Inmitten der Musik

Mit einer besonderen Form der Erinnerung haben wir es bei dem Beitrag des 1955 in Ahaus/ Westfalen und heute in Bonn lebenden Komponisten und Instrumentalisten (Campanula, Cello) Michael Denhoff zu tun. Es ist die Erinnerung an eine musikalische Entwicklung, die aus „Energiekonserven“ (Aby Warburg) lebt. Sie reicht weit in die ersten Lebensjahre Michael Denhoffs zurück. Ihr Verlauf lässt sich nur sehr ungenau mit dem Begriff des „Wegs“ fassen, da es ja nicht um eine eindeutige Entwicklungsschiene oder -linie geht, wie wir gleich noch erfahren werden. Vielmehr geht es um das Nachwirken von prägenden Erlebnissen, die, wie es bei einem Musiker nicht überrascht, akustischer und zwischenmenschlicher Natur sind. Für meine ästhetischen Spaziergänge ist relevant, dass Denhoff sich „inmitten der Klänge“ bewegt und zum Beispiel mit seiner Komposition Circula el tiempo aus dem Jahr 1994 eine scheinbar zeitgedehnte und in den Raum geweitete Klangwelt beschwört. Bei dieser Komposition handelt es sich um eine Musik, die auf ihre Art „die Temperaturen des Erlebens von Zeit, die vielfachen Dimensionen von Ton und Farbe, die Aspekte sensiblen Hineinhorchens in Klänge und deren Gegenbild, die Stille, beleuchtet.“ (Zitat Michael Denhoff. Booklet zur CD Campanula. Michael Denhoff spielt Werke von Blumenthaler, Bach, Denhoff, Kurtág, Zimmermann, Erkrath: CYBELE, 1995). Dem Werk steht als Motto eine Gedichtstrophe von Jorge Guillén voran: El instante,/ Pulsado, sonado sobre/ Tantas cuerdas,/ En susurro se recoge (Der Augenblick/ gepulst, getönt auf/ so vielen Saiten,/ nimmt sich zurück im Flüstern).

Circula el tiempo ist in meinen Augen eine Partitur für eine Situtation, die sich idealiter auch für einen oder mehrere ästhetische Spaziergänger einstellen kann. Das Stück ist so konzipiert, dass die Ausführenden (maximal 4 Personen) möglichst weit voneinander in einem „Klang-Rechteck“ um die Zuhörer herum positioniert sind. Idee ist, dass sich das farblich differenzierte Klanggeschehen möglichst kreisförmig im Raum entfalten kann. Jede/ Jeder der Ausführenden beginnt ihren/ seinen Part an einem unterschiedlichen Ausgangspunkt; über die beiden Raumdiagnolen in der Mitte des musikalischen Ablaufs nähern sich die Stimmen 1 und 3 bzw. 2 und 4, die nach exakt festgelegten Einsätzen metrisch unabhängig spielen und auf die schon klingenden Stimmen hörend reagieren, zu einem „Echo“ in schwebender Nähe an.

Heinrich Geiger, 02.05.22

Inmitten der Klänge

Meine ersten musikalischen Erlebnisse

Wer in einem Musikerhaushalt aufwächst – meine Eltern waren Schulmusiker –, für den ist Musik wohl so selbstverständlich wie Essen und Trinken. Soweit ich zurückdenken kann: es war immer Musik um mich herum.

Zu Hause wurde viel gesungen. Man erzählte mir später, ich habe das Sprechen erst nach dem Singen angefangen. Mit einem klobigen Grundig-Tonbandgerät, das mein Vater aus dem Schulbestand gelegentlich nach Hause mitbrachte, hielt er unser gemeinsames Singen fest.

Wenn ich diese Aufnahmen heute höre, bin ich gerührt von meiner klaren und hellen Kinderstimme, die schon mit zwei Jahren absolut intonationssicher war.

Regelmäßig versammelten sich bei meinem Vater abends drei seiner Freunde, um sich mit ihm zum schon sprichwörtlichen „Stillvergnügten Streichquartett“ zu formieren. Ich muß etwa drei Jahre alt gewesen sein, als mein Vater mir erstmals erlaubte, etwas länger wach zu bleiben, um bei ihrem Musizieren zuhören zu dürfen. Das war für mich ein ganz großes Ereignis! Im Schlafanzug saß ich inmitten der Musik, die vier Spieler um mich herum. Mein Vater spielte die Bratsche und schien der Spiritus rector zu sein, denn er legte die Noten auf. Gespielt wurde Haydn und Mozart. Ich war völlig überwältigt vom wundervollen Klang, der mich umgab, ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchströmte mich. Fortan durfte ich ziemlich regelmäßig zuhören, wenn man sich wieder zum gemeinsamen Quartettspiel traf.

Als der Cellist ein paar Jahre später als Finanzbeamter nach Frankfurt versetzt wurde und somit diese Position im Quartett neu besetzt werden mußte, sagte ich meinem Vater, ich wolle nun auch dieses Instrument erlernen, um dann die Cellostimme im Quartett zu übernehmen. Dazu ist es zwar nie gekommen, aber Cellist bin ich so geworden!

Noch heute, wenn ich Haydns „Quinten-Quartett“ oder Mozarts „Dissonanzen-Quartett“ höre, spiele oder unterrichte, stellt sich die Erinnerung an dieses wohl besonders prägende Kindheitserlebnis ein.

Noch ein weiteres, geradezu bestürzendes Erlebnis verbindet sich für mich mit der Gattung Streichquartett, der wohl vollkommensten Art musikalischen Denkens. Ich war damals zwölf oder dreizehn Jahre alt, hatte auf dem Klavier und dem Cello schon ein gewisses Können erreicht, hatte mittlerweile auch angefangen, zu komponieren und somit auch eine Vorstellung von den musikalischen Epochen, mit Begeisterung spielte ich vor allem Beethovens Sonatinen und die mich magisch anziehenden Stücke von Bela Bartók auf dem Klavier, die ich mit meinen eigenen Kompositions-Versuchen auch zu imitieren suchte, da bekam ich für meine damals schon stetig wachsende Schallplatten-Sammlung eine Single geschenkt, auf der Beethovens „Große Fuge“ vom Juillard-Quartett eingespielt war. Als ich diese Musik hörte, war ich schockiert: das sollte Beethoven sein?! Mein ganzes musikalisches Gebäude stürzte in sich zusammen, ich verstand die Welt nicht mehr. Ich war aufgewühlt, denn was ich da hörte, hatte nichts mit dem zu tun, was ich zuvor mit dem Namen Beethoven verband. Diese mir damals völlig unverständliche, mich aber in ihrer gestischen Wucht und mit ihren harmonischen Herbheiten spontan überwältigende Musik schien mir viel moderner als alles, was ich schon von Bartók kannte!

Dieses Hörerlebnis hat nachgewirkt wie kaum ein anderes. Immer wieder unternahm ich den Versuch, das Geheimnis dieser Partitur zu ergründen, hörend und analysierend. Erst mit dem 1. Satz meines 4. Streichquartetts (1988) konnte ich – so glaube ich – diesen nachhaltigen Eindruck selbst komponierend ‚abarbeiten’. Und noch heute entdecke ich bei jedem erneuten Studium der „Großen Fuge“ neue, mich elektrisierende Aspekte. Mit dieser Musik kann man an kein Ende kommen!

Michael Denhoff, Bonn im Mai 2012 (neu gesichtet anläßlich der Auff. des 1. Satzes meines 4. Streichquartetts in der Reihe WORTKANGRAUM am 14. Juli 2021)

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