Gastbeitrag von Monika Littau

Die Gastbeiträge in meinem Blog haben mittlerweile Tradition. Ich empfinde sie als große Bereicherung. Der nachfolgende Text von Monika Littau stammt aus ihrer Zeit als Poet in Residence in Qingdao, VR China. Ihm entnehme ich, welche Voraussetzungen für einen literarisch ertragreichen Aufenthalt in einer fremden Kultur nötig sind: Man muss Lebenserfahrung haben und sich selbst kennen, man muss sich der Komplexität, Unsicherheit und Unkontrollierbarkeit der Welt stellen und unterschiedliche Perspektiven berücksichtigen können. Diese kognitiven Fähigkeiten kommen aber dann erst zum Tragen, wenn es in der konkreten Situation gelingt, auch noch Neugier und Mitgefühl zu aktivieren und dabei die eigenen Emotionen unter Kontrolle zu halten. All das ist in dem nachfolgenden Text von Monika Littau zu spüren.

Bonn, 10.05.2023                                                              Heinrich Geiger

ZUR  PERSON  DER  AUTORIN

Monika Littau studierte Germanistik, Geographie und Musikwissenschaft in Bochum und Münster. Sie war in Forschung, Bildung, Kultur-/Literaturförderung tätig, zuletzt im Kulturministerium NRW.  Seit 2007 arbeitet sie ausschließlich als freie Autorin und Herausgeberin.

Bislang liegen von ihr 20 Einzelveröffentlichungen vor. Zuletzt erschienen 2019 „Von der Rückseite des Mondes“, chinesische Prosaminiaturen, 2020 der Roman „Buchela – Pythia von Bonn“ im Rhein-Mosel-Verlag, 2021 der Band „Manchmal oben Licht. Ein Elternabschied in sieben Stationen“, in dem es um das Thema Demenz, Alter und Tod geht. Ein „Lesebuch Monika Littau“, veröffentlicht 2022, gibt mittlerweile einen Überblick über ihre literarische Arbeit. Zur Leipziger Buchmesse 2023 ist die Wortschau 41 zum Thema „Verwandtes“ neu erschienen. Monika Littau ist Hauptautorin dieser Ausgabe und arbeitete mit der bildenden Künstlerin Alena Steinlechner (Neustadt a.d. Weinstraße) zusammen. 

Monika Littau erhielt für ihre Arbeiten eine Reihe Auszeichnungen und Stipendien. Sie ist Förderpreisträgerin des Landes Nordrhein-Westfalen, wurde zweimal in Berlin mit dem Preis für politische Lyrik ausgezeichnet und durch Stipendien des Landes und der Kunststiftung NRW unterstützt. Sie war Dorfschreiberin in Eisenbach und Poet in Residence in Qingdao/China. 2021 erhielt sie den Bonner Literaturpreis.

TEXT

An der Ocean-University of China in Qingdao

K und k

Flowering Cherry Avenue. Die Zeit der japanischen Kirschblüte ist vorbei. Der Klang des Straßennamens bleibt ganzjährig duftig und sanft. Bunte Isolierkannen setzen Farbtupfer entlang der Straße auf den Bürgersteigen. Sie werden kostenfrei mit warmem Trinkwasser aufgefüllt.

Ich gehe über den Laoshan-Campus der Ocean University of China in den Bergen. Ich gehe durch ein Areal, das durchgängig mit fünfgeschossigen Blocks bebaut worden ist, die aussehen, als stünden sie in Berlin. Schönste Gründerzeitarchitektur, große Steinblöcke an den Häuserecken mit Putzflächen dazwischen, runde Dachgiebel mit Schneckenverzierungen. Ein wenig weiter glaube ich vor der schwangeren Auster zu stehen. Es handelt sich um die Campus-Sporthalle.

Hier oben, nahe den Laoshan-Bergen studieren 30.000 junge Menschen vor allen Dingen Ozeanologie und Polarwissenschaft, ein verschwindend kleiner Teil beschäftigt sich mit Sprachen und erlernt Deutsch. Die Ocean-University wurde 1928 gegründet. Sie besteht heute aus vier Standorten mit insgesamt 120.000 Studierenden. Der gesamte Bau in den Bergen ist noch keine zwanzig Jahre alt. Wie viel schöner ist diese Anlage als manche deutsche Universität, die aus Alt und Neu zusammengestoppelt worden oder als Betonuni nur funktional geplant und trist ist. Das ganze Areal hier ist gestaltet, ein „Man-made Lake“, Wasserläufe, Pflanzen, ein künstlich angelegter Berg zum Spazierengehen.

Mittags ertönt Musik des Campusradios aus den Lautsprechern, zu der die Studentinnen unter ihren bunten Sonnenschirmen Richtung Mensa flanieren. Das wirkt fast surreal und wunderschön. Dazwischen tourt die kleine Elektrobahn wie ein Urlaubervehikel übers Gelände.    

Von allen vier Himmelsrichtungen ist der Zugang zum Campus an Toren möglich. Immer sind dort Schlagbäume, immer gibt es Wächter in Uniform, die entscheiden, wer das Gelände befahren darf.

Seit wenigen Tagen überfallen Eltern mit Studienanfängern das Gelände. Sie wirken fremd und aufgeregt. Und während sich die Zahl ihrer Fahrzeuge mehrt, kommen immer mehr Händler auf den Campus. Sie bieten Handyverträge und Matratzen an, Bettdecken und Waschschüsseln, Isolierkannen und batteriebetriebene Lampen.

Wozu braucht man denn solche Lampen?, frage ich.

Wenn man spät abends noch lesen will, sagen meine Studentinnen.

Damit man die anderen nicht stört, überlege ich laut.

Nein, nein, das Licht wird abgestellt um halb elf. Wir müssen Energie sparen!

Energiesparen?

Unwillkürlich denke ich an die bunten, stets wechselnden Leuchtreklamen der Shoppingmalls. Ich denke an strenge Eltern, die das Licht abends löschen und ich denke an katholische Kinderheime, zu deren Verhaltenskodex es gehört, die Hände auf die Bettdecke zu legen.  

Batteriebetriebene Lampen sind begehrt.

Es kommen auch kleine Lieferwagen, die ein Zelt, Tische und Stühle aufbauen und Essen verkaufen.

Und dann gibt es natürlich noch die vielen kleinen Mopeds, die Essen auf Rädern in die Studentenheime bringen.

An der Tür unseres Seminarraums hängt ein Schild: Händler dürfen den Unterricht nicht stören. Ich verstehe nicht, warum es dieses Schild an der Tür geben muss.

„Die Händler kamen bis ins Seminar“, erklären meine Studentinnen.

Ich schüttele den Kopf. Warum ist der Zugang zur Universität für Bürger beschränkt? Warum dürfen private Händler auf dem Campus alles Mögliche verkaufen?

Warum sind die meisten chinesischen Millionäre Mitglied der KP? Wo spricht überall die Partei mit? Ich kann es nicht sehen, ich kann es nur ahnen. Ich kann nur fragen: k oder k? Was ist hier kapitalistisch, was kommunistisch? Wie funktioniert das System?

(…)

Blau, weiß, rot

Blauweiße Ringelhemden, blaue kurze Hosen. 30, 40 Studenten, gleich gekleidet, Gleichschritt. Tags drauf sieht man auf den Balkonen der Studentenwohnheime, überall gleich, die blau-weißen Ringelhemden flattern.

Studenten in Blauweiß, Studenten der Meereswissenschaften, der Fischereiwissenschaften, der Ingenieurwissenschaften.

Sie haben sich verpflichtet bei der Marine. Blau ist das Meer. Weiß ist der Himmel vielleicht, sind die Schaumkronen auf dem Wasser. Gestreift dreimal blau, zweimal weiß, ist die Dienstflagge der Seestreitmächte im unteren Teil des Bildes. Darüber die Hälfte ist rot, trägt den einen großen Stern und das Datum der Gründung der chinesischen Befreiungsarmee: 1. August 1927. Grau dagegen sind – wie überall auf der Welt – die Fregatten, Korvetten und anderen Schiffe, die in der geschützten Bucht von Qingdao stationiert sind und im Hafen liegen.

Bald drängeln sich gut gelaunte Erstsemester in Tarnanzügen auf den Sportplätzen der Universität in den Bergen. Sie sind allgegenwärtig, verstopfen die Mensa, lachen an der Kasse im kleinen Laden auf dem Campus. Für sie beginnt ein neuer Lebensabschnitt, das Studium. Und die Freude darüber sieht man ihnen an. Wer das Kaukau[1] geschafft hat, der kommt weiter im Leben, wenn er sich an die Spielregeln hält. Und Spielregeln werden geübt, zunächst in einer vierzehntägigen militärischen Grundausbildung.

Aus dem ungeordneten Haufen strahlender Erstsemester formieren sich quadratische Blöcke, die im Gleichschritt marschieren. Wenig später erklingt blechern die Hymne der Befreiungsarmee. Das ist eine Melodie, zu der es sich leicht geht, wie an einem Wandertag, wie bei der Besteigung eines Gipfels. Die Melodie schraubt sich auf zu einem blechernen Siegestirilieren.

„Wir sind Söhne und Brüder von Arbeitern und Bauern“ heißt es im Liedtext der Hymne, die, Teil der roten Lieder[2], auf dem Campus nur in Instrumentalfassung zu hören ist.

Der Ton wird in den zwei Wochen rauer, der Tritt sicherer, die Gesichter der jungen Männer und Frauen blicken ernster.

Sie „Marschieren zum Sieg/Zur Befreiung des ganzen Landes!“[3], sind Teil der größten Armee der Welt, die sich auch von denen befreit, die nicht marschieren wollen. 

„Verhasst“ sei diese Grundausbildung, höre ich von dem einen, „so begehrt“, dass nicht für alle eine vollständige Ausbildung angeboten werden könne, von dem anderen.

„Da ist einer aus dem Tritt“, höre ich Meng sagen. „Oh, das gibt Ärger.“

Zu viel oder zu wenig

Da fehlt jemand!

Gute Bäume fehlt, sagen die Studentinnen. Sie ist noch bei ihrer Familie und krank.

Das Reisen nach Hause bedeutet für viele eine kleine Weltreise. So auch für Gute Bäume. Sie kommt aus dem äußersten Nordwesten. Ich mutmaße aus dem Gebiet der Uiguren oder Mongolen. Nach Hause, das sind für sie circa 2000 Kilometer Fahrt.

Da das Reisen im Land bereits über so große Distanzen geht, relativiert sich auch das Reisen in der Welt. Ein Teil meiner Studentinnen war in den vergangenen Wochen in Kassel zu einem Deutschkurs. Während des bereits laufenden Semesters verlässt Morgenweisheit unseren Kurs, um in Japan Deutsch zu studieren. Verrückt, denke ich. Deutschlernen in Japan. Aber vielleicht ist es die einzige Möglichkeit in dieser Lebensphase dem chinesischen Drill zu entgehen?

Der Mann einer Kollegin besucht zur Computermesse vier Tage Berlin. Und da bleibt noch ein Tag übrig, um kurz nach Paris zu fliegen. Er kommt zurück mit dem Schluss: Europa ist nicht modern.

Europa pflegt sein historisches Erbe, sage ich. Europa hat noch eine Vorstellung von Stadt, die sich nicht in Shopping-Malls erschöpft. Die europäische Stadt hat ein Rathaus und einen Marktplatz und mindestens eine Kirche…

Gute Bäume trifft in der dritten Woche ein. Sie hatte nicht nur eine lange Reise, sie musste auch zum Arzt, weil ein kleiner Hund sie gebissen hatte.

Auch Gute Bäume war schon in Deutschland, und zwar in Berlin. Und, wie hat es ihr dort gefallen?

Zu viele Ausländer, sagt sie. Das hat mir nicht gefallen.

Aber du weißt, entgegne ich, dass auch Chinesen in Deutschland Ausländer sind?

Darauf geht sie nicht ein.

China ist ein Vielvölkerstaat. Unten, am Meer, habe ich eine Skulptur gesehen, die eine chinesische Amazone reitend auf einem kleinen unförmigen Tier zeigt. Sie reckt die Arme in den Himmel und auch ihr Zopf steht senkrecht nach oben, als sei er eine Antenne. Der Körper der Frau mit schmaler Brust und mächtigem Becken, ist in der Pose einer seltsam fremden Siegerin modelliert. Den chinesischen Minderheitenhat der Künstler seine Skulptur gewidmet. 

An Universitäten kommen alle zusammen. Han und Hui, Kadai, Miao-Yao, Uiguren, Kasachen, Kirgisen, Tadschiken…

Die Studienplätze werden nach einem regionalen Schlüssel vergeben. Und damit sie sich zu Hause fühlen, gibt es in der Mensa regionale Küchen. Denn der Norden isst salzig, der Süden isst süß, der Westen scharf und der Osten sauer, heißt es.

Was möchtest du essen?, fragen meine Studenten.

Ich bin hier, um neue Erfahrungen zu machen, sollen sie mir etwas empfehlen.

Welche Richtung? Nudeln oder Reis? Fleisch oder vegetarisch? Scharf oder mild?

Süßsauer, sage ich.

Ausgerechnet das, was bei uns auf jeder chinesischen Menükarte steht, gibt es hier nicht.

Als ich wenig später an der Kasse im Campusladen hinter zwei Afrikanern stehe, fällt mir auf, dass es hier so gut wie keine ausländischen Studenten gibt. Die beiden kommen aus Zimbabwe, erfahre ich, also aus einer – zumindest auf dem Papier – sozialistischen Republik.

Ausländische Studenten gibt es hier wirklich wenig[4], während das sogenannte Expertenhaus mit ausländischen Lehrenden durchaus gefüllt ist. Gäste auf Zeit, von denen man lernen kann. Aber danach sollen sie wieder nach Hause. Keine Daueranstellungen, keine Rentenversicherung. Auch nicht für den Kollegen, der seit Jahren hier ist, mittlerweile verheiratet mit einer Chinesin und einen kleinen deutsch-chinesischen Sohn hat. Eine Rentenversicherung für Ausländer in China, das hat es noch nicht gegeben.

Wir sind so viele, heißt es immer wieder.

Und das spürt man sogar in Deutschland, denn chinesische junge Menschen bilden die größte Gruppe ausländischer Studenten hierzulande.

Und so ist immer etwas zu viel und immer etwas zu wenig und immer etwas zu groß und immer etwas zu klein.

Und der mittlere Weg, der zum Ziel führt, scheint uns verborgen.  

In: Monika Littau, Von der Rückseite des Mondes, Schiedlberg/Österreich (Bacopa), 2019, S. 32ff.


[1] Abitur

[2]Bei den „Roten Liedern“ handelt es sich um einen Kanon von Liedern, die anlässlich des 90. Jahrestages der KP in Massenveranstaltungen gesungen wurden und die Revolution und das Vaterland lobpreisen.

[3] Text aus der Hymne der Streitmächte

[4] China 2013 – 0,28 %, Deutschland 2013 – 11,3 % ausländische Studenten

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