Taiwan

Oft wird Taiwan als kohärente Einheit gegenüber Festland China betrachtet. Allerdings fehlt es an einer solchen Kohärenz. Wie noch bei wenigen Reisen zuvor, habe ich bei meinem Taiwanaufenthalt im Frühjahr des Jahres gespürt, dass es ein universales Recht gibt, von dem wenig gesprochen wird: das Recht auf Verschiedenheit von und vor allen vorgefertigten kulturellen und politischen Zuschreibungen. Wobei dieses Recht nicht nur für Staaten, sondern auch für einzelne Bevölkerungsgruppen gelten sollte.

Im Alltagsleben Taiwans ist allenthalben die japanische Prägung spürbar. Die fünzigjährige japanische Kolonialherrschaft hat bleibende Spuren hinterlassen. Ein kurzer Blick zurück: Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Taiwan durch die Kolonialherrschaft Japans modernisiert und japanisiert. Jeder Taiwaner musste die japanische Schrift und Sprache lernen und den Treueschwur auf den japanischen Kaiser leisten, was bedeutete, ein Japaner zu werden. Im Straßenbild sind nach wie vor die baulichen Zeugnisse der japanischen Herrschaft zu erkennen. Nach der Kapitulation Japans im August 1945 wurde Taiwan der vom Bürgerkrieg zerrissenen chinesischen Republik überantwortet. Von der Entwicklung, die danach das chinesische Festland nahm, unterschied es sich dadurch, dass ihr Ausgangspunkt keine „Befreiung“ durch eine revolutionäre Bewegung (in diesem Fall die Kommunistische Partei Chinas)  war. Die alteingesessenen Taiwaner haben keine Erfahrungen im Kampf gegen Japan im Zweiten Weltkrieg gemacht. Ebenso fehlen ihnen die Fluchterlebnisse. Das erzeugte und erzeugt auch heute noch Unverständnis zwischen den Bevölkerungsgruppen und führte zu einer Spaltung der politischen Erwartungen und Orientierungen im Blick auf die Zukunft des Landes, nämlich Wiedervereinigung mit China einerseits und Unabhängigkeit von China andererseits.   

Von der Volksrepublik China unterscheidet sich Taiwan auch dadurch, dass es erfolgreich den Übergang von einem autoritären Regime zum demokratischen Rechtsstaat meisterte. Erste Schritte waren bereits unter Tschiang Tsching-kuo (Chiang Ching-kuo, Jiang Jingguo), dem Sohn Tschiang Kai-scheks (Chiang Kai-shek, Jiang Jieshi), eingeleitet worden. Unter Lee Teng-hui, der nach dessen Tod im Jahr 1988 Präsident wurde, machte der Inselstaat Taiwan, der sich nach wie vor als die 1912 von Sun Yat-sen gegründete Republik China versteht, den tiefgreifendsten Wandel in seiner Geschichte durch. Nachdem die USA unter Präsident Carter in der Anerkennung Chinas die Seiten gewechselt hatten, musste die taiwanesische Elite erkennen, dass zur Wahrung eines soliden Restbestands an amerikanischer Unterstützung das alte, autoritäre Regime nicht mehr taugte. Lee Teng-hui, der 1996 als erstes Staatsoberhaupt in der chinesischen Geschichte demokratisch gewählt wurde, brachte den Umschwung, wobei  nicht nur Taktik, sondern auch Überzeugung im Spiel war. Für Lee „ist Demokratie universal“. Die Reife der Demokratie in Taiwan wurde im Jahr 2000 durch die Präsidentschaftswahlen, die zur Ablösung von Lee Teng-hui führten, auf eine beeindruckende Weise unter Beweis gestellt.

Auch in Taiwan stellt sich natürlich die Frage, wer „das Volk“ ist? Wer entscheidet über den „selbstbestimmten Weg“, seine Inhalte, seine Ziele? Und, was geschieht mit den Gegnern dieses Weges? Zu beobachten ist auf jeden Fall, dass in Taiwan sehr unterschiedliche kulturelle Gedächtnisse miteinander konkurrieren. Dies lässt sich historisch folgendermaßen einordnen: Nach der Aufhebung des Ausnahmezustandes im Jahr 1987 begannen die alteingesessenen Taiwaner ihre eigene Identität zu suchen. Ein Beispiel. Im Jahre 1996 beauftragte das Kultusministerium den damaligen Vorsitzenden des „Institute of History and Philology Academia Sinica“ mit der Leitung des Redaktionsauschusses der Geschichtsbücher für den gymnasialen bzw. High School-Unterricht. Dieser kritisierte an der bisherigen Ausrichtung der Geschichtsbücher zwei Punkte: den Mangel an taiwanesischer Geschichte und die sterotype Vereinfachung bzw. Vereinheitlichung der chinesischen Geschichte. Seinem Vorschlag zufolge sollte Taiwan im Zentrum des Interesses stehen. Tu, so hieß der Leiter des Redaktionsauschusses, orientierte sich an einer Vorstellung von Taiwan als einer Bühne der menschlichen Aktivität, auf der alle ethnischen Gruppen auftreten. Ausgehend von dem Gedanken einer regionalen statt nationalen Geschichtsschreibung gliederte er den Geschichtsunterricht in fünf Schritte: zunächst die taiwanesische Geschichte von den Urvölkern bis zur Gegenwart, dann die chinesische Geschichte, danach die der südost- und nordasiatischen Nachbarstaaten Taiwans und schließlich die europäische Geschichte und die Geschichte der restlichen Staaten. Eine heftige Diskussion entbrannte. Um diese sich schnell politisierende Diskussion zu beenden, entschied schließlich das Kultusministerium, den Redaktionsausschuss aufzulösen. Grundgedanke: Ein Feuer kann schnell zu einem Flächenbrand werden, wenn es auf dem trockenen Boden des Nationalismus entzündet wird.

Folgt man Christopher Hughes, dessen Buch Taiwan and Chinese Nationalism: National Identity and Status in International Society im Jahr 1997 (London, New York: Routledge) erschien, dann war die Demokratisierungspolitik  Lee Teng-huis nur deswegen möglich, weil sie losgelöst von der Frage der nationalen Identität erfolgte. Hughes schreibt: „Es wurde immer klarer, dass die Einheit Chinas nicht mehr länger das letzte Ziel der Republik China war; Ziel war nurmehr die Einheit einer Art von China, deren Verwirklichung wohl Generationen benötigt.“

Gastbeitrag von Monika Littau

Die Gastbeiträge in meinem Blog haben mittlerweile Tradition. Ich empfinde sie als große Bereicherung. Der nachfolgende Text von Monika Littau stammt aus ihrer Zeit als Poet in Residence in Qingdao, VR China. Ihm entnehme ich, welche Voraussetzungen für einen literarisch ertragreichen Aufenthalt in einer fremden Kultur nötig sind: Man muss Lebenserfahrung haben und sich selbst kennen, man muss sich der Komplexität, Unsicherheit und Unkontrollierbarkeit der Welt stellen und unterschiedliche Perspektiven berücksichtigen können. Diese kognitiven Fähigkeiten kommen aber dann erst zum Tragen, wenn es in der konkreten Situation gelingt, auch noch Neugier und Mitgefühl zu aktivieren und dabei die eigenen Emotionen unter Kontrolle zu halten. All das ist in dem nachfolgenden Text von Monika Littau zu spüren.

Bonn, 10.05.2023                                                              Heinrich Geiger

ZUR  PERSON  DER  AUTORIN

Monika Littau studierte Germanistik, Geographie und Musikwissenschaft in Bochum und Münster. Sie war in Forschung, Bildung, Kultur-/Literaturförderung tätig, zuletzt im Kulturministerium NRW.  Seit 2007 arbeitet sie ausschließlich als freie Autorin und Herausgeberin.

Bislang liegen von ihr 20 Einzelveröffentlichungen vor. Zuletzt erschienen 2019 „Von der Rückseite des Mondes“, chinesische Prosaminiaturen, 2020 der Roman „Buchela – Pythia von Bonn“ im Rhein-Mosel-Verlag, 2021 der Band „Manchmal oben Licht. Ein Elternabschied in sieben Stationen“, in dem es um das Thema Demenz, Alter und Tod geht. Ein „Lesebuch Monika Littau“, veröffentlicht 2022, gibt mittlerweile einen Überblick über ihre literarische Arbeit. Zur Leipziger Buchmesse 2023 ist die Wortschau 41 zum Thema „Verwandtes“ neu erschienen. Monika Littau ist Hauptautorin dieser Ausgabe und arbeitete mit der bildenden Künstlerin Alena Steinlechner (Neustadt a.d. Weinstraße) zusammen. 

Monika Littau erhielt für ihre Arbeiten eine Reihe Auszeichnungen und Stipendien. Sie ist Förderpreisträgerin des Landes Nordrhein-Westfalen, wurde zweimal in Berlin mit dem Preis für politische Lyrik ausgezeichnet und durch Stipendien des Landes und der Kunststiftung NRW unterstützt. Sie war Dorfschreiberin in Eisenbach und Poet in Residence in Qingdao/China. 2021 erhielt sie den Bonner Literaturpreis.

TEXT

An der Ocean-University of China in Qingdao

K und k

Flowering Cherry Avenue. Die Zeit der japanischen Kirschblüte ist vorbei. Der Klang des Straßennamens bleibt ganzjährig duftig und sanft. Bunte Isolierkannen setzen Farbtupfer entlang der Straße auf den Bürgersteigen. Sie werden kostenfrei mit warmem Trinkwasser aufgefüllt.

Ich gehe über den Laoshan-Campus der Ocean University of China in den Bergen. Ich gehe durch ein Areal, das durchgängig mit fünfgeschossigen Blocks bebaut worden ist, die aussehen, als stünden sie in Berlin. Schönste Gründerzeitarchitektur, große Steinblöcke an den Häuserecken mit Putzflächen dazwischen, runde Dachgiebel mit Schneckenverzierungen. Ein wenig weiter glaube ich vor der schwangeren Auster zu stehen. Es handelt sich um die Campus-Sporthalle.

Hier oben, nahe den Laoshan-Bergen studieren 30.000 junge Menschen vor allen Dingen Ozeanologie und Polarwissenschaft, ein verschwindend kleiner Teil beschäftigt sich mit Sprachen und erlernt Deutsch. Die Ocean-University wurde 1928 gegründet. Sie besteht heute aus vier Standorten mit insgesamt 120.000 Studierenden. Der gesamte Bau in den Bergen ist noch keine zwanzig Jahre alt. Wie viel schöner ist diese Anlage als manche deutsche Universität, die aus Alt und Neu zusammengestoppelt worden oder als Betonuni nur funktional geplant und trist ist. Das ganze Areal hier ist gestaltet, ein „Man-made Lake“, Wasserläufe, Pflanzen, ein künstlich angelegter Berg zum Spazierengehen.

Mittags ertönt Musik des Campusradios aus den Lautsprechern, zu der die Studentinnen unter ihren bunten Sonnenschirmen Richtung Mensa flanieren. Das wirkt fast surreal und wunderschön. Dazwischen tourt die kleine Elektrobahn wie ein Urlaubervehikel übers Gelände.    

Von allen vier Himmelsrichtungen ist der Zugang zum Campus an Toren möglich. Immer sind dort Schlagbäume, immer gibt es Wächter in Uniform, die entscheiden, wer das Gelände befahren darf.

Seit wenigen Tagen überfallen Eltern mit Studienanfängern das Gelände. Sie wirken fremd und aufgeregt. Und während sich die Zahl ihrer Fahrzeuge mehrt, kommen immer mehr Händler auf den Campus. Sie bieten Handyverträge und Matratzen an, Bettdecken und Waschschüsseln, Isolierkannen und batteriebetriebene Lampen.

Wozu braucht man denn solche Lampen?, frage ich.

Wenn man spät abends noch lesen will, sagen meine Studentinnen.

Damit man die anderen nicht stört, überlege ich laut.

Nein, nein, das Licht wird abgestellt um halb elf. Wir müssen Energie sparen!

Energiesparen?

Unwillkürlich denke ich an die bunten, stets wechselnden Leuchtreklamen der Shoppingmalls. Ich denke an strenge Eltern, die das Licht abends löschen und ich denke an katholische Kinderheime, zu deren Verhaltenskodex es gehört, die Hände auf die Bettdecke zu legen.  

Batteriebetriebene Lampen sind begehrt.

Es kommen auch kleine Lieferwagen, die ein Zelt, Tische und Stühle aufbauen und Essen verkaufen.

Und dann gibt es natürlich noch die vielen kleinen Mopeds, die Essen auf Rädern in die Studentenheime bringen.

An der Tür unseres Seminarraums hängt ein Schild: Händler dürfen den Unterricht nicht stören. Ich verstehe nicht, warum es dieses Schild an der Tür geben muss.

„Die Händler kamen bis ins Seminar“, erklären meine Studentinnen.

Ich schüttele den Kopf. Warum ist der Zugang zur Universität für Bürger beschränkt? Warum dürfen private Händler auf dem Campus alles Mögliche verkaufen?

Warum sind die meisten chinesischen Millionäre Mitglied der KP? Wo spricht überall die Partei mit? Ich kann es nicht sehen, ich kann es nur ahnen. Ich kann nur fragen: k oder k? Was ist hier kapitalistisch, was kommunistisch? Wie funktioniert das System?

(…)

Blau, weiß, rot

Blauweiße Ringelhemden, blaue kurze Hosen. 30, 40 Studenten, gleich gekleidet, Gleichschritt. Tags drauf sieht man auf den Balkonen der Studentenwohnheime, überall gleich, die blau-weißen Ringelhemden flattern.

Studenten in Blauweiß, Studenten der Meereswissenschaften, der Fischereiwissenschaften, der Ingenieurwissenschaften.

Sie haben sich verpflichtet bei der Marine. Blau ist das Meer. Weiß ist der Himmel vielleicht, sind die Schaumkronen auf dem Wasser. Gestreift dreimal blau, zweimal weiß, ist die Dienstflagge der Seestreitmächte im unteren Teil des Bildes. Darüber die Hälfte ist rot, trägt den einen großen Stern und das Datum der Gründung der chinesischen Befreiungsarmee: 1. August 1927. Grau dagegen sind – wie überall auf der Welt – die Fregatten, Korvetten und anderen Schiffe, die in der geschützten Bucht von Qingdao stationiert sind und im Hafen liegen.

Bald drängeln sich gut gelaunte Erstsemester in Tarnanzügen auf den Sportplätzen der Universität in den Bergen. Sie sind allgegenwärtig, verstopfen die Mensa, lachen an der Kasse im kleinen Laden auf dem Campus. Für sie beginnt ein neuer Lebensabschnitt, das Studium. Und die Freude darüber sieht man ihnen an. Wer das Kaukau[1] geschafft hat, der kommt weiter im Leben, wenn er sich an die Spielregeln hält. Und Spielregeln werden geübt, zunächst in einer vierzehntägigen militärischen Grundausbildung.

Aus dem ungeordneten Haufen strahlender Erstsemester formieren sich quadratische Blöcke, die im Gleichschritt marschieren. Wenig später erklingt blechern die Hymne der Befreiungsarmee. Das ist eine Melodie, zu der es sich leicht geht, wie an einem Wandertag, wie bei der Besteigung eines Gipfels. Die Melodie schraubt sich auf zu einem blechernen Siegestirilieren.

„Wir sind Söhne und Brüder von Arbeitern und Bauern“ heißt es im Liedtext der Hymne, die, Teil der roten Lieder[2], auf dem Campus nur in Instrumentalfassung zu hören ist.

Der Ton wird in den zwei Wochen rauer, der Tritt sicherer, die Gesichter der jungen Männer und Frauen blicken ernster.

Sie „Marschieren zum Sieg/Zur Befreiung des ganzen Landes!“[3], sind Teil der größten Armee der Welt, die sich auch von denen befreit, die nicht marschieren wollen. 

„Verhasst“ sei diese Grundausbildung, höre ich von dem einen, „so begehrt“, dass nicht für alle eine vollständige Ausbildung angeboten werden könne, von dem anderen.

„Da ist einer aus dem Tritt“, höre ich Meng sagen. „Oh, das gibt Ärger.“

Zu viel oder zu wenig

Da fehlt jemand!

Gute Bäume fehlt, sagen die Studentinnen. Sie ist noch bei ihrer Familie und krank.

Das Reisen nach Hause bedeutet für viele eine kleine Weltreise. So auch für Gute Bäume. Sie kommt aus dem äußersten Nordwesten. Ich mutmaße aus dem Gebiet der Uiguren oder Mongolen. Nach Hause, das sind für sie circa 2000 Kilometer Fahrt.

Da das Reisen im Land bereits über so große Distanzen geht, relativiert sich auch das Reisen in der Welt. Ein Teil meiner Studentinnen war in den vergangenen Wochen in Kassel zu einem Deutschkurs. Während des bereits laufenden Semesters verlässt Morgenweisheit unseren Kurs, um in Japan Deutsch zu studieren. Verrückt, denke ich. Deutschlernen in Japan. Aber vielleicht ist es die einzige Möglichkeit in dieser Lebensphase dem chinesischen Drill zu entgehen?

Der Mann einer Kollegin besucht zur Computermesse vier Tage Berlin. Und da bleibt noch ein Tag übrig, um kurz nach Paris zu fliegen. Er kommt zurück mit dem Schluss: Europa ist nicht modern.

Europa pflegt sein historisches Erbe, sage ich. Europa hat noch eine Vorstellung von Stadt, die sich nicht in Shopping-Malls erschöpft. Die europäische Stadt hat ein Rathaus und einen Marktplatz und mindestens eine Kirche…

Gute Bäume trifft in der dritten Woche ein. Sie hatte nicht nur eine lange Reise, sie musste auch zum Arzt, weil ein kleiner Hund sie gebissen hatte.

Auch Gute Bäume war schon in Deutschland, und zwar in Berlin. Und, wie hat es ihr dort gefallen?

Zu viele Ausländer, sagt sie. Das hat mir nicht gefallen.

Aber du weißt, entgegne ich, dass auch Chinesen in Deutschland Ausländer sind?

Darauf geht sie nicht ein.

China ist ein Vielvölkerstaat. Unten, am Meer, habe ich eine Skulptur gesehen, die eine chinesische Amazone reitend auf einem kleinen unförmigen Tier zeigt. Sie reckt die Arme in den Himmel und auch ihr Zopf steht senkrecht nach oben, als sei er eine Antenne. Der Körper der Frau mit schmaler Brust und mächtigem Becken, ist in der Pose einer seltsam fremden Siegerin modelliert. Den chinesischen Minderheitenhat der Künstler seine Skulptur gewidmet. 

An Universitäten kommen alle zusammen. Han und Hui, Kadai, Miao-Yao, Uiguren, Kasachen, Kirgisen, Tadschiken…

Die Studienplätze werden nach einem regionalen Schlüssel vergeben. Und damit sie sich zu Hause fühlen, gibt es in der Mensa regionale Küchen. Denn der Norden isst salzig, der Süden isst süß, der Westen scharf und der Osten sauer, heißt es.

Was möchtest du essen?, fragen meine Studenten.

Ich bin hier, um neue Erfahrungen zu machen, sollen sie mir etwas empfehlen.

Welche Richtung? Nudeln oder Reis? Fleisch oder vegetarisch? Scharf oder mild?

Süßsauer, sage ich.

Ausgerechnet das, was bei uns auf jeder chinesischen Menükarte steht, gibt es hier nicht.

Als ich wenig später an der Kasse im Campusladen hinter zwei Afrikanern stehe, fällt mir auf, dass es hier so gut wie keine ausländischen Studenten gibt. Die beiden kommen aus Zimbabwe, erfahre ich, also aus einer – zumindest auf dem Papier – sozialistischen Republik.

Ausländische Studenten gibt es hier wirklich wenig[4], während das sogenannte Expertenhaus mit ausländischen Lehrenden durchaus gefüllt ist. Gäste auf Zeit, von denen man lernen kann. Aber danach sollen sie wieder nach Hause. Keine Daueranstellungen, keine Rentenversicherung. Auch nicht für den Kollegen, der seit Jahren hier ist, mittlerweile verheiratet mit einer Chinesin und einen kleinen deutsch-chinesischen Sohn hat. Eine Rentenversicherung für Ausländer in China, das hat es noch nicht gegeben.

Wir sind so viele, heißt es immer wieder.

Und das spürt man sogar in Deutschland, denn chinesische junge Menschen bilden die größte Gruppe ausländischer Studenten hierzulande.

Und so ist immer etwas zu viel und immer etwas zu wenig und immer etwas zu groß und immer etwas zu klein.

Und der mittlere Weg, der zum Ziel führt, scheint uns verborgen.  

In: Monika Littau, Von der Rückseite des Mondes, Schiedlberg/Österreich (Bacopa), 2019, S. 32ff.


[1] Abitur

[2]Bei den „Roten Liedern“ handelt es sich um einen Kanon von Liedern, die anlässlich des 90. Jahrestages der KP in Massenveranstaltungen gesungen wurden und die Revolution und das Vaterland lobpreisen.

[3] Text aus der Hymne der Streitmächte

[4] China 2013 – 0,28 %, Deutschland 2013 – 11,3 % ausländische Studenten

„Was ist es also, das alles vermag?“

Mir gefällt die Fiktion einer Nicht-Einreise von Mischa Leinkauf, weil sie subversiv ist und das Potential hat, das vorherrschende Denken in Grenzen aufzubrechen. In seiner Videoarbeit aus dem Jahr 2019 ist nachzuverfolgen, wie er auf dem Meeresgrund die nicht-sichtbare Grenze zwischen Israel und Jordanien bzw.  Ägypten im Roten Meer sowie der spanischen Enklave Ceuta und Marokko in der Straße von Gibraltar durchschreitet. Auf dem Meeresgrund sind geschickt die offiziellen Autoritäten, die den Zugang zu den nationalen Territorien regeln, zu umgehen. Und, sind einmal die Grenzzäune, die an den Ufern teilweise bis in eine Tiefe von 30 Metern reichen, überwunden, eröffnet sich eine Landschaft, die grenzenlos ist und für die keine Form der Absicherung mehr Bestand hat:  die weite Wasserlandschaft des Meeres.

Nach traditioneller chinesischer Vorstellung ist Wasser das Blut der Erde. Es sammelt sich in Himmel und Erde, es dringt in Metall und Gestein ein und es konzentriert sich in den Lebewesen. Im Buch Guanzi, das aus vermischten Quellen mit außerordentlich tiefsinnigen Bemerkungen über das Dao besteht und ca. 300 v.Chr. zusammengestellt wurde, heißt es: „Was ist es also, das alles vermag? Es ist das Wasser. Nicht eines der mannigfaltigen Dinge gibt es, das nicht aus ihm hervorgeht. Nur wer (mit seinen Prinzipien) umzugehen weiß, kann in rechter Weise handeln …. Für den Weisen ist daher das Wasser der Schlüssel zur Wandlung der Welt. Denn wenn das Wasser unvergiftet ist, ist das Herz befriedet. Ist das Herz der Menschen lauter, so ist nichts Böses in ihrem Wandel. Wenn der Weise daher die Welt regiert, so lehrt er nicht jeden einzelnen Menschen oder jedes einzelne Haus, sondern nimmt sich das Wasser als Schlüssel.“ (zitiert nach: Fung Yu-lan, A History of Chinese Philosophy. 2 Bde., LPrinceton University Press, 1952-1953,  Zitat: Bd. I, S. 166-167)  

Während vor unserer Tür ein grausam mächtiger Mann Land in seinen Herrschaftsbereich zurückzubomben versucht, könnte der Blick in die Weite des Meeres Entlastung bringen, wenn da nicht die Flüchtlinge wären, die in ihm vor den Grenzen Europas ertrinken. Ich möchte mich Mischa Leinkauf  anschließen, der das Wasser, das Fluide des Meers als das Medium erkannt hat, das die Barrieren und Grenzen unterwanderbar macht. „Das Allerweichste auf Erden überwindet das Allerhärteste auf Erden“ (Buch Huainanzi, ein weiteres Buch mit vermischten Quellen, das von Gelehrten am Hof des Liu An, gest. 122 v.Chr. kompiliert wurde).   

Zwangsläufig

Wissen und Wahrheit ändern sich zwangsläufig, je nach dem Herrschaftssystem, dem sie unterliegen. U.a. am Beispiel Russlands, aber auch vieler anderer Länder lässt sich dies mehr als deutlich ersehen.

Das Denken soll ins Offene führen, ebenso wie der Weg des Gehenden ins Offene führt. Es soll sich im Erleben und Handeln erschließen und unsere Existenz wesentlich betreffen. Wie dies im Kontext der chinesischen Kulturgeschichte aussehen könnte, will ich im Rückbezug auf den Gastbeitrag von Matthis Drescher darlegen (siehe den letzten Blogtext und den Kommentar von Markus Simon). Die von Drescher zitierte Zusammenkunft am Orchideenpavillon fand im Jahr 353 unserer Zeitrechnung statt und wurde mit einem berühmten Werk der chinesischen Schriftkunst, dem Prolog zur Zusammenkunft am Orchideenpavillon (lanting xu), verewigt. Das Original ging schon bald verloren. Es blieb allerdings in zahlreichen Nachschriften und Steinabreibungen erhalten und diente so späteren Generationen von Malern und Kalligrafen als anschauliche Vorlage zum Studium eines vorbildlichen Beispiels des kursiven Kalligrafie-Stils, der Schreibschrift xingshu. Die Verehrung der Kalligrafie Wang Xizhis王羲之 (307-361 n.Chr.), der den Prolog niedergeschrieben hatte,  durch den Tang-Kaiser Tai Zong (regierte von 626 bis 649 n.Chr.), ging der Sage nach so weit, dass er dieses Werk, das von ihm in den Range eines klassischen Ideals erhoben worden war, mit in sein Grab nahm. Dort lebt es, tief verborgen, als Mythos fort.

Die Kopien des Lanting xu wurden zum Gegenstand für das reine Denken und Fühlen, womit wir aus chinesischer Perspektive zwei mögliche Synonyme für den Begriff der „Erinnerung“ haben. Sich zu erinnern, heißt, losgelöst von den Zwängen der Gegenwart, rein zu denken und zu fühlen. Darüber hinaus übermittelt der Prolog zur Zusammenkunft am Orchideenpavillon (lanting xu) über die Jahrhunderte hinweg die Botschaft, dass Trauer und Melancholie kein Zeichen von Schwäche sind, wie es unsere moderne Sicht auf die Gefühlswelt des Menschen nahelegt. Diese muss nicht immer „positiv“ sein. An den Gefühlen der Trauer und Melancholie zeigt sich vielmehr, dass das menschliche Verhältnis zur Welt nicht zwangsläufig auf einer unerschütterlichen Gewissheit um die eigene Kultur und das eigene Leben beruht, sondern ebenso aus der Irritation und dem Zweifel an beiden hervorgehen kann: der eigenen Kultur und dem eigenen Leben.

Viel bedeutsamer als die Lehren des „positiv thinking“ ist, dass sich bei diesem Zusammensein die Menschen in Übereinstimmung mit dem Wirken der Natur (natura naturans) im freien Umgang mit den Wörtern und Zeichen und ihren Bedeutungen ergehen. Was in der Natur die Reinheit der Luft und das Wohltuende des Windes sind, das sind in der kultivierten Runde die Reinheit des Gedankens und das Wohltuende des Ausdrucks. Die Anwesenden geben sich den Eindrücken der sie umgebenden Naturlandschaft hin sowie gleichzeitig ihren Gefühlen, die sie aus der Anschauung der Dinge und dem geselligen Miteinander beziehen. Daraus entsteht in der Runde eine ganz eigene Wirklichkeit, die neben die „wirkliche“ Wirklichkeit tritt. Es werden mögliche Welten erfühlt, wobei das Mögliche zum Wirklichen im tieferen Sinn wird. Und dessen sind sich die Anwesenden bewusst – voller Melancholie und voller Trauer, weil sie im vollen Bewusstsein um die Vergänglichkeit der Zusammenkunft am Orchideenpavillon den Augenblick erleben.   

Erinnerung

Mein erster Beitrag im Jahr 2023 ist auf erfreuliche Resonanz gestoßen. Ich möchte auf die sehr lesenswerten Kommentare verweisen, die sich in meinem Blog finden. Ich freue mich, dass Matthias Drescher, der schon einmal einen Gastbeitrag schrieb, den Ball ebenso aufgenommen hat. Sein neuer Text ist dem Thema der „Erinnerung“ gewidmet. Matthias Drescher schöpft aus einem reichen Fundus an Vorarbeiten und Ideen, da er erst jüngst ein Buch mit dem Titel „Bilder, die ins Vergessen führen“ verfasste. Es ist 2022 bei PalmArtPress erschienen. Sein Text kreist um die Textstelle aus dem Buch Kohelet: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne„, die ich in meinem letzten Blogtext „stumm“ zitierte.

Aufgrund meiner Auseinandersetzung mit China – Matthias Dreschers Buch Bilder, die ins Vergessen führen lebt auch aus Betrachtungen und Analysen zur chinesischen Kulturgeschichte –  bin ich mir der Rolle bewusst, die eine zu erinnernde Vergangenheit für eine ganze Nation, ein ganzes Land spielen kann. Gleichzeitig erschrecke ich aber auch, wenn ich erlebe, wie weltweit – und auch in China – Erinnerung für politische Zwecke instrumentalisiert wird und die kleinen Traditionen, die keinen Eingang in die „erinnerungswürdige“ große Tradition finden, schlichtweg dem Vergessen anheimfallen. Die tagtäglich zu erlebende Erinnerungslosigkeit – es gibt nicht allzu wenige, die heute schon nicht mehr wissen, was sie am letzten Wochenende gemacht oder gesagt haben – ist ein anderes Thema, auf das ich hier nicht eingehen möchte.

Ich bin Matthias Drescher sehr dankbar für den Text und die Entscheidung, diesem ein Zitat des Großmeisters der chinesischen Schriftkunst Wang Xizhi王羲之 (307-361 n.Chr.) voranzustellen.     

Matthias Drescher

Erinnerung

„Unsere Nachfahren werden auf uns Heutige schauen so wie wir auf unsere Vorfahren schauen, mit Trauer im Herzen. Deshalb zeichne ich das Leben meiner Zeitgenossen auf und halte fest, was sie hervorgebracht haben. Die Zeiten und Lebensumstände ändern sich, aber die Beweggründe für unsere Gedanken und Empfindungen bleiben dieselben. Wenn spätere Generationen diese Zeilen lesen, dann werden auch sie von ihnen berührt werden.“

So endet der „Prolog zur Zusammenkunft am Orchideenpavillon“ (Lanting Xu von Wang Xizhi, in der Übersetzung von Brigitta Diep) aus dem Jahr 353 n. Chr.[1]

Der Lanting Xu berührt uns tatsächlich, über Jahrhunderte und Kulturgrenzen hinweg, und zwar gleich mehrfach, auf verschiedenen Ebenen. Zunächst ist es die Schilderung an sich, eines heiteren Frühlingstreffens von Freunden, die sich an einem Bach gegenseitig Gedichte vortragen. Ein idyllisches Bild, das uns vertraut erscheint, auch wenn wir nichts derartiges erlebt haben. Man wäre gerne dabeigewesen und fühlt sich den Teilnehmern nah, erfreut und zugleich erstaunt, daß dies über eine solche Distanz möglich ist. Aber Wang Xizhi hat recht, die Freude enthält Wehmut, und die ist ebenfalls erstaunlich. Denn seine Schilderung läßt uns am Lebensgenuß teilhaben, nicht an Negativem – warum also „Trauer im Herzen“? Tatsächlich beschwört der Dichter selbst dieses Gefühl, indem er die Vergänglichkeit ins Spiel bringt: “Was heute noch das Herz erfreut, kann morgen schon der Vergangenheit angehören.“ Nur weil alle wissen, wie flüchtig das Leben ist, können sich die Menschen über Generationen hinweg verstehen, und nur darum erfassen sie die Schönheit der erinnerten Szene.

Für den chinesischen Dichter bleiben die eigentlichen Beweggründe des Menschen immer dieselben. Daß er damit nicht alleine ist, zeigt Heinrich Geigers Zitat aus dem Buch Kohelet: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ Auch Kohelet klagt über die Vergänglichkeit, nennt den Menschen einen „Windhauch“ und empfiehlt, die guten Zeiten als Gaben Gottes zu genießen. An anderer Stelle sagt er: „Es gibt kein Glück, es sei denn, der Mensch kann durch sein Tun Freude gewinnen“. Das paßt ebenfalls zum Lanting Xu, wo es heißt: „So können wir nichts Besseres tun, als unsere innere Entwicklung voranzutreiben.“

Das Leben der Zeitgenossen darstellen und späteren Generationen zeigen, daß das Wichtigste gleichbleibt – so versteht Wang Xizhi seine Aufgabe. Ein klares Programm, nüchtern formuliert, das man in der altchinesischen Kunst überall wiederfindet. Es verwandelt das Wissen der Menschen um ihre Vergänglichkeit in wehmütige Einigkeit über die Generationen hinweg.

Der Westen und seine Kunst sind völlig anders geprägt. Ans ewige Leben zu glauben, ist das Gegenteil von „Trauer im Herzen“. Christliche Kunst diente dazu, den Glauben zu stärken – Tristitia[2] und melancholische Erinnerungen waren dagegen suspekt, und sie blieben es, nachdem die Jenseitshoffnung zum Fortschrittsglauben mutiert war. Das heißt keineswegs, daß westliche Menschen vergangener Schönheit nicht nachtrauern und daß sie ihren Sog nicht spüren. Auch unsere Kunst ist darauf eingegangen; sie hat das Erinnern genutzt und zeitweise zum Hauptmittel gemacht. Deshalb kommen sich europäische und chinesische Bilder oft nah, und deshalb hat der Lanting Xu Ähnlichkeit mit Gedichten wie Hölderlins „Hälfte des Lebens“.[3]  Aber das sollte über den grundsätzlichen Unterschied nicht hinwegtäuschen: Kein gemeinsames Trauern, sondern seine Hoffnung will das Christentum vermitteln. Wie diese Zukunftsgewandtheit auch ohne Gott erhalten blieb, ist ein eigenes Thema, das sich an der westlichen Malerei verfolgen läßt[4]. Dabei spielte Erinnerung eine wichtige Rolle, aber nur so lange, bis sich die Lebensumstände drastisch und immer schneller veränderten. Denn was ein Künstler erlebt und von der Zukunft erwartet, das kann er schlecht mit Erfahrungen illustrieren, die längst überholt sind.

Wang Xizhi hingegen erreicht sein Ziel auch im Westen. Offenbar ist auch hier das Erinnern noch wirksam, wenn es so existentiell eingesetzt wird wie von ihm. Er will auf die Gemeinsamkeit aller Menschen verweisen, und es gelingt ihm. Er dringt zu uns durch, weil er keine Jenseits- oder Zukunftshoffnung propagiert, sondern nur Einsicht in die Vergänglichkeit: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“.


[1] hier die englische Übersetzung

[2] lt. Gregor dem Großen ein Laster

[3] Hälfte des Lebens
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

[4] Matthias Drescher, Bilder, die ins Vergessen führen, PalmArtPress 2022

Stumm

Im  Alten Testament (Kohelet) steht geschrieben:

Was geschehen ist,

wird wieder geschehen,

was man getan hat,

wird man wieder tun:

Es gibt nichts Neues unter der Sonne.

Beim Blick auf die aktuellen Geschehnisse weltweit, möchte man zustimmend nicken. Ja, diese Feststellung ist nicht aus der Zeit gefallen, sondern hat eine unveränderte Gültigkeit. Die Frage ist nur, wie mit ihr umgehen?

Der ästhetische Spaziergänger zwischen Ost und West stellt fest, dass im chinesischen Denken die Grenzen zwischen Vergangenheit und Zukunft verschwimmen. Man erforscht die Zukunft, aber auch die Vergangenheit, wobei allerdings ein wesentlicher Unterschied in der Herangehensweise besteht: Das Erbe der Vergangenheit ist unbedingt zu bewahren, während die Zukunft im Rahmen einer rein wissenschaftlichen Sichtweise als reine Utopie auftreten darf, also grundsätzlich offen ist, ohne dass Einsprüche „moralischer“ oder „religiöser“ Natur eine Rolle spielen würden. Zum Beispiel in der Gentechnik ist alles möglich, was möglich ist, kein Ethikrat existiert, der sich zu Wort melden könnte. Sakrosankt ist nur die Machtfrage und zwar aufgrund einer Logik, die wiederum  mit dem Zeitverständnis eng zusammenhängt: Der Fokus auf das Jetzt ist allmächtig, denn Zukunft und Vergangenheit fallen in der Gegenwart zusammen. Da es keine Vorstellung von einem Uranfang, aber auch keinen Begriff des Weltendes gibt, ist diese Ordnung auf eine gänzlich undynamische Weise auf Ewigkeit gesetzt. Wolfgang Bauer bezeichnet diese Art von Zeitverständnis als „unaufgefaltet“. Es wird von der Struktur der Sprache getragen.

Beim Chinesischen handelt es sich um eine isolierte Sprache; Aussagen werden zunächst einmal nicht in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft angesiedelt. Der Zeitaspekt kann nur unter Zuhilfenahme von Hilfswerben ausgedrückt werden. Obwohl in der Moderne die Zeitlosigkeit der Aussagen durch Suffixe behoben wurde, verließ die chinesische Sprache den einmal eingeschlagenen Weg nicht. Bis jetzt verschluckt sie in ihrer schriftlichen Form alle zeitbedingten lautlichen Veränderungen. Neues kann sich nur in der andersartigen Gruppierung der vielen Einzelzeichen bemerkbar machen, weshalb im chinesischen Denken der Satz „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“ aufgrund des in der chinesischen Sprache angelegten flächigen Zeitbegriffs nicht zu überraschen vermag – dies im Gegensatz zum endzeitlich orientierten christlichen Denken, das linear angelegt ist und aufgrund seiner  linearen Struktur und der dieser eigentümlichen Dynamik mit dem alttestamentlichen Befund aus dem Buch Kohelet nicht mehr umgehen kann.

Zurück zum chinesischen Denken, zur chinesischen Sprache und zu der Frage, wie die VR China mit aktuellen Geschehnissen, wie zum Beispiel dem Krieg in der Ukraine und der damit einhergehenden Bedrohung des Weltfriedens, umzugehen vermag? Da in einem System, das zyklischer Natur ist, zwar Veränderung, aber keine Entwicklung im eigentlichen Sinne möglich ist, überrascht die distanzierte, unaufgeregte  Haltung der chinesischen Regierung in diesem Fall genauso wenig wie in dem Fall ihrer auf Zeit spielenden Klimapolitik. Das „Was geschehen ist,/ wird wieder geschehen,/ was man getan hat,/ wird man wieder tun“ ist also gleichsam Teil eines Systems, dem endzeitliche Szenarien, wie wir sie aus dem christlichen Kontext kennen, letztendlich fremd sind. Einzig entscheident ist der Blick auf die Situation im Hier und im Jetzt, da in jeder gegebenen Situation latent, ganz im Verborgenen, auch alle anderen enthalten sind. Es gilt, klar analysierend, mit klarem Kopf vorzugehen und dabei alle Faktoren im Blick zu haben, um nicht aus der gegebenen Situation die falschen Konsequenzen zu ziehen – und das hat mit Moral, mit Ethik und mit Religion im christlich-abendländischen Sinne überhaupt nichts zu tun. So wie die chinesische Schriftsprache ein stummes Kommunikationsmittel ist (die Schriftzeichen kommen meist ohne eine bestimmte Lautung aus), scheint auch der chinesische Umgang mit weltpolitischen Entscheídungen stumm zu sein. „No comment!“  Wichtig ist nur die Frage, wer dieses System zwischen Himmel und Erde am Laufen hält: Und das ist der allmächtige Herrscher, der Sohn des Himmels oder, mit heutigen Worten, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), der gleichzeitig Staatspräsident und Oberster Befehlshaber der Armee ist.

Wir erleben ihn täglich, den WEG

Ich habe mich dafür entschieden, die Textbeiträge meines Blogs im Jahr 2022 mit Worten zum „Lachen“ ausklingen zu lassen und dabei auch auf „den WEG“/ „den Weg“ zu sprechen zu kommen. Der aus allen Seelenregistern gespeiste Humor ist bei Sigmund Freud eine Methode, sich dem Zwang des Leidens zu entziehen. Mit den Mitteln des Humors gewinnt er dem todbestimmten Leben den Aspekt der Heiterkeit ab. In einem Brief an Marie Bonaparte vom 13. August 1937 berichtet Freud von einer Idee für eine Reklame, die folgendermaßen lautet: „Warum leben, wenn Du für 10 Dollars begraben werden kannst?“ Das klingt vielleicht traurig oder makaber, ist es aber meiner Meinung nach nicht. Denn bei meiner Entscheidung für das Thema des Lachens schwebte mir das Bild des großen Lachenden Han Shan („Kalter Berg“, chinesischer Dichter der Tang-Zeit) vor Augen, der als eine Art Prototyp für einen chinesischen Chan– (Zen-) Buddhisten gilt. Ein Band Gedichte von ihm („150 Gedichte vom Kalten Berg“, übersetzt, kommentiert und eingeleitet von Stephan Schumacher) ist überliefert. Darin spricht er von Arbeit auf seinen Feldern, die er selbst bestellt, von seinem Weib, das am Webstuhl sitzt, und von seinen Kindern. Er kann also kaum ordiniert gewesen sein. Die Situation, in der er sich, nach den Gedichten zu urteilen, befand, ist die eines verarmten adligen Weltverächters. Han Shan pflegte sich häufig mit seinem Freund Shih De in einem Tempel zu treffen oder zu wandern, wohl um nicht zu „nützlicher“ Arbeit für die Regierung eingezogen zu werden. Von Han Shan heißt es: „Für Besucher war er nicht zu haben; wo sollten Sucher ihn suchen? Zum WEG führt kein Weg.“ (Zitiert nach Wu-men Hui-k´ai: Wu-men kuan/ Zutritt nur durch die Wand, aus dem Chinesischen übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Walter Liebenthal, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider, 1977, S. 16)

Das Lachen und die Suche nach dem Sinn des Lebens oder dem der Welt im Ganzen, hier „WEG“, stehen in einem engen Zusammenhang. Diesseits und Jenseits, Endlichkeit und Unendlichkeit, Leben und ewiges Leben – die Fragen danach bilden Reibeflächen, an denen sich sowohl der Glaube als auch der Humor entzünden. Beide leben aus der Spannung zwischen Unvereinbarem und dennoch untrennbar aufeinander Bezogenem, die der Lachende letztendlich auflöst. Der Humor präzisiert im schallenden Lachen den Zustand der Existenz. Aus den Geschichten des Chan-Buddhismus wissen wir, dass das Lachen nicht nur dem Ausdruck der eigenen Gefühle dient. Im Frage- und Antwortspiel zwischen Meister und Schüler richtig eingesetzt, hat es eine wichtige, die plötzliche Erkenntnis hervorrufende Wirkung: Der Buddha (der „WEG“) ist alles und nichts, diesseitig und jenseitig, endlich und unendlich.

Zitat (Komm. und Vers. gehören dazu) aus dem Wu-men Hui-k´ai: Wu-men kuan/ Zutritt nur durch die Wand (S.78):

Chao-chou fragt Nan-ch´üan: „Was ist der WEG?“ – Nan-ch´üan: „Wir erleben ihn täglich, den WEG.“ – Chao-chou: „Lässt er sich verfolgen?“ – Nan-ch´üan: „Sobald du das versuchst, hast du ihn schon verloren.“ – Chao-chou: „Ohne es zu versuchen, wie weiß ich, es ist der WEG?“ – Nan-ch´üan: „Der WEG ist nichts, von dem wir etwas wissen können, nichts, von dem wir nichts wissen können. Von ihm zu wissen, ist Einbildung, von ihm nichts zu wissen, ist leeres Gerede. Gelingt es dir wirklich, auf den WEG, der sich nicht verfolgen lässt, zu gelangen, so bist du gleichsam im leeren Raum, im Grenzenlosen, in einem Loch ohne Boden, – wer kann sich anmaßen zu behaupten, er sei oder sei nicht?“ Als Chao-chou dies hörte, kam ihm die plötzliche Erleuchtung.

Komm.: Von Chao-chou gefragt, bewirkte Nan-ch´üan, dass die Ziegel zerbröckelten, das Eis schmolz. Ganz fortgeräumt war alles aber nicht. Wohl mag Chao-chou sein Erlebnis gehabt haben, immerhin brauchte er noch dreißig Jahre dhyana (Versenkung, Erfahrungsakt der reinen Beobachtung), bis er es hatte.

Vers: Im Frühling blühen hundert Blumen, im Herbst scheint/ der Mond, – im Sommer weht ein kühler Wind, im Winter fällt Schnee.// Tritt einmal eine Pause ein in der Sorge um den Gang der/ häuslichen Geschäfte, so ist das für uns Menschen eine/ glückliche Zeit.

Ich wünsche Ihnen allen eine glückliche Zeit!

20.12.2022                                                                                   Heinrich Geiger

Doppelte Resonanzen. Gudula Lincks neues Buch „Inmitten von Qi“

Mit seinen Landschafts-/ Naturbildern beginnt der chinesische Tuschmaler an einem Punkt, an dem Bedeutung noch nicht existiert, erst noch hergestellt werden muss. Die weiße Leere des Malgrunds entspricht dem Bewusstsein darum, dass Sein und Existenz grundsätzlich generativ sind. Wesen und Dinge können nicht dual abgespalten werden, sondern ereignen sich prozessual. Anhand der Pinselspuren auf dem Weiß des Papiers ist der Verlauf dieses Prozesses klar nachvollziehbar: Der jeweilige Akteur und die von ihm verwendeten Werkzeuge, Körper und Materialitäten, deren Kräfte und Aktionen, haben bis in das kleinste Detail hinein Spuren hinterlassen. Beim Betrachten kommt es zu einem Mit-Sein in der Bewegung, einer Ko-Existenz, einem Da- und Mit-Sein mit dem Bild. Der Betrachter wird in eine gemeinsame Raum-Zeit geholt, in der es nicht einfach nur um Ursachen und Wirkungen geht. Vielmehr stehen Beziehungen im Vordergrund, Handlungen und Lebensweisen, die sich Verschränkungen verdanken. Wir befinden uns in einer Sphäre, in der das von Peter Handke so bezeichnete „Ideal der Ideale“: die „Empfänglichkeit“ vorherrscht. Zu sehen, sich einzufühlen und intellektuell teilzunehmen sind hierfür grundlegend.

Gudula Linck eröffnet uns mit ihrem neuen Buch „Inmitten von Qi. Phänomenologie des Naturerlebens“ dieses Resonanzgeschehen von Beziehungen, Handlungen und Lebensweisen am Beispiel der Dichtkunst. Sie tut dies mit den Mitteln einer Phänomenologie des Naturerlebens, einer „Philosophie des Mittendrin“, die uns mit den altchinesischen Vorstellungen vom Menschen in einer Welt aus Qi (dem Atem der Welt oder der kosmischen Lebenskraft) vertraut macht. Zur Person von Gudula Linck: Sie war Professorin für Sinologie an der Universität Kiel und lebt seit ihrer Emeritierung wieder in Freiburg. Wie das jüngste Werk sind auch nachfolgend genannte Bücher beim Karl Alber Verlag erschienen: „Ruhe in der Bewegung. Chinesische Philosophie und Bewegungskunst“ (2013, 3. Auflage 2018), „Yin und Yang. Die Suche nach der Ganzheit im chinesischen Denken“ (2017), „Poesie des Alterns. Chinesiche Philosophie und Lebenskunst“ (2019).

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Gudula Linck, „Inmitten von Qi. Phänomenologie des Naturerlebens“. Baden-Baden (Verlag Karl Alber) 2022.

Aus dem Vorwort:

Das Abenteuer kultureller Grenzüberschreitung bedarf der Vorbereitung wie jede anspruchsvolle Reise oder Wanderung, umso mehr, wenn sie ins alte China führt, „das ganz Andere“ der europäischen Sicht auf Mensch und Welt.

Das ganz Andere? Ja und Nein!

Ja, weil Ursache für ein Gefühl oder Umgang mit Emotion verschieden sein kann in Raum und Zeit. Nein, denn Menschen kommen überein, sobald sie hinabsteigen in den Leib, sind eins im Spüren, wenn das Herz vor Freude hüpft, Angst oder Trauer die Kehle zuschnürt, Zorn die Weite sucht und Scham in die Enge treibt.

In diesem Buch ist der Abstieg in tiefere Schichten des Erlebens zugleich Abstieg in die Tiefe der alten chinesischen Kultur. Dann ist Spüren nur indirekt erschließbar: Naturerfahrung von Dichtern und Dichterinnen über die Bild- und Wirk-Kraft poetischer Texte.

Der Umweg über die Poesie verspricht ästhetische Andacht und Genuss, der Umweg über Alt-China die Erfahrung des „Mittendrin“, da allerorten Resonanz geschieht zwischen der Natur draußen und „der Natur, die wir selber sind“ (s.u.): gǎn-yìng 感應 (Echo/Widerhall).

Schuld an diesem mannigfachen Resonanzgeschehen trägt das alles durchdringende 氣, Atem der Welt, kosmische Lebenskraft, welche die Vielheit zu einer Ganzheit verwebt.

Genau besehen, zeigt sich zweifach Resonanz: zwischen Dichter und Natur zum einen, niedergelegt in Rhythmus und Klang, in Bildern, Farben und Formen aus Sprache; zum andern zwischen Leser und Gedicht. Wenn Lǐ Bái 李白 (701-761) feststellt, „meine Inspiration (xìng 興) kommt vom Lu-Berg her“, und darauf ein Gedicht verfasst, entflammt nach mehr als tausend Jahren an jedem beliebigen Ort mit jeder Lektüre der poetische Funke jedes Mal neu: „Wann ist ein Gedicht ‚fertig‘? Nie, solange es Leser findet.“ (Enzensberger)

Erfahren Dichter und Dichterinnen reale Natur, das Naturschöne, so Leser und Leserinnen kunstvoll gestaltete Natur, das Kunstschöne. Für beiderlei Resonanz braucht es Brücken und Übergänge, die freizulegen sind zwischen Atmosphären auf der einen, Schwingungsfähigkeit auf der anderen Seite. Für beiderlei Resonanz gilt es, offen zu sein für die Kraft der Worte, die Dichter, um zu verzaubern, die Leser, um sich verzaubern zu lassen.

Das Erste Kapitel „Kontraste: Europa und China“eröffnet kulturvergleichend den Blick auf die hier relevanten Phänomenfelder „Natur und Wandern, Reisen und Dichtung“. Bei einem Intervall von über tausend Jahren – zwischen Entdeckung der Natur im China des 2. Jahrhunderts und Naturzuwendung in Europa um 1800 zur Zeit der Romantik – überraschen kaum Unterschiede, wohl aber Gemeinsamkeiten.

Exkurs I „Die Welt – ein heiliges Gefäß? Umweltverhalten in der Geschichte Chinas“ zeigt, wie dort der Eingriff des Menschen zum Raubbau an der Natur gerät.

Das Zweite Kapitel „Natur und Naturerleben im Gedicht“ führt querfeldein über Land und Wasser, verweilt in Garten und Feld. Auch kommen Personen ins Bild, die vor den Toren der Stadt unterwegs sind, in der Sänfte, im Wagen, im Boot, auf dem Pferd, zu Fuß bergauf und bergab, als Einsiedler verborgen mitten in wilder Natur. Hier nehmen wir Dichter beim Wort und erkunden, was im Zauber der Sprache an Erleben eingefangen ist. Hier sind wir, aller poetischen Künstlichkeit zum Trotz, primärer Resonanz auf der Spur.

Chinesische Frauendichtung, nur lückenhaft überliefert, ist in den Hauptkapiteln beiläufig im Blick. Dort kommen vor allem Männer zum Zug. Exkurs II „Weidenkätzchen im Wind“ ist ausschließlich weiblicher Naturerfahrung gewidmet.

Das Dritte Kapitel „Ausgewählte Gedichte. Vermittelte Unmittelbarkeit“ führt zwanzig chinesische Gedichte vor und an diesen die Macht der Atmosphären in einer Wirklichkeit aus Sprache. Es wird sich zeigen, dass die „totgesagten“ Dichter und Dichterinnen ziemlich lebendig sind, da sie uns spüren lassen, wie es ist, wandernd im Gedicht unterwegs zu sein: sekundäre Resonanz.

Der diesem Kapitel vorangestellte Exkurs III „Magie der Worte“ stellt kulturübergreifend Handhaben phänomenologischer Gedichtbetrachtung vor.

Der Ausblick „Die Welt wird leiblich sein oder gar nicht“ fragt nach dem Sinn des Unterfangens: An den alten Chinesen wird die Welt nicht genesen!

Covertext Rückseite:

Im Auennebel geht mein Boot vor Anker.

Das Abendlicht rührt neues Heimweh auf.

Fremd und weit der Himmel tief in Bäumen.

Im klaren Fluss mir nah der Mond.

(Mèng Hàorán孟浩然, m. 689-740)

Die Ahornblätter – tausende von Zweigen

Und wieder abertausend Zweige mehr.

Des Flusses Brücke überdeckt sein Leuchten.

Zögernde Segel – Abend um mich her.

(Yú Xuánjī魚玄機, w. 844 bis 868)

Wer hat die Weiden dort gepflanzt,

In Zeilen hoch, die beiden Ufer lang?

Binde dein Bootstau nicht an die Zweige,

Darinnen tönt der Zikade Gesang.

(Hàn Yù 韓愈, m. 768 bis 824)

Was leistet die Poesie mit ihren Zauberformeln, wie verlieren wir unsere Liebe und das Schöne nicht, wo machen uns Gedichte allem zum Trotz glücklich, berühren uns zumindest? (Heike Gfrereis)

denn leicht und mühelos wird sie zum buddha selbst wenn sie gar nichts tut

Zhang Deyi (1847-1918), der uns in dem Buch Die Entdeckung des Westens. Chinas erste Botschafter in Europa 1866 – 1894 (Feng Chen, aus dem Französischen von Fred E. Schrader, Frankfurt am Main: Fischer, 2001: S. 180) als der „erste chinesische Karrierediplomat“ vorgestellt wird, verbrachte zwischen 1866 und 1906 im diplomatischen Dienst seines Landes mehrere Jahre in Europa. Mit seinen europäischen Tagebüchern, den Wunderbaren Geschichten (Shuqi), wollte er seine Landsleute an seinen Erfahrungen in der Ferne, unter die auch Beobachtungen zu europäischen Parks und Grünanlagen fallen, teilhaben lassen. U.a. beobachtete Zhang, daß die europäischen Wohnhäuser den Menschen von der Natur abschneiden und folgerte daraus, dass diese vom Menschen architektonisch bewirkte Trennung von der Natur der Grund für die Existenz von öffentlichen Park- und Gartenanlagen sei. (ebenda: S. 54)

Ebenso wichtig wie diese Beobachtung dürfte aus interkultureller Sicht die Feststellung Zhang Deyis sein, daß die Funktion des Parks als öffentlicher Einrichtung für ihn interessanter sei als dessen ästhetischer Wert, da sich nach seinem Verständnis Regent´s-, Hyde- und St. James-Park, um nur einige der von ihm namentlich genannten Parkanlagen anzuführen, allzu sehr ähnelten. Überall seien der gleiche Bewuchs, die gleichen Teiche und die gleichen Wege sowie die gleichen Sitzbänke zu sehen. Und ein anderer chinesischer Gesandter, Li Shuchang (1837-1897), der von 1876 bis 1881 in England, Frankreich, Deutschland und Spanien als Berater der chinesischen Botschaft arbeitete, merkt in Ergänzung dazu an, dass es, wie er beobachtet habe, dem Besucher der Parkanlagen nicht auf botanische Vielfalt, sondern auf bestimmte Aktivitäten zur Rekreation ankomme. (ebenda: S. 54)

Mittlerweile – im sozialistischen China und auch schon in den Jahrzehnten davor – gibt es in allen chinesischen Groß- und Kleinstädten Parkanlagen, die, wie es von Zhang Deyi und Li Shuchang für die europäischen Anlagen vermerkt wurde, unter rein funktionalen Aspekten geplant und angelegt wurden. Obgleich in den letzten Jahren diese städtischen Flächen umgestaltet wurden und somit ein neues, viel freundlicheres Gesicht erhielten, ändert dies doch nichts an der Tatsache, dass nicht nur aus der Sicht eines traditionell geschulten Chinesen der Park und der Garten inkompatible Größen sind, die einer unterschiedliche Funktionalität gehorchen und damit sich auch in ihrem ästhetischen Programm wesentlich unterscheiden.

Im Gegensatz zum Park, in dem seit dem 19. Jahrhundert Volkssport und soziale Interaktion im Vordergrund stehen, ist der Garten ein Ort des Privaten, ganz gleich ob er nun, wie in China, für den Gebrauch des Kaisers, die Mußestunden von Angehörigen der Aristokratie oder von Großgrundbesitzern bestimmt war. Kontemplation und Imagination sind mit dem Garten eng verknüpft, weshalb sich auch die chinesischen Gesandten über die westlichen Parkanlagen mokierten, die trotz ihres Erholungswertes das nicht ermöglichen, was das Herzstück der traditionellen chinesischen Gartenanlage ausmacht: Seelenraum für seinen Erbauer und auch seine Besucher sowie ein Ort für einen Wahrnehmungsakt von Natur zu sein, der nicht loszulösen ist von einer bestimmten Kultur der Wahrnehmung.

In einem seiner Texte aus dem Band Wolkenpost (Zürich: Diogenes/ Steidl, 2021, S. 32) erfahren wir von dem als „Sprayer von Zürich“ bekannten Harald Naegeli, dass nicht nur in China ein kultureller Akt den Blick für die Natur öffnen und dabei auch schöpferische Potentiale freisetzen kann: „liebe freunde, heute begab sich die wolke (in menschengestalt) ins Museum Rietberg, um die werke eines zen-meisters namens sengai aus dem 15. jhdt zu besichtigen. die werke dieses mönchs bezaubern sie vor allem durch Humor und Heiterkeit. so geistig erfrischt, suchte sie eine dachterrasse auf, um den abendhimmel zu betrachten und zu zeichnen. ihre lieblingsbeschäftigung seit langem. denn leicht und mühelos wird sie zum buddha, selbst wenn sie gar nichts tut. liebe grüße, eure wolke“

„Grenz-Erfahrung“

„Damit Europa als Heimat verstanden wird, muss es bereist, kritisiert, besprochen werden, und dazu müssen die verschiedenen Erfahrungen und Perspektiven einander zugemutet, angeboten, verknüpft werden.“ Und: „Verstehen ist immer auch Arbeit. Einander in Europa zu verstehen, setzt voraus, dass wir erzählen und zuhören, dass wir vergleichen und als nicht gleich begreifen, dass die vielfältigen Sprachen und Erfahrungen bewahrt werden.“ (Carolin Emcke, „Grenz-Erfahrungen“, in: Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 40, 7. Oktober 2022, S. 12-25, Zitate: S. 23 und S. 25).

Haben diese Worte Carolin Emckes nur im europäischen Kontext ihre Richtigkeit? Meines Erachtens gelten sie auch für China, wie auch für jeden anderen Kulturraum dieser Welt. Um China verstehen zu können, muss es zuerst erfahren werden; die gemachten Erfahrungen müssen weiterhin im Gespräch vertieft und miteinander verknüpfen werden, wobei ein Hohelied genauso möglich sein muss wie die Kritik oder die „Zumutungen“, von denen Carolin Emcke spricht. Auch hier gilt die Grundregel des Spazierengehens als Kunst: Die gemachten Erfahrungen können nützlich sein, müssen es aber nicht. Sie sollen aus einer Haltung hervorgehen, die offen für die Polyphonie und Hybridität Chinas ist, wie es in dem Sammelband Polyphonie und Hybridität. Musikaustausch zwischen China und Europa der Fall ist. In diesem Band finden sich auch Texte meiner Frau und von mir selbst.

Die Konzentration auf das Zentrum der Macht, Beijing, verengt allerdings dabei den Blick. Es müssen „Grenz-Erfahrungen“ gemacht werden, der Stopp an Orten an der Peripherie gehört mit zum Programm. Und wenn diese Orte etwas mit China zu tun haben, welchen Platz geben wir ihnen dann in unserem Weltbild? Dürfen sie unser Bild der Welt und auch Chinas verändern? Der/ die Spaziergänger/in sagt ja, wobei der Rat von Franz Hessel, dass diese/r seine/n Begleiter/in sehr sorgsam auswählen sollte, zu bedenken ist („Von der schwierigen Kunst spazieren zu gehen“, in: Vom Glück des Spazierens. Geschichten und Gedichte, herausgegeben und mit einem Nachwort von Hartmut Vollmer, Ditzingen: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, S. 14-22). Hessel rät davon ab, mit Malern/ innen oder Schriftstellern/ innen zu spazieren, da sie „das Wanderbild“ ausschneiden und umrahmen und nicht einfach nur wunschlos in sich aufnehmen. Er empfiehlt die Begleitung durch Musiker (S.19), was schon fast wieder als eine Art Empfehlung für das eben genannte, jüngst im J. B. Metzler Verlag erschienene Buch gelten mag. Aber wo ist die Peripherie, wo endigt China, wo beginnt der Rest der Welt?

Während der Tang-Dynastie (618-907 n.Chr.), in deren Regentschaft das Goldene Zeitalter Chinas fällt, dehnte sich die chinesische Kultur bis weit an die Grenzen des Irans aus. Fergana und Transoxanien unterlagen ihrem Herrschaftsanspruch. Von dem regen Verkehr zwischen dem Reich der Mitte und westlichen Ländern während der Tang-Zeit (618-907) zeugen unter anderem archäologische Funde, die in Gräbern der Stadt Xi´an, dem früheren Chang´an, gemacht wurden. Als Grabbeigaben finden sich auch Ausländerfiguren, an denen sich die Entwicklung des Ausländerbildes in China exemplarisch nachvollziehen lässt.

Wie Achim Hildebrand in seiner Arbeit Das Ausländerbild in der Kunst Chinas als Spiegel kultureller Beziehungen (Han-Tang) festgestellt hat, ist in China die Ausländerdarstellung „in vielen Fällen nur Symptom für eine wesentlich tieferliegende geistig-intellektuelle Beeinflussung, die in der Philosophie, in Ästhetik und Kunst spürbar wird.“ (206) Ganz gleich, ob Buddhismus, Christentum, das zuerst in der Form des Nestorianismus nach China kam, oder Manichäismus und Islam – sie haben ihren Einfluss in China auf dem Weg über die Seidenstraße gewonnen. Die Ruinen und Trümmer von Wachtürmen, Sektionsstationen, Magazinräumen usw., die den Strom von materiellen und geistigen Gütern sicherten, legen noch heute ein beredtes Zeugnis davon ab, wie verletzlich dieser Verkehrsweg war, der von China aus durch die Sandwüste Ostturkistans und dann über die oft tiefverschneiten Pässe des Pamir führte. Den Oasenstädten ermöglichte es ihre geographische Lage, dass sie bis in die islamische Zeit ihre Rolle als Knotenpunkte an der Seidenstraße bewahren konnten. Sie blieben Zentren des Handels, des Handwerks, der Kunst und der Gelehrsamkeit auch über die Zeiten politischer und kriegerischer Wirren hinweg und boten dem Reisenden Rast und Erholung in dem weitläufigen Netz von Karawanenstraßen, das China mit dem östlichen Mittelmeer verband, aber auch vom Schwarzen Meer bis nach Indien führte.

Trotz aller Vorbehalte gegenüber den zentralasiatischen Nachbarvölkern verlief der Austausch auf der Seidenstraße bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts und darüber hinaus in beide Richtungen und zwar auf eine Weise, die keinen starren Mustern folgte. Denn die Stämme der zentralasiatischen Steppe waren durchaus flexible Gebilde, in die Teilstämme und einzelne Familienverbände eingegliedert oder ausgeschieden werden konnten. Stämme konnten auch durch Verträge miteinander in eine verwandtschaftliche Beziehung gebracht werden. Trotz der Existenz von Hochkulturen am westlichen und östlichen Ende der Seidenstraße gab es keine einzelne Kultur, die den Raum der Seidenstraße dominiert hätte. Vielmehr zeichnete sich der Raum der Seidenstraße durch eine transkulturelle Koexistenz von Hochkulturen und Steppenreichen aus. Dieses Mit- und Nebeneinander war allerdings einem steten Wandel unterworfen, da die Geschichte der Nomadenreiche in Zentralasien durch ein relativ rasches Kommen und Gehen bestimmt war. Wenn der Krieg kein angemessenes Mittel war, mussten immer wieder aufs Neue Föderationen und Konföderationen geschlossen werden. Daraus entstand ein über Jahrhunderte hinweg stabiles Grundmuster für das Stammeswesen zentralasiatischen Typs.

Unter den Fremden, die während der Tang-Dynastie nach China kamen, waren im Norden Türken, Uighuren, Tocharer, Sogdier und Juden und im Süden eher Personen aus dem heutigen Vietnam (Cham-Kultur), Khmer, Javaner und Singhalesen anzutreffen. Der von den Arabern getragene Seehandel brachte zusätzlich zahlreiche Fremde von den südlichen Häfen her ins Land. Unter ihnen waren nicht wenige Buddhisten aus Indien, die allerdings auch früher schon sowohl auf dem See- als auch auf dem Landweg über Zentralasien in Scharen eingewandert waren. Im Norden wie im Süden waren viele Araber, Iraner und Inder, wobei der kulturelle Einfluss des Iran sich über die zentralasiatischen Steppenländern hinaus bis nach Ostasien erstreckte. Auch in Nordwestchina, der Mongolei und auf der koreanischen Halbinsel war er bemerkbar. Man kann ihn auf chinesischen Bildern oder bei Tonfiguren in so Alltäglichem wie der Mode ersehen. Auch religiöse Vorstellungen prägte er nachdrücklich. Die iranische Bevölkerung war so bedeutend, dass die Tang-Regierung sogar ein spezielles Büro für „die Sarthavak” (wörtlich, „die Karawanenführer”) einrichtete. Ganz allgemein sei festgestellt, dass die Fremden aus ihren Heimatländern ihre lokalen Produkte nach China brachten, aber auch ihre „barbarische” Lebensweise und dadurch die chinesische Kultur auf mannigfaltige Weise beeinflussten.

Polyphonie und Hybridität. Ich lege ein CD auf.