An der Schwelle

Betritt eine Besucherin/ ein Besucher die Sankt-Burchardi-Kirche in Halberstadt – eine Kleinstadt am Rand des Harzes – steht er in einem leer geräumten Raum, der eher einer Ruine als einem Sakralbau gleicht. Sie oder er wird vom Vibrieren und Wummern eines Akkords erfasst, der derzeit aus fünf Orgelpfeifen erklingt – gespielt auf einer Miniatur-Orgel aus Holz, an deren Tasten Sandsäckchen hängen, damit der Ton, dieser fast hypnotische, monotone, leicht erhöhte Ton, durchgängig zu hören ist. Von der Orgel selber ist vorerst nichts zu sehen. Denn diese befindet sich im südlichen Querhaus, ihr gegenüber, im nördlichen Querhaus, der Blasebalg. Fast schwebend wird der Raum von einem Klang erfüllt, der sich verändert: Mit jedem Schritt, schon bei der kleinsten Kopfdrehung, hört er sich anders an, bald tiefer, bald höher; einmal überwiegt das Wummern, dann ein Sirren.

Klang und Raum und zeitliche Dauer. In der  Sankt-Burchardi-Kirche erklingt ein Konzert, das kein Mensch im Ganzen hören kann. In dem romanischen Kirchbau wird seit 2001 John Cages Orgelwerk „ORGAN2/ ASLSP aufgeführt. Das Konzert, das Cage 1985 unter dem Titel „As SLow aS Possible“ komponierte und zwei Jahre später für die Orgel adaptierte, dauert 639 Jahre. Die Zahl ist keineswegs willkürlich bemessen. Sie wurde ausgehend von einem musikhistorischen Datum berechnet. Ausgangspunkt ist das Jahr 1361, in dem im Halberstädter Dom die damals größte und modernste Orgel geweiht wurde. Die Zahl 639 ergibt sich aus der Zeitspanne zwischen dem Jahr der Weihe der Orgel und der Jahrtausendwende, dem Jahr 2000. Begonnen am 5. September 2001 (am 89. Geburtstag des 1992 verstorbenen amerikanischen Komponisten), wird demgemäß das Konzert im Jahr 2640 endigen oder, genauer gesagt, am 4. September 2640, einem Freitag.  

Die Anweisung des Komponisten „So langsam wie möglich“ erinnert an Daniel Beerstechers Slow Walk, der in einem früheren Text vorgestellt wurde. Er lässt uns an seinen Marathonlauf denken, bei dem er pro Tag jeweils eine 400-Meter-Runde auf einer Tartan-Laufbahn zurücklegte und dafür im Durchschnitt zwischen 3 und 3 ½ Stunden benötigte.

Klang und Raum, Zeitdauer und Zukunft. Alles im Inneren der Kirche und auch das Projekt selbst wirkt superzerbrechlich. Die Wände der Kirche bröckeln, und in manchen Jahren bröckelt auch die Gruppe der Ehrenamtlichen, ohne deren Engagement die „ORGAN2/ ASLSP“ nicht fortgeführt werden kann. Es fehlen Helfer, genauso wie auch das Geld immer fehlt. „Die Sorge ist Teil des Ganzen“, wie einer der Ehrenamtlichen sagt. Dennoch planen die Menschen in Halberstadt ganz fest mit der Zukunft; sie vermitteln Hoffnung in einem Weltgeschehen, das in Höchstgeschwindigkeit auf den Abgrund  zuzurasen scheint.

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Schwellenorte. Seit ein paar Jahren erfährt man in den sozialen Medien von einer Ästhetik, die als „liminal spaces“ bezeichnet wird. Damit sind „Schwellenorte“ oder „Übergangsorte“ gemeint, also leere Flure, Treppenhäuser, Durchgänge, Unterführungen und so weiter. Sie haben etwas Unheimliches an sich, weil sie kein Gefühl von Geborgenheit vermitteln. Andererseits sind sie anziehend, weil sie Aufbruch, neue Ereignisse, vielleicht ein neues Leben versprechen, und damit auch ein Stückchen Bewegungslust beinhalten: „Nur wer sich auf den Weg macht, wird neues Land entdecken“ (Hugo von Hofmannsthal), auch wenn der Weg streckenweise durch Gewerbegebiete, durch Landschaften aus Asphalt und entlang von Lagerhallen führt, bevor man dann auch schon wieder auf die nächste Schnellstraße stößt, an deren andere Seite man durch einen betonierten Tunnel gelangt. Wahre Schwellenorte, an denen sich Menschen nur vorübergehend aufhalten, auf dem Weg zu anderen Orten.

Auch die Sankt-Burchardi-Kirche von Halberstadt ist ein Schwellenort, der allerdings auf Ewigkeit gesetzt ist, weil er als Klangraum das unvergängliche Thema des Weggehens und Ankommens auf ganz eigene Weise formuliert. Durch das Cage-Projekt dehnt sich in der Sankt-Burchardi-Kirche die Zeit, sie weitet sich zu einem Resonanzraum. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die ehemalige Klosterkirche säkularisiert worden, diente einmal als Lazarett und einmal als Schweinestall oder als Brennerei. Alles an und in ihr ist rau. Gleichzeitig ist da aber der Dauerton aus fünf Orgelpfeifen, der zur Rauheit des Raums den Gegenpol bildet und sich in seiner Zerdehnung der menschlichen Auffassungsgabe entzieht. Dem Besucher, der die Tür der Sankt-Burchardi-Kirche öffnet und danach die Schwelle zu deren Innenraum überschreitet, zeigt das langsamste Orgelstück der Geschichte, wie es sich anfühlt, aus der Zeit herausgehoben zu sein. Es verunsichert ihn aber auch. Denn wie soll man sich orientieren, wenn noch 617 Jahre vor einem liegen? Hat das Stück nicht gerade erst angefangen?

Trotz dieser bangen Fragen erdet und erhöht zugleich das Erleben eines Raumes, in dem ein Klang durchgehend Präsenz zeigt, der einfach da ist. Ein Cage-Zitat lautet: „I love sounds, just as they are“. Aufgehobene Zeit. Später, im Stadtraum von Halberstadt, wird dann wieder Geschichte konkret erlebbar. Am 8. April 1945 hatte ein amerikanisches Bombergeschwader die Stadt als Ziel eines verheerenden Angriffs gewählt. „Moral bombing“ nannten die Alliierten solche Bombardements, die keinem unmittelbaren militärischem Zweck dienten, sondern allein die Moral der Zivilbevölkerung brechen sollten. Man erkennt es noch heute, dass die Stadt damals ein neues Gesicht erhielt. Nachdem der Schutt abgetragen war, wurde Platte um Platte hochgezogen, ohne Rücksicht auf Vergangenes, ohne Bemühung um Baukultur im menschlichen Mass. Was von alter Bausubstanz geblieben war, wurde geradezu mutwillig dem Verfall preisgegeben. Die Stadt erhielt in den Jahren der DDR ein Gesicht, das gesichtslos war, was man auch heute noch erkennt, wenn man vom Bahnhof her in die Stadt geht. Der Weg führt durch trostlose Häuserschluchten, an denen gerade die schütteren Vorgärten das Trostloseste sind. Mittlerweile wird da und dort mit Sorgfalt restauriert. Ein Rundgang durch die von Umbrüchen gezeichnete Stadt wird darum zur bald gespentischen, bald aufregenden historischen Anschauung. Plötzlich, an der Außenfassade eines Gebrauchtmöbel-Ladens, ein Schild mit einer aufrüttelnden Botschaft: „Schnapp zu“. Und ein weiteres sagt: „% % Räumungsverkauf“. Ja, es steckt viel Schönheit in gewöhnlichen Dingen. In diesem Fall scheint mir dieser Satz aber nicht zu gelten. Wer zu Fuß unterwegs ist, kommt ohnehin nicht auf die Idee, „zuzuschnappen“ und sich einen Sessel oder ein Sofa zu kaufen. Sie oder er bevorzugt leichtes Gepäck, womit ich am Ende meiner Ausführungen wieder bei dem Text von Shu-Jyuan Deiwiks wäre, die uns im letzten Blogtext der „Ästhetischen Spaziergänge“ von ihrem Ankommen in einer neuen Lebensumgebung berichtete.

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1 Kommentar

  1. Kommentar von Michael Denhoff, Komponist, Bonn

    Lieber Heinrich,

    herzlichen Dank für den Hinweis auf Deinen neuesten Text, den ich gleich aufgerufen & gelesen habe: sehr schön, welche Gedanken durch das Hören / Erleben bei Dir ausgelöst wurden, feinsinnig formuliert.
    Ja, eine ver-rückte Umsetzung des Cage-Stückes … und in der Tat eine Verbindung in die ferne Zukunft …
    Wir waren im August 2016 vor Ort in Halberstadt … und just in dem Moment, als ich für unser damaliges Jahresprojekt „Aus dem Laufenden“ eine „akustische Photographie“ des aktuellen Klanges aufzeichnete, ereignete sich ein – wodurch auch immer ausgelöster – Fehler: der stehende Klang verrutschte. Wenn Du’s hören magst: http://www.denhoff.de/K2016/260816.htm

    Schon zuvor im April / Mai 2016 hatte ich für die Ausstellung „grenzenlos“ in der Bonner Schloßkirche, mit Herrn Neugebauer eine Video-Klang-Liveschaltung in die Buckardi-Kirche organisiert, also den Klang nach Bonn geholt …

    Und nun (ganz frisch) entstand im Umfeld der gkg-Ausstellung STROM:KLÄNGE eine fast 80-minütige Raumklangskulptur, deren Titel bewußt auch auf Cage+Halberstadt verweist: SLAM-X2″ (das Kürzel hier für so langsam als möglich). Die finale vierkanalige Vesion habe ich vor wenigen Tagen im elektronischen Studio der Kölner Hochschule fertiggestellt. Eine Stereo-Fassung kann schon auf YT gehört werden: https://youtu.be/xwmvXZ2syQA (möglichst über gute Lautsprecher oder Kopfhörer, damit auch die permanenten Binnenbewegungen richtig zur Geltung kommen).
    Noch überlege ich, in welchem Kirchenraum die erste öffentliche Auff. stattfinden könnte …
    (meine spontane Idee, dies einmal über den Klang in Halberstadt zu legen, ist nicht realisierbar, da die Verantwortlichen sich gleich zu Beginn 2001 entschlossen hatten, bis 2640 keine andere ‚Musik‘ in der Buckardi-Kirche zu spielen … aus verständlichen Gründen. Allerdings hätte John Cage, mit dem ich ja 1981 zwei Wochen in Guildford (GB) zusammenarbeitete, vermutlich sein Vergnügen daran gehabt, denn dort kombinierte er frei nach Zufallsoperationen verschiedene Musiken miteinander … was mich seinerzeit sehr störte & ärgerte …

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