: Man muss Lebenserfahrung haben und sich selbst kennen, man muss sich der Komplexität, Unsicherheit und Unkontrollierbarkeit der Welt stellen und unterschiedliche Perspektiven berücksichtigen können. Diese kognitiven Fähigkeiten kommen aber dann erst zum Tragen, wenn es in der konkreten Situation gelingt, auch noch Neugier und Mitgefühl zu aktivieren und dabei die eigenen Emotionen unter Kontrolle zu halten. All das ist in dem nachfolgenden Text von Monika Littau zu spüren.

Bonn, 10.05.2023                                                              Heinrich Geiger

ZUR  PERSON  DER  AUTORIN

Monika Littau studierte Germanistik, Geographie und Musikwissenschaft in Bochum und Münster. Sie war in Forschung, Bildung, Kultur-/Literaturförderung tätig, zuletzt im Kulturministerium NRW.  Seit 2007 arbeitet sie ausschließlich als freie Autorin und Herausgeberin.

Bislang liegen von ihr 20 Einzelveröffentlichungen vor. Zuletzt erschienen 2019 „Von der Rückseite des Mondes“, chinesische Prosaminiaturen, 2020 der Roman „Buchela – Pythia von Bonn“ im Rhein-Mosel-Verlag, 2021 der Band „Manchmal oben Licht. Ein Elternabschied in sieben Stationen“, in dem es um das Thema Demenz, Alter und Tod geht. Ein „Lesebuch Monika Littau“, veröffentlicht 2022, gibt mittlerweile einen Überblick über ihre literarische Arbeit. Zur Leipziger Buchmesse 2023 ist die Wortschau 41 zum Thema „Verwandtes“ neu erschienen. Monika Littau ist Hauptautorin dieser Ausgabe und arbeitete mit der bildenden Künstlerin Alena Steinlechner (Neustadt a.d. Weinstraße) zusammen. 

Monika Littau erhielt für ihre Arbeiten eine Reihe Auszeichnungen und Stipendien. Sie ist Förderpreisträgerin des Landes Nordrhein-Westfalen, wurde zweimal in Berlin mit dem Preis für politische Lyrik ausgezeichnet und durch Stipendien des Landes und der Kunststiftung NRW unterstützt. Sie war Dorfschreiberin in Eisenbach und Poet in Residence in Qingdao/China. 2021 erhielt sie den Bonner Literaturpreis.

TEXT

An der Ocean-University of China in Qingdao

K und k

Flowering Cherry Avenue. Die Zeit der japanischen Kirschblüte ist vorbei. Der Klang des Straßennamens bleibt ganzjährig duftig und sanft. Bunte Isolierkannen setzen Farbtupfer entlang der Straße auf den Bürgersteigen. Sie werden kostenfrei mit warmem Trinkwasser aufgefüllt.

Ich gehe über den Laoshan-Campus der Ocean University of China in den Bergen. Ich gehe durch ein Areal, das durchgängig mit fünfgeschossigen Blocks bebaut worden ist, die aussehen, als stünden sie in Berlin. Schönste Gründerzeitarchitektur, große Steinblöcke an den Häuserecken mit Putzflächen dazwischen, runde Dachgiebel mit Schneckenverzierungen. Ein wenig weiter glaube ich vor der schwangeren Auster zu stehen. Es handelt sich um die Campus-Sporthalle.

Hier oben, nahe den Laoshan-Bergen studieren 30.000 junge Menschen vor allen Dingen Ozeanologie und Polarwissenschaft, ein verschwindend kleiner Teil beschäftigt sich mit Sprachen und erlernt Deutsch. Die Ocean-University wurde 1928 gegründet. Sie besteht heute aus vier Standorten mit insgesamt 120.000 Studierenden. Der gesamte Bau in den Bergen ist noch keine zwanzig Jahre alt. Wie viel schöner ist diese Anlage als manche deutsche Universität, die aus Alt und Neu zusammengestoppelt worden oder als Betonuni nur funktional geplant und trist ist. Das ganze Areal hier ist gestaltet, ein „Man-made Lake“, Wasserläufe, Pflanzen, ein künstlich angelegter Berg zum Spazierengehen.

Mittags ertönt Musik des Campusradios aus den Lautsprechern, zu der die Studentinnen unter ihren bunten Sonnenschirmen Richtung Mensa flanieren. Das wirkt fast surreal und wunderschön. Dazwischen tourt die kleine Elektrobahn wie ein Urlaubervehikel übers Gelände.    

Von allen vier Himmelsrichtungen ist der Zugang zum Campus an Toren möglich. Immer sind dort Schlagbäume, immer gibt es Wächter in Uniform, die entscheiden, wer das Gelände befahren darf.

Seit wenigen Tagen überfallen Eltern mit Studienanfängern das Gelände. Sie wirken fremd und aufgeregt. Und während sich die Zahl ihrer Fahrzeuge mehrt, kommen immer mehr Händler auf den Campus. Sie bieten Handyverträge und Matratzen an, Bettdecken und Waschschüsseln, Isolierkannen und batteriebetriebene Lampen.

Wozu braucht man denn solche Lampen?, frage ich.

Wenn man spät abends noch lesen will, sagen meine Studentinnen.

Damit man die anderen nicht stört, überlege ich laut.

Nein, nein, das Licht wird abgestellt um halb elf. Wir müssen Energie sparen!

Energiesparen?

Unwillkürlich denke ich an die bunten, stets wechselnden Leuchtreklamen der Shoppingmalls. Ich denke an strenge Eltern, die das Licht abends löschen und ich denke an katholische Kinderheime, zu deren Verhaltenskodex es gehört, die Hände auf die Bettdecke zu legen.  

Batteriebetriebene Lampen sind begehrt.

Es kommen auch kleine Lieferwagen, die ein Zelt, Tische und Stühle aufbauen und Essen verkaufen.

Und dann gibt es natürlich noch die vielen kleinen Mopeds, die Essen auf Rädern in die Studentenheime bringen.

An der Tür unseres Seminarraums hängt ein Schild: Händler dürfen den Unterricht nicht stören. Ich verstehe nicht, warum es dieses Schild an der Tür geben muss.

„Die Händler kamen bis ins Seminar“, erklären meine Studentinnen.

Ich schüttele den Kopf. Warum ist der Zugang zur Universität für Bürger beschränkt? Warum dürfen private Händler auf dem Campus alles Mögliche verkaufen?

Warum sind die meisten chinesischen Millionäre Mitglied der KP? Wo spricht überall die Partei mit? Ich kann es nicht sehen, ich kann es nur ahnen. Ich kann nur fragen: k oder k? Was ist hier kapitalistisch, was kommunistisch? Wie funktioniert das System?

(…)

Blau, weiß, rot

Blauweiße Ringelhemden, blaue kurze Hosen. 30, 40 Studenten, gleich gekleidet, Gleichschritt. Tags drauf sieht man auf den Balkonen der Studentenwohnheime, überall gleich, die blau-weißen Ringelhemden flattern.

Studenten in Blauweiß, Studenten der Meereswissenschaften, der Fischereiwissenschaften, der Ingenieurwissenschaften.

Sie haben sich verpflichtet bei der Marine. Blau ist das Meer. Weiß ist der Himmel vielleicht, sind die Schaumkronen auf dem Wasser. Gestreift dreimal blau, zweimal weiß, ist die Dienstflagge der Seestreitmächte im unteren Teil des Bildes. Darüber die Hälfte ist rot, trägt den einen großen Stern und das Datum der Gründung der chinesischen Befreiungsarmee: 1. August 1927. Grau dagegen sind – wie überall auf der Welt – die Fregatten, Korvetten und anderen Schiffe, die in der geschützten Bucht von Qingdao stationiert sind und im Hafen liegen.

Bald drängeln sich gut gelaunte Erstsemester in Tarnanzügen auf den Sportplätzen der Universität in den Bergen. Sie sind allgegenwärtig, verstopfen die Mensa, lachen an der Kasse im kleinen Laden auf dem Campus. Für sie beginnt ein neuer Lebensabschnitt, das Studium. Und die Freude darüber sieht man ihnen an. Wer das Kaukau[1] geschafft hat, der kommt weiter im Leben, wenn er sich an die Spielregeln hält. Und Spielregeln werden geübt, zunächst in einer vierzehntägigen militärischen Grundausbildung.

Aus dem ungeordneten Haufen strahlender Erstsemester formieren sich quadratische Blöcke, die im Gleichschritt marschieren. Wenig später erklingt blechern die Hymne der Befreiungsarmee. Das ist eine Melodie, zu der es sich leicht geht, wie an einem Wandertag, wie bei der Besteigung eines Gipfels. Die Melodie schraubt sich auf zu einem blechernen Siegestirilieren.

„Wir sind Söhne und Brüder von Arbeitern und Bauern“ heißt es im Liedtext der Hymne, die, Teil der roten Lieder[2], auf dem Campus nur in Instrumentalfassung zu hören ist.

Der Ton wird in den zwei Wochen rauer, der Tritt sicherer, die Gesichter der jungen Männer und Frauen blicken ernster.

Sie „Marschieren zum Sieg/Zur Befreiung des ganzen Landes!“[3], sind Teil der größten Armee der Welt, die sich auch von denen befreit, die nicht marschieren wollen. 

„Verhasst“ sei diese Grundausbildung, höre ich von dem einen, „so begehrt“, dass nicht für alle eine vollständige Ausbildung angeboten werden könne, von dem anderen.

„Da ist einer aus dem Tritt“, höre ich Meng sagen. „Oh, das gibt Ärger.“

Zu viel oder zu wenig

Da fehlt jemand!

Gute Bäume fehlt, sagen die Studentinnen. Sie ist noch bei ihrer Familie und krank.

Das Reisen nach Hause bedeutet für viele eine kleine Weltreise. So auch für Gute Bäume. Sie kommt aus dem äußersten Nordwesten. Ich mutmaße aus dem Gebiet der Uiguren oder Mongolen. Nach Hause, das sind für sie circa 2000 Kilometer Fahrt.

Da das Reisen im Land bereits über so große Distanzen geht, relativiert sich auch das Reisen in der Welt. Ein Teil meiner Studentinnen war in den vergangenen Wochen in Kassel zu einem Deutschkurs. Während des bereits laufenden Semesters verlässt Morgenweisheit unseren Kurs, um in Japan Deutsch zu studieren. Verrückt, denke ich. Deutschlernen in Japan. Aber vielleicht ist es die einzige Möglichkeit in dieser Lebensphase dem chinesischen Drill zu entgehen?

Der Mann einer Kollegin besucht zur Computermesse vier Tage Berlin. Und da bleibt noch ein Tag übrig, um kurz nach Paris zu fliegen. Er kommt zurück mit dem Schluss: Europa ist nicht modern.

Europa pflegt sein historisches Erbe, sage ich. Europa hat noch eine Vorstellung von Stadt, die sich nicht in Shopping-Malls erschöpft. Die europäische Stadt hat ein Rathaus und einen Marktplatz und mindestens eine Kirche…

Gute Bäume trifft in der dritten Woche ein. Sie hatte nicht nur eine lange Reise, sie musste auch zum Arzt, weil ein kleiner Hund sie gebissen hatte.

Auch Gute Bäume war schon in Deutschland, und zwar in Berlin. Und, wie hat es ihr dort gefallen?

Zu viele Ausländer, sagt sie. Das hat mir nicht gefallen.

Aber du weißt, entgegne ich, dass auch Chinesen in Deutschland Ausländer sind?

Darauf geht sie nicht ein.

China ist ein Vielvölkerstaat. Unten, am Meer, habe ich eine Skulptur gesehen, die eine chinesische Amazone reitend auf einem kleinen unförmigen Tier zeigt. Sie reckt die Arme in den Himmel und auch ihr Zopf steht senkrecht nach oben, als sei er eine Antenne. Der Körper der Frau mit schmaler Brust und mächtigem Becken, ist in der Pose einer seltsam fremden Siegerin modelliert. Den chinesischen Minderheitenhat der Künstler seine Skulptur gewidmet. 

An Universitäten kommen alle zusammen. Han und Hui, Kadai, Miao-Yao, Uiguren, Kasachen, Kirgisen, Tadschiken…

Die Studienplätze werden nach einem regionalen Schlüssel vergeben. Und damit sie sich zu Hause fühlen, gibt es in der Mensa regionale Küchen. Denn der Norden isst salzig, der Süden isst süß, der Westen scharf und der Osten sauer, heißt es.

Was möchtest du essen?, fragen meine Studenten.

Ich bin hier, um neue Erfahrungen zu machen, sollen sie mir etwas empfehlen.

Welche Richtung? Nudeln oder Reis? Fleisch oder vegetarisch? Scharf oder mild?

Süßsauer, sage ich.

Ausgerechnet das, was bei uns auf jeder chinesischen Menükarte steht, gibt es hier nicht.

Als ich wenig später an der Kasse im Campusladen hinter zwei Afrikanern stehe, fällt mir auf, dass es hier so gut wie keine ausländischen Studenten gibt. Die beiden kommen aus Zimbabwe, erfahre ich, also aus einer – zumindest auf dem Papier – sozialistischen Republik.

Ausländische Studenten gibt es hier wirklich wenig[4], während das sogenannte Expertenhaus mit ausländischen Lehrenden durchaus gefüllt ist. Gäste auf Zeit, von denen man lernen kann. Aber danach sollen sie wieder nach Hause. Keine Daueranstellungen, keine Rentenversicherung. Auch nicht für den Kollegen, der seit Jahren hier ist, mittlerweile verheiratet mit einer Chinesin und einen kleinen deutsch-chinesischen Sohn hat. Eine Rentenversicherung für Ausländer in China, das hat es noch nicht gegeben.

Wir sind so viele, heißt es immer wieder.

Und das spürt man sogar in Deutschland, denn chinesische junge Menschen bilden die größte Gruppe ausländischer Studenten hierzulande.

Und so ist immer etwas zu viel und immer etwas zu wenig und immer etwas zu groß und immer etwas zu klein.

Und der mittlere Weg, der zum Ziel führt, scheint uns verborgen.  

In: Monika Littau, Von der Rückseite des Mondes, Schiedlberg/Österreich (Bacopa), 2019, S. 32ff.


[1] Abitur

[2]Bei den „Roten Liedern“ handelt es sich um einen Kanon von Liedern, die anlässlich des 90. Jahrestages der KP in Massenveranstaltungen gesungen wurden und die Revolution und das Vaterland lobpreisen.

[3] Text aus der Hymne der Streitmächte

[4] China 2013 – 0,28 %, Deutschland 2013 – 11,3 % ausländische Studenten

„Was ist es also, das alles vermag?“

Mir gefällt die Fiktion einer Nicht-Einreise von Mischa Leinkauf, weil sie subversiv ist und das Potential hat, das vorherrschende Denken in Grenzen aufzubrechen. In seiner Videoarbeit aus dem Jahr 2019 ist nachzuverfolgen, wie er auf dem Meeresgrund die nicht-sichtbare Grenze zwischen Israel und Jordanien bzw.  Ägypten im Roten Meer sowie der spanischen Enklave Ceuta und Marokko in der Straße von Gibraltar durchschreitet. Auf dem Meeresgrund sind geschickt die offiziellen Autoritäten, die den Zugang zu den nationalen Territorien regeln, zu umgehen. Und, sind einmal die Grenzzäune, die an den Ufern teilweise bis in eine Tiefe von 30 Metern reichen, überwunden, eröffnet sich eine Landschaft, die grenzenlos ist und für die keine Form der Absicherung mehr Bestand hat:  die weite Wasserlandschaft des Meeres.

Nach traditioneller chinesischer Vorstellung ist Wasser das Blut der Erde. Es sammelt sich in Himmel und Erde, es dringt in Metall und Gestein ein und es konzentriert sich in den Lebewesen. Im Buch Guanzi, das aus vermischten Quellen mit außerordentlich tiefsinnigen Bemerkungen über das Dao besteht und ca. 300 v.Chr. zusammengestellt wurde, heißt es: „Was ist es also, das alles vermag? Es ist das Wasser. Nicht eines der mannigfaltigen Dinge gibt es, das nicht aus ihm hervorgeht. Nur wer (mit seinen Prinzipien) umzugehen weiß, kann in rechter Weise handeln …. Für den Weisen ist daher das Wasser der Schlüssel zur Wandlung der Welt. Denn wenn das Wasser unvergiftet ist, ist das Herz befriedet. Ist das Herz der Menschen lauter, so ist nichts Böses in ihrem Wandel. Wenn der Weise daher die Welt regiert, so lehrt er nicht jeden einzelnen Menschen oder jedes einzelne Haus, sondern nimmt sich das Wasser als Schlüssel.“ (zitiert nach: Fung Yu-lan, A History of Chinese Philosophy. 2 Bde., LPrinceton University Press, 1952-1953,  Zitat: Bd. I, S. 166-167)  

Während vor unserer Tür ein grausam mächtiger Mann Land in seinen Herrschaftsbereich zurückzubomben versucht, könnte der Blick in die Weite des Meeres Entlastung bringen, wenn da nicht die Flüchtlinge wären, die in ihm vor den Grenzen Europas ertrinken. Ich möchte mich Mischa Leinkauf  anschließen, der das Wasser, das Fluide des Meers als das Medium erkannt hat, das die Barrieren und Grenzen unterwanderbar macht. „Das Allerweichste auf Erden überwindet das Allerhärteste auf Erden“ (Buch Huainanzi, ein weiteres Buch mit vermischten Quellen, das von Gelehrten am Hof des Liu An, gest. 122 v.Chr. kompiliert wurde).   

Zwangsläufig

Wissen und Wahrheit ändern sich zwangsläufig, je nach dem Herrschaftssystem, dem sie unterliegen. U.a. am Beispiel Russlands, aber auch vieler anderer Länder lässt sich dies mehr als deutlich ersehen.

Das Denken soll ins Offene führen, ebenso wie der Weg des Gehenden ins Offene führt. Es soll sich im Erleben und Handeln erschließen und unsere Existenz wesentlich betreffen. Wie dies im Kontext der chinesischen Kulturgeschichte aussehen könnte, will ich im Rückbezug auf den Gastbeitrag von Matthis Drescher darlegen (siehe den letzten Blogtext und den Kommentar von Markus Simon). Die von Drescher zitierte Zusammenkunft am Orchideenpavillon fand im Jahr 353 unserer Zeitrechnung statt und wurde mit einem berühmten Werk der chinesischen Schriftkunst, dem Prolog zur Zusammenkunft am Orchideenpavillon (lanting xu), verewigt. Das Original ging schon bald verloren. Es blieb allerdings in zahlreichen Nachschriften und Steinabreibungen erhalten und diente so späteren Generationen von Malern und Kalligrafen als anschauliche Vorlage zum Studium eines vorbildlichen Beispiels des kursiven Kalligrafie-Stils, der Schreibschrift xingshu. Die Verehrung der Kalligrafie Wang Xizhis王羲之 (307-361 n.Chr.), der den Prolog niedergeschrieben hatte,  durch den Tang-Kaiser Tai Zong (regierte von 626 bis 649 n.Chr.), ging der Sage nach so weit, dass er dieses Werk, das von ihm in den Range eines klassischen Ideals erhoben worden war, mit in sein Grab nahm. Dort lebt es, tief verborgen, als Mythos fort.

Die Kopien des Lanting xu wurden zum Gegenstand für das reine Denken und Fühlen, womit wir aus chinesischer Perspektive zwei mögliche Synonyme für den Begriff der „Erinnerung“ haben. Sich zu erinnern, heißt, losgelöst von den Zwängen der Gegenwart, rein zu denken und zu fühlen. Darüber hinaus übermittelt der Prolog zur Zusammenkunft am Orchideenpavillon (lanting xu) über die Jahrhunderte hinweg die Botschaft, dass Trauer und Melancholie kein Zeichen von Schwäche sind, wie es unsere moderne Sicht auf die Gefühlswelt des Menschen nahelegt. Diese muss nicht immer „positiv“ sein. An den Gefühlen der Trauer und Melancholie zeigt sich vielmehr, dass das menschliche Verhältnis zur Welt nicht zwangsläufig auf einer unerschütterlichen Gewissheit um die eigene Kultur und das eigene Leben beruht, sondern ebenso aus der Irritation und dem Zweifel an beiden hervorgehen kann: der eigenen Kultur und dem eigenen Leben.

Viel bedeutsamer als die Lehren des „positiv thinking“ ist, dass sich bei diesem Zusammensein die Menschen in Übereinstimmung mit dem Wirken der Natur (natura naturans) im freien Umgang mit den Wörtern und Zeichen und ihren Bedeutungen ergehen. Was in der Natur die Reinheit der Luft und das Wohltuende des Windes sind, das sind in der kultivierten Runde die Reinheit des Gedankens und das Wohltuende des Ausdrucks. Die Anwesenden geben sich den Eindrücken der sie umgebenden Naturlandschaft hin sowie gleichzeitig ihren Gefühlen, die sie aus der Anschauung der Dinge und dem geselligen Miteinander beziehen. Daraus entsteht in der Runde eine ganz eigene Wirklichkeit, die neben die „wirkliche“ Wirklichkeit tritt. Es werden mögliche Welten erfühlt, wobei das Mögliche zum Wirklichen im tieferen Sinn wird. Und dessen sind sich die Anwesenden bewusst – voller Melancholie und voller Trauer, weil sie im vollen Bewusstsein um die Vergänglichkeit der Zusammenkunft am Orchideenpavillon den Augenblick erleben.   

Erinnerung

Mein erster Beitrag im Jahr 2023 ist auf erfreuliche Resonanz gestoßen. Ich möchte auf die sehr lesenswerten Kommentare verweisen, die sich in meinem Blog finden. Ich freue mich, dass Matthias Drescher, der schon einmal einen Gastbeitrag schrieb, den Ball ebenso aufgenommen hat. Sein neuer Text ist dem Thema der „Erinnerung“ gewidmet. Matthias Drescher schöpft aus einem reichen Fundus an Vorarbeiten und Ideen, da er erst jüngst ein Buch mit dem Titel „Bilder, die ins Vergessen führen“ verfasste. Es ist 2022 bei PalmArtPress erschienen. Sein Text kreist um die Textstelle aus dem Buch Kohelet: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne„, die ich in meinem letzten Blogtext „stumm“ zitierte.

Aufgrund meiner Auseinandersetzung mit China – Matthias Dreschers Buch Bilder, die ins Vergessen führen lebt auch aus Betrachtungen und Analysen zur chinesischen Kulturgeschichte –  bin ich mir der Rolle bewusst, die eine zu erinnernde Vergangenheit für eine ganze Nation, ein ganzes Land spielen kann. Gleichzeitig erschrecke ich aber auch, wenn ich erlebe, wie weltweit – und auch in China – Erinnerung für politische Zwecke instrumentalisiert wird und die kleinen Traditionen, die keinen Eingang in die „erinnerungswürdige“ große Tradition finden, schlichtweg dem Vergessen anheimfallen. Die tagtäglich zu erlebende Erinnerungslosigkeit – es gibt nicht allzu wenige, die heute schon nicht mehr wissen, was sie am letzten Wochenende gemacht oder gesagt haben – ist ein anderes Thema, auf das ich hier nicht eingehen möchte.

Ich bin Matthias Drescher sehr dankbar für den Text und die Entscheidung, diesem ein Zitat des Großmeisters der chinesischen Schriftkunst Wang Xizhi王羲之 (307-361 n.Chr.) voranzustellen.     

Matthias Drescher

Erinnerung

„Unsere Nachfahren werden auf uns Heutige schauen so wie wir auf unsere Vorfahren schauen, mit Trauer im Herzen. Deshalb zeichne ich das Leben meiner Zeitgenossen auf und halte fest, was sie hervorgebracht haben. Die Zeiten und Lebensumstände ändern sich, aber die Beweggründe für unsere Gedanken und Empfindungen bleiben dieselben. Wenn spätere Generationen diese Zeilen lesen, dann werden auch sie von ihnen berührt werden.“

So endet der „Prolog zur Zusammenkunft am Orchideenpavillon“ (Lanting Xu von Wang Xizhi, in der Übersetzung von Brigitta Diep) aus dem Jahr 353 n. Chr.[1]

Der Lanting Xu berührt uns tatsächlich, über Jahrhunderte und Kulturgrenzen hinweg, und zwar gleich mehrfach, auf verschiedenen Ebenen. Zunächst ist es die Schilderung an sich, eines heiteren Frühlingstreffens von Freunden, die sich an einem Bach gegenseitig Gedichte vortragen. Ein idyllisches Bild, das uns vertraut erscheint, auch wenn wir nichts derartiges erlebt haben. Man wäre gerne dabeigewesen und fühlt sich den Teilnehmern nah, erfreut und zugleich erstaunt, daß dies über eine solche Distanz möglich ist. Aber Wang Xizhi hat recht, die Freude enthält Wehmut, und die ist ebenfalls erstaunlich. Denn seine Schilderung läßt uns am Lebensgenuß teilhaben, nicht an Negativem – warum also „Trauer im Herzen“? Tatsächlich beschwört der Dichter selbst dieses Gefühl, indem er die Vergänglichkeit ins Spiel bringt: “Was heute noch das Herz erfreut, kann morgen schon der Vergangenheit angehören.“ Nur weil alle wissen, wie flüchtig das Leben ist, können sich die Menschen über Generationen hinweg verstehen, und nur darum erfassen sie die Schönheit der erinnerten Szene.

Für den chinesischen Dichter bleiben die eigentlichen Beweggründe des Menschen immer dieselben. Daß er damit nicht alleine ist, zeigt Heinrich Geigers Zitat aus dem Buch Kohelet: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ Auch Kohelet klagt über die Vergänglichkeit, nennt den Menschen einen „Windhauch“ und empfiehlt, die guten Zeiten als Gaben Gottes zu genießen. An anderer Stelle sagt er: „Es gibt kein Glück, es sei denn, der Mensch kann durch sein Tun Freude gewinnen“. Das paßt ebenfalls zum Lanting Xu, wo es heißt: „So können wir nichts Besseres tun, als unsere innere Entwicklung voranzutreiben.“

Das Leben der Zeitgenossen darstellen und späteren Generationen zeigen, daß das Wichtigste gleichbleibt – so versteht Wang Xizhi seine Aufgabe. Ein klares Programm, nüchtern formuliert, das man in der altchinesischen Kunst überall wiederfindet. Es verwandelt das Wissen der Menschen um ihre Vergänglichkeit in wehmütige Einigkeit über die Generationen hinweg.

Der Westen und seine Kunst sind völlig anders geprägt. Ans ewige Leben zu glauben, ist das Gegenteil von „Trauer im Herzen“. Christliche Kunst diente dazu, den Glauben zu stärken – Tristitia[2] und melancholische Erinnerungen waren dagegen suspekt, und sie blieben es, nachdem die Jenseitshoffnung zum Fortschrittsglauben mutiert war. Das heißt keineswegs, daß westliche Menschen vergangener Schönheit nicht nachtrauern und daß sie ihren Sog nicht spüren. Auch unsere Kunst ist darauf eingegangen; sie hat das Erinnern genutzt und zeitweise zum Hauptmittel gemacht. Deshalb kommen sich europäische und chinesische Bilder oft nah, und deshalb hat der Lanting Xu Ähnlichkeit mit Gedichten wie Hölderlins „Hälfte des Lebens“.[3]  Aber das sollte über den grundsätzlichen Unterschied nicht hinwegtäuschen: Kein gemeinsames Trauern, sondern seine Hoffnung will das Christentum vermitteln. Wie diese Zukunftsgewandtheit auch ohne Gott erhalten blieb, ist ein eigenes Thema, das sich an der westlichen Malerei verfolgen läßt[4]. Dabei spielte Erinnerung eine wichtige Rolle, aber nur so lange, bis sich die Lebensumstände drastisch und immer schneller veränderten. Denn was ein Künstler erlebt und von der Zukunft erwartet, das kann er schlecht mit Erfahrungen illustrieren, die längst überholt sind.

Wang Xizhi hingegen erreicht sein Ziel auch im Westen. Offenbar ist auch hier das Erinnern noch wirksam, wenn es so existentiell eingesetzt wird wie von ihm. Er will auf die Gemeinsamkeit aller Menschen verweisen, und es gelingt ihm. Er dringt zu uns durch, weil er keine Jenseits- oder Zukunftshoffnung propagiert, sondern nur Einsicht in die Vergänglichkeit: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“.


[1] hier die englische Übersetzung

[2] lt. Gregor dem Großen ein Laster

[3] Hälfte des Lebens
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

[4] Matthias Drescher, Bilder, die ins Vergessen führen, PalmArtPress 2022

Stumm

Im  Alten Testament (Kohelet) steht geschrieben:

Was geschehen ist,

wird wieder geschehen,

was man getan hat,

wird man wieder tun:

Es gibt nichts Neues unter der Sonne.

Beim Blick auf die aktuellen Geschehnisse weltweit, möchte man zustimmend nicken. Ja, diese Feststellung ist nicht aus der Zeit gefallen, sondern hat eine unveränderte Gültigkeit. Die Frage ist nur, wie mit ihr umgehen?

Der ästhetische Spaziergänger zwischen Ost und West stellt fest, dass im chinesischen Denken die Grenzen zwischen Vergangenheit und Zukunft verschwimmen. Man erforscht die Zukunft, aber auch die Vergangenheit, wobei allerdings ein wesentlicher Unterschied in der Herangehensweise besteht: Das Erbe der Vergangenheit ist unbedingt zu bewahren, während die Zukunft im Rahmen einer rein wissenschaftlichen Sichtweise als reine Utopie auftreten darf, also grundsätzlich offen ist, ohne dass Einsprüche „moralischer“ oder „religiöser“ Natur eine Rolle spielen würden. Zum Beispiel in der Gentechnik ist alles möglich, was möglich ist, kein Ethikrat existiert, der sich zu Wort melden könnte. Sakrosankt ist nur die Machtfrage und zwar aufgrund einer Logik, die wiederum  mit dem Zeitverständnis eng zusammenhängt: Der Fokus auf das Jetzt ist allmächtig, denn Zukunft und Vergangenheit fallen in der Gegenwart zusammen. Da es keine Vorstellung von einem Uranfang, aber auch keinen Begriff des Weltendes gibt, ist diese Ordnung auf eine gänzlich undynamische Weise auf Ewigkeit gesetzt. Wolfgang Bauer bezeichnet diese Art von Zeitverständnis als „unaufgefaltet“. Es wird von der Struktur der Sprache getragen.

Beim Chinesischen handelt es sich um eine isolierte Sprache; Aussagen werden zunächst einmal nicht in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft angesiedelt. Der Zeitaspekt kann nur unter Zuhilfenahme von Hilfswerben ausgedrückt werden. Obwohl in der Moderne die Zeitlosigkeit der Aussagen durch Suffixe behoben wurde, verließ die chinesische Sprache den einmal eingeschlagenen Weg nicht. Bis jetzt verschluckt sie in ihrer schriftlichen Form alle zeitbedingten lautlichen Veränderungen. Neues kann sich nur in der andersartigen Gruppierung der vielen Einzelzeichen bemerkbar machen, weshalb im chinesischen Denken der Satz „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“ aufgrund des in der chinesischen Sprache angelegten flächigen Zeitbegriffs nicht zu überraschen vermag – dies im Gegensatz zum endzeitlich orientierten christlichen Denken, das linear angelegt ist und aufgrund seiner  linearen Struktur und der dieser eigentümlichen Dynamik mit dem alttestamentlichen Befund aus dem Buch Kohelet nicht mehr umgehen kann.

Zurück zum chinesischen Denken, zur chinesischen Sprache und zu der Frage, wie die VR China mit aktuellen Geschehnissen, wie zum Beispiel dem Krieg in der Ukraine und der damit einhergehenden Bedrohung des Weltfriedens, umzugehen vermag? Da in einem System, das zyklischer Natur ist, zwar Veränderung, aber keine Entwicklung im eigentlichen Sinne möglich ist, überrascht die distanzierte, unaufgeregte  Haltung der chinesischen Regierung in diesem Fall genauso wenig wie in dem Fall ihrer auf Zeit spielenden Klimapolitik. Das „Was geschehen ist,/ wird wieder geschehen,/ was man getan hat,/ wird man wieder tun“ ist also gleichsam Teil eines Systems, dem endzeitliche Szenarien, wie wir sie aus dem christlichen Kontext kennen, letztendlich fremd sind. Einzig entscheident ist der Blick auf die Situation im Hier und im Jetzt, da in jeder gegebenen Situation latent, ganz im Verborgenen, auch alle anderen enthalten sind. Es gilt, klar analysierend, mit klarem Kopf vorzugehen und dabei alle Faktoren im Blick zu haben, um nicht aus der gegebenen Situation die falschen Konsequenzen zu ziehen – und das hat mit Moral, mit Ethik und mit Religion im christlich-abendländischen Sinne überhaupt nichts zu tun. So wie die chinesische Schriftsprache ein stummes Kommunikationsmittel ist (die Schriftzeichen kommen meist ohne eine bestimmte Lautung aus), scheint auch der chinesische Umgang mit weltpolitischen Entscheídungen stumm zu sein. „No comment!“  Wichtig ist nur die Frage, wer dieses System zwischen Himmel und Erde am Laufen hält: Und das ist der allmächtige Herrscher, der Sohn des Himmels oder, mit heutigen Worten, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), der gleichzeitig Staatspräsident und Oberster Befehlshaber der Armee ist.