Sollte es nicht möglich sein, dass das „alte“ Europa, festgefahren in seinen politischen, bürokratischen und sozialen Strukturen, neue Energien aus Kunst und Ästhetik bezieht? Ganz einfach: Könnte nicht die Kunst Modelle des Denkens und praktischen Gestaltens anbieten, die sowohl mit den europäischen Kulturtraditionen wie auch mit den Traditionen außereuropäischer Kulturen besser vereinbar sind als der bisherige politische und ökonomische Imperialismus?
Gefühle kommen aus der Welt auf uns zu. Wer über den von dem chinesischen Architekten Wang Shu gestalteten Campus der Chinesischen Hochschule der Künste (zhongguo meishu xueyuan) im Süden Hangzhous spaziert, wird eine schier unendliche Vielfalt von wechselnden Aussichten bemerken. Man wähnt sich in einem eigenen Universum abseits der am Horizont wachsenden Trabantensiedlungen, während man zwischen den Fakultätsgebäuden, die um einen vorgefundenen grünen Hügel und einige Wasserkanäle gruppiert wurden, flaniert. Indem die gesamte Anlage in einer kontextuellen Beziehung zu den Hügeln am Horizont steht, kann sich die Raumstruktur des Disparaten entfalten. Ebenso wie in der chinesischen Landschaftsmalerei eröffnen sich Blicke auf die Natur, die in einer topologischen Struktur paralleler Perspektiven verankert sind. Es sind nur Wolken und Nebelschwaden, die zwischen ihnen die Übergänge und so eine Verbindung herstellen. Parallele Perspektiven, die sich im Fortgang einer atmenden Bewegung einstellen.
Die philosophische Anthropologie arbeitet heute daran, Menschsein in einer Vielfalt von kulturellen Ausprägungsformen zu denken. In Zukunft soll weder ein Geschlecht noch eine Gruppe, noch eine Kultur für sich in Anspruch nehmen können, durch Ausbildung besonderer Kompetenzen das eigentliche Menschsein zu repräsentieren. Spazierend, d.h. umherschweifend soll Humanität zu einer Erfahrung werden, die sich im Zusammenspiel alternativer Ausprägungen des Menschseins realisiert. Weltweisheit.
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Lieber Heinrich,
Wang Shus Werk hat mich ebenfalls fasziniert. Ich fand bloß keine passende Sprache…nun hast Du mir aus dem Herzen gesprochen.
Danke!
Xu Rong