Beobachtungssinn

Seit dem 18. Jahrhundert gibt es im angelsächsischen Sprachraum in Analogie zu dem Begriff einer „aesthetic perception“ die Vorstellung einer „moral perception“. Bei letzterer handelt es sich um die intensive Vorbereitung eines moralischen Werturteils durch differenzierte Wahrnehmung. Der Begriff der „moral perception“ hilft uns bei der Beschäftigung mit der Ästhetik Zong Baihuas weiter, dem ich die Idee zu meinen Ästhetischen Spaziergängen verdanke. Nicht die Fülle des überhaupt Wissens- und Bewahrenswerten bestimmt den Wahrnehmungshorizont Zongs, sondern die akute Bedürfnislage einer Gesellschaft, in der er ein hohes Maß an Reformbedarf erkannt hat. Der westliche Leser wird dadurch irritiert, dass auf dem Gebiet der chinesischen Ästhetik und so auch bei Zong Baihua versucht wird, das Ganze zwischen Himmel und Erde in den Blick zu nehmen, statt einzelne Kunstwerke in anschaulich konkreter und wissenschaftlich kritischer Absicht zu behandeln. Im Mittelpunkt des Interesses steht nicht etwa allein ein Verhältnis zur Kunst, wie uns der Begriff des „Ästhetischen“ nahelegen könnte, sondern zur Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit. Die Figurativität eines Denkens, mit dem der Mensch sich über die Ordnung der Welt, und zwar unter Einschluss ihrer Geschichtlichkeit zu verständigen versucht, stellt die entscheidende Instanz dar. Wie bereits gesagt, ist diese Herangehensweise an „das Schöne“ tief in der chinesischen Kultur- und Geistesgeschichte verwurzelt – weshalb auch ethische Absichten häufig die ästhetischen begründen.

An dieser Stelle wird der Zusammenhang zwischen Freiheit, Notwendigkeit und Beobachtungssinn, um den es bei den Ästhetischen Spaziergängen Zong Baihuas, aber auch bei meinen eigenen geht, deutlich. Der Sinologe Jean Francois Billeter hat ihn in dem Bändchen „Ein Paradigma“, das in der Reihe „Fröhliche Wissenschaft“ im Verlag  Matthes & Seitz Berlin 2017 erschien, damit begründet, dass „die Vorstellung einer nicht bedingten, willkürlichen Freiheit“, den Menschen „zur Unaufmerksamkeit, zur Verkennung der Gesetze der Aktivität und demzufolge zu verfehlten Verhaltensweisen, also zur Unfreiheit“ (S. 97) verleiten würde. Die Ästhetischen Spaziergänge Zong Baihuas leben aus und von einem Beobachtungssinn, der erst dann „frei“ ist, wenn er seine Bedingtheit erkannt hat und auf diese Weise alle Willkürlichkeit ausschließt. „Klar sehen“, sagt Zhuangzi. Zong Baihua hat sich den Inhalt dieser Aussage zueigen gemacht, da er, wie Zhuangzi, den Mechanismus durchschaut hat, mit dem wir im falschen Glauben an eine „nicht bedingte, willkürliche Freiheit“ uns die Wirklichkeit solange zurechtrücken, bis sie unseren Vorstellungen entspricht.  

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3 Kommentare

  1. Lieber Heinrich,
    wie üblich gehe ich mit meiner laienhaften, in diesem Fall mit der formalen chinesischen Ästhetik nicht vertrauten Sichtweise an das Thema Deines neuesten Blog-Beitrags heran. Die Beschreibungen „das Ganze zwischen Himmel und Erde in den Blick zu nehmen“ und „(Ästhetik in ihrem Verhältnis) zur Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit“ erweckt bei mir
    Assoziationen zu Ansätzen der systemischen Sichtweise in bestimmten Wissenschaftsgebieten, etwa der Forschung zur Klimawandelanpassung. Nach meiner Erfahrung ist die Fähigkeit, einen Blick oder eine Wahrnehmung für das Gesamtsystem zu haben, durchaus speziell und nicht so weit verbreitet (seeing the big picture). Sie erfordert ein breit gefächertes
    Interesse und Wissen sowie die Fähigkeit, Dinge in Zusammenhang bringen zu können.
    Mich würden Beispiele interessieren, zu welchen unterschiedlichen ästhetischen Bewertungen die chinesische und die westliche Art der Beurteilung führen können.
    Herzliche Grüße,
    Erich

    1. Lieber Erich,
      mit Deinen Assoziationen „zu Ansätzen der systemischen Sichtweise in bestimmten Wissenschaftsgebieten“ hast Du einen Gedanken angesprochen, der für mich von zentraler Wichtigkeit ist. Meine ästhetischen Spaziergänge verstehe ich – der ein oder andere mag das als völlig verwegen und vermessen ansehen – als Wissenschaft, die nicht reduktionistisch vorgeht und auf diese Weise Erkenntnisse gewinnt. Ob und auf welche Weise diese allgemeine Gesetzmäßigkeiten repräsentieren, muss noch gesondert diskutiert werden. Kurzgefasst spaziere ich „ästhetisch“ im Bewusstsein um die lange und disziplinenübergreifende Tradition der philosophischen Ästhetik. Der Ausdruck „Ästhetik“ geht auf das griechische Wort „aisthesis“ (=Wahrnehmung, Gefühl, Verständnis) zurück. Die philosophische Ästhetik im weiteren Sinne behandelt denn auch vornehmlich die in der philosophischen Tradition eher vernachlässigte sinnliche Wahrnehmung. Sie betont den fundamentalen und überaus produktiven Charkater dieser Erfahrungsweise, nicht nur in den Künsten. Damit ist die philosophische Ästhetik gerade auch den Zusammenhängen von Sinnlichkeit und Sinnbildung auf der Spur. Martin Seel 1985 („Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität“, S. 172) schreibt: „Ästhetisch verfolgen wir keinen anderen Zweck als den, die Sinnhaftigkeit unserer Erfahrung zu erfahren.“ (S. 172)
      Ich schätze die ästhetische Herangehensweise an die Welt, weil sie mit der Einsicht Ernst macht, dass unsere Wahrnehmungen keineswegs nur Abbilder einer an sich seienden Welt sind (wie übrigens die Begriffe auch), sondern uns selbst, unseren Weltbezug mit beinhalten. Da wir in allem Wahrnehmen, insbesondere in der intensivierten ästhetischen Wahrnehmung, eigentätig und schöpferisch sind, gibt es hier auch eine Verantwortung für die so erschlossene Welt. Womit wir bei der chinesischen Ästhetik wären, die „das Ganze zwischen Himmel und Erde in den Blick nimmt“, wie es in meinem Test „Beobachtungssinn“ heißt.
      *
      Meines Erachtens ist die traditionelle chinesische Kultur eine durch und durch ästhetische Kultur. Aufgrund der Dominanz des historischen Materialismus gilt diese Feststellung nur mehr sehr eingeschränkt für das heutige China. Das tradionelle ästhetische Modell habe ich in meinem Buch „Die große Geradheit gleicht der Krümmung. Chinesische Ästhetik auf ihrem Weg in die Moderne“, das 2005 im Verlag Karl Alber erschien, folgendermaßen formuliert: „Das Ich-Ideal traditioneller Prägung beinhaltet das ethisch bestimmte Ziel des vollkommenen Menschen in einem vollkommenden Staatswesen. Daran ist auch zu ersehen, dass dem durch das traditionelle chinesische Gelehrtenideal geprägten Persönlichkeitsbild ein Entwicklungsmodell unterliegt. Dieses führt ausgehend von der einzelnen Person, die in ihrem Tun ihr Wissen um die Gesetze von Himmel und Erde verwirklicht, zu einer befriedeten Gesellschaft und, in einem letzten, darüber hinaus führenden Schritt, zu einem harmonischen Kosmos. Indem sich Humanität im Akt der Selbsterkenntnis des Menschen als Glied einer durch präformierte Ordnungsvorstellungen bestimmten Gesellschaft vollzieht, ist die eigentliche Dimension der chinesischen Philosophie und Ästhetik aufgezeigt: die Ordnung des Friedens in der Oikumene des Geistes, die einen Gegenentwurf zur Machtordnung des Imperiums darstellt.“ (S. 15, 16)
      Es geht also ums Ganze in einer Welt, das sich erst im Zusammenspiel zwischen „aesthetic perception“ und moral perception“ erschließt. Zong Baihua folgt mit seinen „Ästhetischen Spaziergängen“ dieser Einsicht.
      Heinrich Geiger, 29.10.2021

  2. Dank der realen Gelehrten als meine vorangehenden Bilder, habe ich schließlich gelernt mein Momentum zu nutzen. Und dies vielleicht doch nicht nur für mich. Auch wenn es gerade der schönste ist, welchen ich mir in/mit meiner Zeit vorstelle. Vermutlich wird es mir morgen schwerer fallen; sehr wahrscheinlich sogar…
    Dann nutze ich einfach ein anderes Momentum für die gleiche Schönheit!

    Ich bedanke mir für den kleinen-feinen Text zum „Beobachtungssinn“: Das, was „erst dann frei ist, wenn er seine Bedingtheit erkannt hat und auf diese Weise alle Willkürlichkeit ausschließt. Klar sehen, sagt Zhuangzi.“

    Ich sage, manchmal vielleicht klar, manchmal nicht; ich meine die Sicht. Die Beobachtung wird davon jedoch nicht gehindert. Es kann sogar was Antithetisches oder so was passieren. Oder noch besser: die unklaren Töne bilden eine neue Klanglandschaft. Umso mehr diese sich ausbreitet, desto weniger wird die Sicht existentiell?
    Hören – hin oder her, schön und gut. Aber die kleine „Karte“ mit dem Druck eines nur mühselig beschreibbaren Gefühls kann ich damit kaum mehr erkennen. Das Papier ist zu abgerieben. Diese Mystische hat wohl zu viele Ort hinter Geschlossenem verbracht. Nun werden die Farben immer seichter. Die Oberfläche rauer. Die Farben, die sich in mir ausbreiten schwächen niemals ab; nie absolut.
    Ich hätte dennoch nachhaltiger denken können. An mein Morgen, indem ich feststelle, dass das Bild – wenn es so weiter geht – bald wieder ein nahezu weißes Blatt ist. Auf diesem wird das Nicht-Weiße umso klarer. Stören tut es keines-wegs. Doch, vielleicht wenn es sich rot färbt; wie die Abdrücke bei 彳亍, welches hiermit einen weiteren Eindruck hinterlassen hat. Warum? Na, weil es sich in meine Sicht geschlichen hat. Und nun sehe ich es umso besser mit geschlossen Augen.

    Das Alles ist wieder einmal ganz anders gelaufen als von mir zu Beginn begriffen. Das Nichts ist also gelaufen. Ne, nicht wirk-lich. Es sind ja bis hierher * immerhin 306 Wörter, 1935 Zeichen. Aber – nein, heute mal nicht egal, wie es gelaufen ist. Es ist perfekt geworden! Morgen werde ich also keine Erweiterung hier vornehmen. Vielleicht muss man ja doch nicht alles teilen, also nichts? …
    Wie kann ich den Fehler denn bitte zwei Mal außerhalb von 3 Zeilen machen? Haben wir denn Kong-tseu gar nicht zugehört?!
    So oder so: Es ist wundervoll wie es ist, denn es lässt Platz

    für „unerwünschte Farben“, nach denen wir uns dem Anschein nach so sehnen. Voraussetzung ist natür-lich, dass es Alles nicht ganz so voll ist, wa?

    Ich danke Euch, Erich und Heinrich für diesen unvergesslichen Moment.

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