Dritter und vorerst letzter Gastbeitrag von Wulf Noll

Östliches Rot – Lanzhou

Östliches Rot – Platz im Zentrum, Zentrum der Flaneure, besser der Flaneurinnen, die ihre Stiefel und ihre Pumps ausführten. Überall war brodelndes Leben, Blumengirlanden, Märkte zum Frühlingsfest. Sozialismus und Kapitalismus, wo war der Unterschied? Gab es überhaupt einen? Welchen? Mit diesen Gedanken spazierte der Flaneur mit seiner ‚Schöne Wolken‘ und mit ihrer Mutter, einer Bankerin, durch die Stadt. Die Bankerin brachte ihm das Taxifahren bei, er ihr das Flanieren. Konnte man einer Bankerin das Flanieren beibringen? Vermutlich nicht, sie ging viel zu schnell, telefonierte beim Flanieren, setzte das Handy nicht ab.

Sie liefen parallel zum Gelben Fluss, Robert roch das Wasser, spürte den frischen Wind. Ah! Der Gelbe Fluss, ein Mythos! Plötzlich war dem Deutschen der Stadtbummel nicht mehr so wichtig, er wollte so schnell wie möglich an den Fluss. ‚Schöne Wolken‘ wollte das auch, und die beschäftigte Bankerin willigte ein. Am Flussufer würde sie noch ungestörter telefonieren können. Bald standen sie am Gelben Fluss, der im Februar Niedrigwasser führte und überhaupt nicht gelb, sondern blau oder blaugrün war, weil sich der azurblaue Himmel in ihm spiegelte.

Es war ein schöner, ein erhabener Anblick, wie sich dieser Fluss durch die große Stadt schlängelte und wand, links befanden sich Berge und Berghügel, rechts die Hochhäuser der Stadt und die Gebirgskette im Hintergrund. Aufgrund des Niedrigwassers und des steinigen Flussbettes konnte Robert ins Flussbett hineingehen. Da stand er nun in seinem langen, schwarzen Flaneurmantel, diesem guten Stück, haha, wie Byron am Styx und beugte sich zum Wasser hinab.

„Pass auf“, rief ‚Schöne Wolken‘, „was machst du denn da?“

Robert Marian ließ sich nicht stören, er vollzog seinen Ritus. Seinen Ritus? Der bestand darin, sich mit dem Wasser der großen, fast mythischen Flüsse selbst zu taufen. Dreimal schöpfte er mit der hohlen Hand etwas Wasser und ließ es auf seinen Kopf träufeln. Wenwen lachte, aber sie trug ihre Fotokamera bei sich und machte Aufnahmen, während die Mutter ununterbrochen mit wichtigen Bankern telefonierte.

„Was bedeutet das?“, wollte ‚Schöne Wolken‘ wissen.

„Das ist ein Sakrileg. Ich taufe mich selbst. Das bedeutet, ich bin mit allen Wassern der Welt gewaschen.“

„Dann möchte ich das auch tun.“

„Ja klar, mach das nur! Dann gehören wir zur selben Gesellschaft der selbstbestimmten und emanzipierten Menschen.“

„Und zu den mythischen Personen“, fuhr Robert fort. „Aber ‚Schöne Wolken‘ gehören ohnehin dazu.“

„Es gibt nur eine ‚Schöne Wolke‘“, sagte Wenwen.

„Sicher! Aber du bist eine im Plural.“

Am Flussufer führte ein Pfad entlang, aber der war auf Dauer für die Frauen zu unbequem. Der Flaneur ging mit den Damen wieder zur Uferpromenade zurück. Schließlich kamen sie zu einer nostalgischen, deutsch anmutenden Brücke, die genauso gut in Köln hätte stehen können. Und wirklich war die „Eiserne Brücke“ im Jahr 1907 von einem deutschen Architekten erbaut worden. Die zum Frühlingsfest mit Lampions und Laternen geschmückte Brücke führte auf die andere Flussseite und auf den Weißen-Pagoden-Berg zu. Den wollten die Leute besteigen, er war ihr nächstes Ziel. Gemächlichen Schritts, immer wieder den Ausblick genießend, spazierten die Leute auf der langen Brücke über den Gelben Fluss. Am Hang schließlich angelangt, mussten sie auf steilen Wegen arg klettern. Robert Marian dachte daran, dass es genial wäre, sich in einer Sänfte hinauftragen zu lassen.

Auf der Tempelterrasse – direkt neben der Pagode – waren Liegestühle aufgestellt. „Robert“, fragte ‚Schöne Wolken’, „willst du jetzt liegen?“ „Warum nicht?“, erwiderte er, „liegen ist ruhiger als gehen. Wir können die letzten Sonnenstrahlen genießen und die gelegentlich vorüberziehenden Wolken beim Flanieren betrachten.“

‚Schöne Wolken‘ lag neben Robert, Mutter durchstöberte den Tempelladen nach Andenken. Robert nannte die Studentin in einem Anfall von Übermut Rotkäppchen, und ‚Schöne Wolken‘ nannte ihn Wolf.

„Wolf“, sagte sie, „sieh nur die Drachenköpfe in den Pagodennischen! Sind die nicht schön?“

„Drachenköpfe, die mit jungen Damen kommunizieren, sind immer sehr schön.“

Quelle: Wulf Noll. Schöne Wolken treffen. Eine Reisenovelle aus China. Eutin u. Plön: Verlag Reisebuch.de, 2014, 352-355.

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