Wir erleben ihn täglich, den WEG

Ich habe mich dafür entschieden, die Textbeiträge meines Blogs im Jahr 2022 mit Worten zum „Lachen“ ausklingen zu lassen und dabei auch auf „den WEG“/ „den Weg“ zu sprechen zu kommen. Der aus allen Seelenregistern gespeiste Humor ist bei Sigmund Freud eine Methode, sich dem Zwang des Leidens zu entziehen. Mit den Mitteln des Humors gewinnt er dem todbestimmten Leben den Aspekt der Heiterkeit ab. In einem Brief an Marie Bonaparte vom 13. August 1937 berichtet Freud von einer Idee für eine Reklame, die folgendermaßen lautet: „Warum leben, wenn Du für 10 Dollars begraben werden kannst?“ Das klingt vielleicht traurig oder makaber, ist es aber meiner Meinung nach nicht. Denn bei meiner Entscheidung für das Thema des Lachens schwebte mir das Bild des großen Lachenden Han Shan („Kalter Berg“, chinesischer Dichter der Tang-Zeit) vor Augen, der als eine Art Prototyp für einen chinesischen Chan– (Zen-) Buddhisten gilt. Ein Band Gedichte von ihm („150 Gedichte vom Kalten Berg“, übersetzt, kommentiert und eingeleitet von Stephan Schumacher) ist überliefert. Darin spricht er von Arbeit auf seinen Feldern, die er selbst bestellt, von seinem Weib, das am Webstuhl sitzt, und von seinen Kindern. Er kann also kaum ordiniert gewesen sein. Die Situation, in der er sich, nach den Gedichten zu urteilen, befand, ist die eines verarmten adligen Weltverächters. Han Shan pflegte sich häufig mit seinem Freund Shih De in einem Tempel zu treffen oder zu wandern, wohl um nicht zu „nützlicher“ Arbeit für die Regierung eingezogen zu werden. Von Han Shan heißt es: „Für Besucher war er nicht zu haben; wo sollten Sucher ihn suchen? Zum WEG führt kein Weg.“ (Zitiert nach Wu-men Hui-k´ai: Wu-men kuan/ Zutritt nur durch die Wand, aus dem Chinesischen übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Walter Liebenthal, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider, 1977, S. 16)

Das Lachen und die Suche nach dem Sinn des Lebens oder dem der Welt im Ganzen, hier „WEG“, stehen in einem engen Zusammenhang. Diesseits und Jenseits, Endlichkeit und Unendlichkeit, Leben und ewiges Leben – die Fragen danach bilden Reibeflächen, an denen sich sowohl der Glaube als auch der Humor entzünden. Beide leben aus der Spannung zwischen Unvereinbarem und dennoch untrennbar aufeinander Bezogenem, die der Lachende letztendlich auflöst. Der Humor präzisiert im schallenden Lachen den Zustand der Existenz. Aus den Geschichten des Chan-Buddhismus wissen wir, dass das Lachen nicht nur dem Ausdruck der eigenen Gefühle dient. Im Frage- und Antwortspiel zwischen Meister und Schüler richtig eingesetzt, hat es eine wichtige, die plötzliche Erkenntnis hervorrufende Wirkung: Der Buddha (der „WEG“) ist alles und nichts, diesseitig und jenseitig, endlich und unendlich.

Zitat (Komm. und Vers. gehören dazu) aus dem Wu-men Hui-k´ai: Wu-men kuan/ Zutritt nur durch die Wand (S.78):

Chao-chou fragt Nan-ch´üan: „Was ist der WEG?“ – Nan-ch´üan: „Wir erleben ihn täglich, den WEG.“ – Chao-chou: „Lässt er sich verfolgen?“ – Nan-ch´üan: „Sobald du das versuchst, hast du ihn schon verloren.“ – Chao-chou: „Ohne es zu versuchen, wie weiß ich, es ist der WEG?“ – Nan-ch´üan: „Der WEG ist nichts, von dem wir etwas wissen können, nichts, von dem wir nichts wissen können. Von ihm zu wissen, ist Einbildung, von ihm nichts zu wissen, ist leeres Gerede. Gelingt es dir wirklich, auf den WEG, der sich nicht verfolgen lässt, zu gelangen, so bist du gleichsam im leeren Raum, im Grenzenlosen, in einem Loch ohne Boden, – wer kann sich anmaßen zu behaupten, er sei oder sei nicht?“ Als Chao-chou dies hörte, kam ihm die plötzliche Erleuchtung.

Komm.: Von Chao-chou gefragt, bewirkte Nan-ch´üan, dass die Ziegel zerbröckelten, das Eis schmolz. Ganz fortgeräumt war alles aber nicht. Wohl mag Chao-chou sein Erlebnis gehabt haben, immerhin brauchte er noch dreißig Jahre dhyana (Versenkung, Erfahrungsakt der reinen Beobachtung), bis er es hatte.

Vers: Im Frühling blühen hundert Blumen, im Herbst scheint/ der Mond, – im Sommer weht ein kühler Wind, im Winter fällt Schnee.// Tritt einmal eine Pause ein in der Sorge um den Gang der/ häuslichen Geschäfte, so ist das für uns Menschen eine/ glückliche Zeit.

Ich wünsche Ihnen allen eine glückliche Zeit!

20.12.2022                                                                                   Heinrich Geiger

Beteilige dich an der Unterhaltung

4 Kommentare

  1. Lieber Heinrich,
    starker Text vom lachenden Dichter Hanshan, Kalter Berg, der noch bei den Beat-Dichtern beliebt war. „Von Han Shan heißt es: ‚Für Besucher war er nicht zu haben; wo sollten Sucher ihn suchen? Zum WEG führt kein Weg.‘“
    Ob der Flaneur ganz von sich absehen kann, ist die Frage. Ich verstehe Kants „interesseloses Wohlgefallen“ und auch Adorno sagt: „Schönheit ist der Exodus dessen, was im Reiche der Zwecke sich objektivierte, aus diesem.“ Aber auch das vermeintliche Absehen von sich selbst ist eine „Färbung“; da wir die Dinge an sich nicht erreichen, bleibt auch das anvisierte „objektive Weltbild“ subjektiv.
    Wulf Noll

  2. Lieber Heinrich,
    wie oft kann man über einen Witz lachen ?

    Antwort: Dreimal.
    – Einmal, wenn man ihn hört.
    – Einmal, wenn man ihn erklärt bekommt.
    – Einmal, wenn man ihn verstanden hat.

    Der geistesgeschichtlich-philosophische Aspekt dieses Witzes ist mir durch deinen aktuellen Beitrag bewusst geworden – Lachen als Ausdruck des plötzlichen Verstehens und der Erkenntnis des eigenen Irrtums.
    Sehr aufschlussreich finde ich in dem Zusammenhang den Beitrag „Was gibt es eigentlich zu lachen im Buddhismus ?“ von Karl-Heinz Pohl (https://www.uni-trier.de/fileadmin/fb2/SIN/Pohl_Publikation/Was_gibt_es_zu_lachen_im_Buddhismus.pdf), welcher die befreiende Wirkung des verstehenden Lachens anhand verschiedener Beispiele beschreibt.

    In dem Zusammenhang fällt mir der Roman „Der Name der Rose“ von Umberto Eco ein, in welchem ein Buch über das Lachen (der im Roman fiktiv erwähnte zweite Teil der Poetik des Aristoteles) unterdrückt und am Ende zerstört wird, weil Witz und Ironie die Autorität der Kirche und die heilige Angst vor Gott und seinem Gesetz gefährden könnten. In dieser romanhaften Deutung wird das Lachen zu einem befreienden Element, welches Autoritäten infrage stellt und durch auflachende Erkenntnis ersetzt. Eine Gemeinsamkeit von Ost und West, von Zen und Aristoteles ?

  3. Lieber Heinrich,
    dein Text hat mich bewegt, über das Wort „Weg“ etwas zu sinnieren. In der deutschen Sprache hat es ja mehrere Bedeutungen. Als Nomen mit lang gesprochenem Vokal bezeichnet es eine Spur, die mehr oder weniger ausgetreten, als Eisen-, Beton- oder Asphaltband, gepflastert oder zugewachsen irgendwohin führt, auf dem sich Mensch oder Tier entlang bewegen.
    Manchmal muss man sich einen Weg bahnen, weil es ihn noch nicht gibt.
    So ist auch der ästhetische Spaziergänger auf zweierlei Wegen unterwegs: Zum einen beschreitet er einen existierenden Weg, vielleicht einen Rasen oder eine abgemähte Wiese; über einen Acker lässt es sich nicht gut spazieren. Der Weg darf keine großen Ansprüche an den Spazierenden stellen, weil er sonst vom Denken abgelenkt wird. Gleichzeitig befindet er sich auf einem geistigen Weg, den er verfolgt, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, nicht zu verwechseln mit dem „WEG der Erkenntnis“.
    Manche befinden sich auf Abwegen, Irrwegen, Holzwegen, wegen derer er in Kalamitäten geraten kann.
    Im übertragenen Sinn kommt man zum Lebensweg, die persönliche Vita im gesellschaftlichen und im geistigen Wesen, vielleicht auf der Suche nach dem „WEG“, bei dem man vielleicht auch durch innere Wände gehen muss, soweit ich den Meister Wu-men bemühen darf.
    Mit einem kurzen Vokal ausgesprochen bedeutet die Präposition „weg“ die Abwesenheit von etwas oder jemandem, im Sinne von „fort“. Hape Kerkeling hat das in seinem Buchtitel recht schön zu einem Wortspiel verbunden: „Ich bin dann mal weg“. Darin beschreibt er seine Erfahrungen auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela. Man kann auf dem Weg sein und gleichzeitig weg sein.
    Auch das Wegsein erfordert eine Bewegung. Es muss vorher jemand oder etwas da gewesen sein. Der physische oder geistige Zustand hat sich verändert, geprägt durch die bereits erwähnte Abwesenheit. Unser Alltag ist beeinflusst von diesem geistigen Wegsein: Sobald wir an etwas Vergangenes denken, befinden wir uns in einer sogenannte Alltagstrance, sind quasi weg. Dieser Zustand bestimmt durchschnittlich 40 % unseres täglichen Bewusstseins. In der Familientherapie arbeite ich erfolgreich mit solchen Trancen, einschließlich Hypnotherapie, bei denen ich die Klienten und Klientinnen auf inneren Wegen begleiten oder führen darf. Auch das sind Wege der Erkenntnis, weil sich innere Bilder ändern und heilen lassen.

    1. Lieber Harald,

      vielen Dank für Deinen sehr schönen Beitrag. Einfach mal „weg sein“ und „auf dem Weg sein“, das sind zwei sehr unterschiedliche Aspekte, die aber miteinander doch viel gemeinsam haben.

      „Weg“ ist eine der möglichen Übersetzungen des chinesischen „dao“. Sinologen, die einen christlichen Hintrgrund haben und als Missionare in China gearbeitet haben, haben ihn mit „Sinn“ übersetzt. Aus meiner Sicht ist es eine große Bereicherung für das christliche Denken, wenn man einfach mal ein Modell gelten lässt, das nicht immer die Sinnfrage stellt, sondern einfach darauf setzt, dass alles seinen Weg geht. Idealismus – Pragmatismus, das sind die beiden Pole, die sich hier begegnen. Leider ist keines der beiden Modelle perfekt. Im Idealismus ist viel heiße Luft, im Pragmatismus ein menschenverachtendes Element. Wie bei so vielem, wäre es gut, wenn keiner sein Modell mit aller Gewalt durchzudrücken versucht, sondern einfach darauf setzt, dass sie sich in ihrer Gegensätzlichkeit ergänzen.

      Herzliche Grüße,

      Heinrich

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert