Erinnerung

Mein erster Beitrag im Jahr 2023 ist auf erfreuliche Resonanz gestoßen. Ich möchte auf die sehr lesenswerten Kommentare verweisen, die sich in meinem Blog finden. Ich freue mich, dass Matthias Drescher, der schon einmal einen Gastbeitrag schrieb, den Ball ebenso aufgenommen hat. Sein neuer Text ist dem Thema der „Erinnerung“ gewidmet. Matthias Drescher schöpft aus einem reichen Fundus an Vorarbeiten und Ideen, da er erst jüngst ein Buch mit dem Titel „Bilder, die ins Vergessen führen“ verfasste. Es ist 2022 bei PalmArtPress erschienen. Sein Text kreist um die Textstelle aus dem Buch Kohelet: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne„, die ich in meinem letzten Blogtext „stumm“ zitierte.

Aufgrund meiner Auseinandersetzung mit China – Matthias Dreschers Buch Bilder, die ins Vergessen führen lebt auch aus Betrachtungen und Analysen zur chinesischen Kulturgeschichte –  bin ich mir der Rolle bewusst, die eine zu erinnernde Vergangenheit für eine ganze Nation, ein ganzes Land spielen kann. Gleichzeitig erschrecke ich aber auch, wenn ich erlebe, wie weltweit – und auch in China – Erinnerung für politische Zwecke instrumentalisiert wird und die kleinen Traditionen, die keinen Eingang in die „erinnerungswürdige“ große Tradition finden, schlichtweg dem Vergessen anheimfallen. Die tagtäglich zu erlebende Erinnerungslosigkeit – es gibt nicht allzu wenige, die heute schon nicht mehr wissen, was sie am letzten Wochenende gemacht oder gesagt haben – ist ein anderes Thema, auf das ich hier nicht eingehen möchte.

Ich bin Matthias Drescher sehr dankbar für den Text und die Entscheidung, diesem ein Zitat des Großmeisters der chinesischen Schriftkunst Wang Xizhi王羲之 (307-361 n.Chr.) voranzustellen.     

Matthias Drescher

Erinnerung

„Unsere Nachfahren werden auf uns Heutige schauen so wie wir auf unsere Vorfahren schauen, mit Trauer im Herzen. Deshalb zeichne ich das Leben meiner Zeitgenossen auf und halte fest, was sie hervorgebracht haben. Die Zeiten und Lebensumstände ändern sich, aber die Beweggründe für unsere Gedanken und Empfindungen bleiben dieselben. Wenn spätere Generationen diese Zeilen lesen, dann werden auch sie von ihnen berührt werden.“

So endet der „Prolog zur Zusammenkunft am Orchideenpavillon“ (Lanting Xu von Wang Xizhi, in der Übersetzung von Brigitta Diep) aus dem Jahr 353 n. Chr.[1]

Der Lanting Xu berührt uns tatsächlich, über Jahrhunderte und Kulturgrenzen hinweg, und zwar gleich mehrfach, auf verschiedenen Ebenen. Zunächst ist es die Schilderung an sich, eines heiteren Frühlingstreffens von Freunden, die sich an einem Bach gegenseitig Gedichte vortragen. Ein idyllisches Bild, das uns vertraut erscheint, auch wenn wir nichts derartiges erlebt haben. Man wäre gerne dabeigewesen und fühlt sich den Teilnehmern nah, erfreut und zugleich erstaunt, daß dies über eine solche Distanz möglich ist. Aber Wang Xizhi hat recht, die Freude enthält Wehmut, und die ist ebenfalls erstaunlich. Denn seine Schilderung läßt uns am Lebensgenuß teilhaben, nicht an Negativem – warum also „Trauer im Herzen“? Tatsächlich beschwört der Dichter selbst dieses Gefühl, indem er die Vergänglichkeit ins Spiel bringt: “Was heute noch das Herz erfreut, kann morgen schon der Vergangenheit angehören.“ Nur weil alle wissen, wie flüchtig das Leben ist, können sich die Menschen über Generationen hinweg verstehen, und nur darum erfassen sie die Schönheit der erinnerten Szene.

Für den chinesischen Dichter bleiben die eigentlichen Beweggründe des Menschen immer dieselben. Daß er damit nicht alleine ist, zeigt Heinrich Geigers Zitat aus dem Buch Kohelet: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ Auch Kohelet klagt über die Vergänglichkeit, nennt den Menschen einen „Windhauch“ und empfiehlt, die guten Zeiten als Gaben Gottes zu genießen. An anderer Stelle sagt er: „Es gibt kein Glück, es sei denn, der Mensch kann durch sein Tun Freude gewinnen“. Das paßt ebenfalls zum Lanting Xu, wo es heißt: „So können wir nichts Besseres tun, als unsere innere Entwicklung voranzutreiben.“

Das Leben der Zeitgenossen darstellen und späteren Generationen zeigen, daß das Wichtigste gleichbleibt – so versteht Wang Xizhi seine Aufgabe. Ein klares Programm, nüchtern formuliert, das man in der altchinesischen Kunst überall wiederfindet. Es verwandelt das Wissen der Menschen um ihre Vergänglichkeit in wehmütige Einigkeit über die Generationen hinweg.

Der Westen und seine Kunst sind völlig anders geprägt. Ans ewige Leben zu glauben, ist das Gegenteil von „Trauer im Herzen“. Christliche Kunst diente dazu, den Glauben zu stärken – Tristitia[2] und melancholische Erinnerungen waren dagegen suspekt, und sie blieben es, nachdem die Jenseitshoffnung zum Fortschrittsglauben mutiert war. Das heißt keineswegs, daß westliche Menschen vergangener Schönheit nicht nachtrauern und daß sie ihren Sog nicht spüren. Auch unsere Kunst ist darauf eingegangen; sie hat das Erinnern genutzt und zeitweise zum Hauptmittel gemacht. Deshalb kommen sich europäische und chinesische Bilder oft nah, und deshalb hat der Lanting Xu Ähnlichkeit mit Gedichten wie Hölderlins „Hälfte des Lebens“.[3]  Aber das sollte über den grundsätzlichen Unterschied nicht hinwegtäuschen: Kein gemeinsames Trauern, sondern seine Hoffnung will das Christentum vermitteln. Wie diese Zukunftsgewandtheit auch ohne Gott erhalten blieb, ist ein eigenes Thema, das sich an der westlichen Malerei verfolgen läßt[4]. Dabei spielte Erinnerung eine wichtige Rolle, aber nur so lange, bis sich die Lebensumstände drastisch und immer schneller veränderten. Denn was ein Künstler erlebt und von der Zukunft erwartet, das kann er schlecht mit Erfahrungen illustrieren, die längst überholt sind.

Wang Xizhi hingegen erreicht sein Ziel auch im Westen. Offenbar ist auch hier das Erinnern noch wirksam, wenn es so existentiell eingesetzt wird wie von ihm. Er will auf die Gemeinsamkeit aller Menschen verweisen, und es gelingt ihm. Er dringt zu uns durch, weil er keine Jenseits- oder Zukunftshoffnung propagiert, sondern nur Einsicht in die Vergänglichkeit: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“.


[1] hier die englische Übersetzung

[2] lt. Gregor dem Großen ein Laster

[3] Hälfte des Lebens
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

[4] Matthias Drescher, Bilder, die ins Vergessen führen, PalmArtPress 2022

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1 Kommentar

  1. Was für ein schöner Text, der lán tíng jí xù. Matthias Drescher hat recht, er berührt uns über Jahrhunderte und Kulturgrenzen hinweg. Ort, Zeit und Anlass des Festes werden genau beschrieben werden, der Leser in einem Zeitsprung unmittelbar in das Geschehen hinein genommen.
    Das Gefühl der freudigen Vergessenheit, des völligen Aufgehens im Augenblick und dann die Vorwegnahme der bedauernden Rückschau ob der Vergänglichkeit werden treffend eingefangen. Erinnerungen an unbeschwert glückliche Momente, an die eigene Kindheit, vielleicht an die Großeltern, uns heutige Menschen berühren diese Empfindungen ebenso frühere Generationen. Auch wenn Zeiten und Umstände sich ändern, unsere Empfindungen sind dieselben wie die früherer Generationen – wenn man den Text liest, möchte man spontan beipflichten.
    Der Leser des Textes wird eingeladen, sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit zu begeben.

    Und doch lässt mich etwas abrupt innehalten – die idyllische Welt von einst, wie sie sich im lán tíng jí xù darstellt – sie erscheint im Spiegel der Moderne gebrochen. Wo in unserer Geschichte liegt die Zäsur ? In Gesprächen mit damaligen Zeitzeugen hatte ich häufig das Gefühl, dass der Ausbruch des ersten Weltkriegs für sie eine solche Zäsur gewesen sein könnte. Vielleicht gibt es sie immer wieder, solche Zäsuren – den Holocaust, Hiroshima und Nagasaki – Zäsuren in der Geschichte, die Schönes und Menschliches zerstört haben und wie eine unüberwindbare Grenze zwischen früher und heute liegen und uns in der unbeschwerten Rückschau plötzlich erschaudern lassen.
    Vielleicht, so frage ich mich, sind es solche Zäsuren, welche unseren Blick aus der Vergangenheit in die Gegenwart lenken, zur Veränderung hin auf eine bessere, friedliche Zukunft, in der sich der Kreis schließt und Menschen wieder unbeschwert das Frühlingsfest feiern können wie im alten China ?

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