„Was ist es also, das alles vermag?“

Mir gefällt die Fiktion einer Nicht-Einreise von Mischa Leinkauf, weil sie subversiv ist und das Potential hat, das vorherrschende Denken in Grenzen aufzubrechen. In seiner Videoarbeit aus dem Jahr 2019 ist nachzuverfolgen, wie er auf dem Meeresgrund die nicht-sichtbare Grenze zwischen Israel und Jordanien bzw.  Ägypten im Roten Meer sowie der spanischen Enklave Ceuta und Marokko in der Straße von Gibraltar durchschreitet. Auf dem Meeresgrund sind geschickt die offiziellen Autoritäten, die den Zugang zu den nationalen Territorien regeln, zu umgehen. Und, sind einmal die Grenzzäune, die an den Ufern teilweise bis in eine Tiefe von 30 Metern reichen, überwunden, eröffnet sich eine Landschaft, die grenzenlos ist und für die keine Form der Absicherung mehr Bestand hat:  die weite Wasserlandschaft des Meeres.

Nach traditioneller chinesischer Vorstellung ist Wasser das Blut der Erde. Es sammelt sich in Himmel und Erde, es dringt in Metall und Gestein ein und es konzentriert sich in den Lebewesen. Im Buch Guanzi, das aus vermischten Quellen mit außerordentlich tiefsinnigen Bemerkungen über das Dao besteht und ca. 300 v.Chr. zusammengestellt wurde, heißt es: „Was ist es also, das alles vermag? Es ist das Wasser. Nicht eines der mannigfaltigen Dinge gibt es, das nicht aus ihm hervorgeht. Nur wer (mit seinen Prinzipien) umzugehen weiß, kann in rechter Weise handeln …. Für den Weisen ist daher das Wasser der Schlüssel zur Wandlung der Welt. Denn wenn das Wasser unvergiftet ist, ist das Herz befriedet. Ist das Herz der Menschen lauter, so ist nichts Böses in ihrem Wandel. Wenn der Weise daher die Welt regiert, so lehrt er nicht jeden einzelnen Menschen oder jedes einzelne Haus, sondern nimmt sich das Wasser als Schlüssel.“ (zitiert nach: Fung Yu-lan, A History of Chinese Philosophy. 2 Bde., LPrinceton University Press, 1952-1953,  Zitat: Bd. I, S. 166-167)  

Während vor unserer Tür ein grausam mächtiger Mann Land in seinen Herrschaftsbereich zurückzubomben versucht, könnte der Blick in die Weite des Meeres Entlastung bringen, wenn da nicht die Flüchtlinge wären, die in ihm vor den Grenzen Europas ertrinken. Ich möchte mich Mischa Leinkauf  anschließen, der das Wasser, das Fluide des Meers als das Medium erkannt hat, das die Barrieren und Grenzen unterwanderbar macht. „Das Allerweichste auf Erden überwindet das Allerhärteste auf Erden“ (Buch Huainanzi, ein weiteres Buch mit vermischten Quellen, das von Gelehrten am Hof des Liu An, gest. 122 v.Chr. kompiliert wurde).   

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1 Kommentar

  1. Lieber Heinrich, mir gefällt die Idee zur Aktion „Fiktion einer Nicht-Einreise“ auch. Mischa Leinkauf zeigt die Absurdität eines juristischen Konstruktes auf, welches er als eine „Form territorialer Entrechtlichung“ nach Deutschland eingereister Asylbewerber ansieht. Der Asylbewerber befindet sich vor Ort in Deutschland, seine Einreise soll laut Asylkompromiss der damaligen Bundesregierung aber rechtlich nicht anerkannt werden – purer Populismus !
    Mischa Leinkauf zeigt die Absurdität dieser juristischen Verrenkung auf, indem er sie auf die Spitze treibt und quasi mit eigenen Mitteln schlägt – absurder als das Unterwandern einer Grenze auf dem Meeresgrund, ausgestattet mit Sauerstoffflaschen und Bleischuhen, geht es nicht mehr. Nicht die Grenze durchtauchen, sondern auf dem Meeresgrund _überschreiten_, eine gezielte Überspitzung und Provokation gegen die Territorialstaaten, als wollte er fragen: Und, schickt ihr eure Grenzpolizei auch hier hinab ? Weshalb baut ihr keinen Grenzzaun auf dem Meeresgrund ?!
    Schön auch die Doppeldeutigkeit des Begriffs „Unterwandern von Grenzen“ – ein Ansatz, mit Kunst die Idee der Abschottung von Staatsterritorien auszuhöhlen und quasi zu unterwandern.
    Man braucht nicht in allen Punkten mit Mischa Leinkauf in seiner rigorosen Ablehnung von Grenzbarrieren übereinstimmen, um die Aktion gelungen und das Anliegen relevant und hoch aktuell zu finden.

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