Identität – Nicht – Identität

Zum Thema der Begegnung mit sich selbst und mit anderen

Zwei Teile

Heinrich Geiger, Eine Begegnung mit einem Menschen mit einem verstümmelten Namen

Er stammt aus einer Gegend, aus der auch eine andere mir bekannte Person stammt. Ob ihm zu Zeiten des „Ostblocks“ sein Name ebenso polnifiziert wurde? Wurden ihm einfach auch die letzten Buchstaben seines deutschen Nachnamens gestrichen, damit er zu einem der ihren, wenn auch mit einem verstümmelten Namen, in einer Region wurde, deren Zugehörigkeit immer wieder wechselte? Ich habe ihn nicht danach gefragt, weil in unserem Gespräch kein Platz dafür war. Vielmehr hörte ich ihm gebannt zu, wie er mir von seinen beruflichen Träumen, die alle nichts mit seiner derzeitigen Tätigkeit zu tun haben, erzählte. Eigentlich habe er Maler werden wollen, und, wie er mir nur wenige Minuten danach sagte, würde ihn das  Musikmachen faszinieren, und, wiederum ein paar Minuten später, berichtete er mir von seiner Leidenschaft für Fremdsprachen. Ostasiatische Sprachen hätten ihn schon immer interessiert. Zumindest mit seinem letzten Interessensschwerpunkt war er bei mir genau richtig. In seinen überbordenden Vorstellungen zeigte sich mir eine Verbundenheit mit der Welt, so als würde das Leben direkt durch ihn strömen, jenseits der apokalyptischen Zukunftsbilder und im festen Bewusstsein um eine Vergangenheit, die mehr ist als Imperialismus, Ausbeutung, Unterdrückung und Vernichtung.  

Am vergangenen Samstag, es war der 16. September 2023, bin ich also einem Menschen begegnet, den, wie ich mein Erlebnis in Worte fassen möchte,  die Sehnsucht nach dem  Nicht-Identischen leitet. Er will sich nicht nur mit Berufskollegen treffen, sich nicht nur in Kneipen setzen, in denen er unter seinesgleichen ist, sondern er will sich für eine Welt öffnen, die völlig anders als seine derzeitige ist. Wem ich da begegnet bin und was da passiert ist ? – das kann ich nicht genau sagen. Aber die Begegnung mit ihm hat für mich einen geheimen Reiz, wie das „Parliament of Ghosts“, das der ghanaische Künstler Ibrahim Mahama (geb. 1987 in Tamale, Ghana, wo er jetzt auch lebt und arbeitet) als einen experimentellen Raum erschuf, in dem verschiedene Formen der Vorstellung und der Theorie zugelassen sind. Mahama interessiert sich nicht für die Welt, wie sie ist, sondern für das, wie sie sein kann. Ihn treibt die Hoffnung an, aus den Ruinen der Vergangenheit ein „weiteres Versprechen für die Zukunft“ abzuleiten, „das noch viel größer ist als die Zukunft, die es (die Vergangenheit, Ergänzung durch Heinrich Geiger) einst darstellte.“  

Ist das Leben etwa ein Experiment der Kunst und die Kunst ein Experiment des Lebens, das mit einem Faktor ganz bestimmt rechnen muss: den Unzulänglichkeiten des Lebens? Daniel Beerstecher (weitere Infos über Daniel Beerstecher und seine Arbeit unter: www.danielbeerstecher.de) zeigt uns mit seinen „Marathon“-Läufen, dass die radikale Entschleunigung eine Möglichkeit ist, der Sinnhaftigkeit des Daseins und auch den Fragen nach der Nicht-Identität und der Identität nachzuspüren.  

Daniel Beerstecher, „Slow Walk“  

In einer Email vom 03.09.23, 20:48, schreibt Daniel Beerstecher:  

Liebe Freunde und Bekannte,
 
die erste Hälfte meines meditativen Slow-Walks ist geschafft! In den letzten vier Wochen habe ich pro Tag jeweils eine 400-Meter-Runde auf einer Tartan-Laufbahn zurückgelegt und im Durchschnitt zwischen 3 und 3 ½ Stunden dafür benötigt.
In dieser Rundmail möchte ich euch einen Einblick geben, was es mit einem macht, wenn man Tag für Tag seine Runde im meditativen Slow Walk dreht, vor allem, wenn es nicht so läuft, wie man es sich vorgestellt hat. Wie das Wetter Einfluss nimmt, welche Gedanken einem bei solch einem Projekt durch den Kopf gehen und einige kleine Anekdoten vom Rande der Laufbahn. Viel Spass beim Lesen!

Informationen zum Projekt findet ihr unter:   www.slowwalk.de  

Mein Fazit nach der ersten Hälfte:
Eigentlich wollte ich mit diesem Kunstprojekt durch das Sammeln von vielen Daten der KI metaphorisch das Meditieren erklären. Letzten Endes hat mich aber in den letzten Wochen die KI, bzw. die Technik und die äußeren Umstände das Meditieren gelehrt!
 
Wenn die KI und die Technik machen, was sie wollen:
Aus den Erfahrungen mit meinem Slow-Walk-Marathonprojekt Walk in Time, 2019, war mir bewusst, auf was ich mich mit diesem Projekt eingelassen habe. Deshalb wusste ich auch, dass ich körperlich und mental gut vorbereitet war und unter normalen Umständen keine allzu großen Schwierigkeiten mit den Anforderungen des Projekts haben sollte.
Womit ich allerdings weniger gerechnet hatte, waren die technischen Probleme der ersten Wochen, die den täglichen Slow Walk zu einer echten Herausforderung gemacht haben. Die Kameras haben mich nicht so getrackt, wie sie es eigentlich hätten tun sollen. In einigen seltenen Fällen sind sie einfach „fremdgegangen“. Wenn eine/r Läufer/in an mir vorbeigelaufen ist, hat sich die Kamera manchmal entschlossen, die schnellere Person in den Fokus zu nehmen und ihr zu folgen, um dann nach wenigen Metern durch die KI-gesteuerte Gesichtserkennung zu bemerken, dass sie der falschen Person folgt. Da war es allerdings schon zu spät, weil das Trackingsystem der Kameras mich schon aus dem Blickfeld verloren hat und dann das Bild irgendwo auf dem Fußballfeld oder der Laufbahn hängen geblieben ist. 
Als wir eine Lösung für dieses Problem gefunden haben, kamen die heißen Tage mit Temperaturen bis zu 33 Grad Celsius im Schatten. Ich habe die Temperaturen ganz gut weggesteckt, allerdings war die Technik dafür nicht ausgelegt. Die Internetverbindung ist immer wieder abgestürzt, Programme haben sich aufgehängt, die Daten wurden nur teilweise übertragen und aufgezeichnet, weil das Handy wegen Überhitzung abgeschaltet hat. Ein Access Point und ein Internet-Router mussten defekt ausgetauscht werden.    

Die Kunst der Meditation und das Akzeptieren von Hindernissen:
Für viele mag es unmöglich erscheinen, 3-4 Stunden in einem meditativen Slow Walk unterwegs zu sein. Um nicht zu verzweifeln oder gar verrückt zu werden, muss man lernen, aufkommende Gedanken zu beobachten und immer wieder loszulassen, den Fokus zurück auf die Atmung und das langsame Gehen zu lenken. Wenn zum Beispiel der Gedanke aufkommt, dass ich nach einer Stunde „nur“ 130 Meter geschafft habe und dann noch 270 Meter vor mir liegen, dazu ist es noch heiß, man ist müde und der Sonne voll ausgeliefert, dann kann ich diesen Gedanken einfach wieder loslassen, ohne daran zu verzweifeln, dass ich noch 2/3 der Strecke vor mir habe.
Schwierig wurde es jedoch für mich, wenn mir ständig durch den Kopf ging: Funktioniert die Technik noch? Haben die Kameras mich verloren? Was könnte das Problem sein? Wann hat der Techniker wieder Zeit, sich die Sache anzuschauen? Macht das Projekt überhaupt noch Sinn, wenn die Aufzeichnungen nur teilweise und fehlerhaft funktionieren? Wie lässt sich daraus später überhaupt noch ein ausstellbares Kunstwerk machen? Dazu das Wissen, dass das Budget eigentlich schon längst überzogen ist und für mich selbst nicht mehr viel übrig bleiben wird…
Fragen dieser Art, die einem dann durch den Kopf gehen, könnte ich noch endlos aufzählen. Ich hatte ja 3-4 Stunden Zeit, über solche Dinge nachzudenken, wütend zu sein, mich zu ärgern, Angst vor dem Scheitern zu haben, sowohl künstlerisch als auch körperlich. Solche Gedanken machen dann die Meditation unglaublich zäh und schwierig. 
In unserem Alltag versuchen wir, unangenehme Gedanken und Gefühle zu vermeiden, indem wir uns zum Beispiel mit dem Handy und sozialen Medien ablenken. Ein Gläschen Wein am Feierabend kann uns ebenfalls auf andere Gedanken bringen. Doch Umstände und Herausforderungen wie diese sind vielleicht auch der beste Lehrmeister, wenn wir uns ihnen stellen…
In der Meditation bleibt einem nichts anderes übrig, als sich seinen Gedanken zu stellen, sofern man nicht abbricht. Diese negativen Gedanken immer wieder zu bemerken, ohne sie zu bewerten, loszulassen, zur Atmung zurückzukehren und zu akzeptieren, dass nicht immer alles so läuft, wie man es sich vorgestellt hat, die Runde zu Ende zu bringen und sich dann erst Gedanken darüber zu machen, welche Schritte als nächstes gemacht werden müssen, um die Probleme zu beheben. Das musste ich in den letzten Wochen lernen und das war, bzw. ist nicht immer einfach! Aber ich habe ja auch noch ein paar Wochen Zeit, mich darin zu üben…
     
Temperaturunterschiede von knapp 20°C innerhalb weniger Tage.
Das Wetter kann man wohl in den letzten Wochen als sehr wechselhaft bezeichnen, vor allem, wenn man sich diesem konsequent ausgeliefert hat, wie ich. Besonders spürbar waren die Wetterwechsel am Ende der dritten Woche… Am Donnerstagnachmittag hatte es noch 33 Grad Celsius im Schatten, am Montag dann 15 Grad Celsius und Regen. Auch wenn mir die hohen Temperaturen zuvor am meisten Sorgen bereitet haben, ist es mir gelungen, gut damit klarzukommen. Ich habe mich mit Kleidung, Hut und Sonnenschutz gegen die direkte Sonnenstrahlung gewappnet, viel getrunken und wahrscheinlich in der Gehmeditation meine Körperfunktionen auf ein Minimum reduziert. Richtige Läufer, die bei solchen Temperaturen einen Marathon in der gleichen Zeit absolvieren, haben wahrscheinlich mit ganz anderen Herausforderungen zu kämpfen. Beim Slow Walk ist es, wie oben beschrieben, eher eine Kopfsache als eine körperliche Entbehrung.
Am Freitag nach dem heißesten Tag kam der Wind, der die Kameras an den Masten zum Zittern und Schwingen brachte. Da der Slow Walk auch eine Gleichgewichtsübung ist, hat mich die ein oder andere Windböe fast aus dem Gleichgewicht gebracht. Entgegengewirkt habe ich dem, indem ich mir vorgestellt habe, mich noch mehr mit dem Standbein auf der Tartanbahn zu verwurzeln, während ich das andere Bein in Slow-Motion-Bewegung nach vorne brachte. Es hat funktioniert! 
Am darauffolgenden Tag hat dann der Dauerregen eingesetzt. Kurz nach dem Start hat er begonnen und kurz vor dem Ziel geendet. Obwohl es mit ca. 21 Grad Celsius da noch nicht wirklich kalt war, bin ich ziemlich durchfroren über die Ziellinie gegangen. Der Körper war an das kühlere Wetter einfach noch nicht gewöhnt. 
Am Montag folgten dann 15 Grad Celsius und viel Regen. Allerdings war ich auf die folgenden kalten Tage besser vorbereitet. Mit langer Unterhose und sehr warmer Outdoor-Kleidung von Vaude ausgerüstet, konnte mir an diesem Tag auch die Kälte nichts anhaben, trotz des Temperatursturzes von knapp 20 Grad Celsius innerhalb von vier Tagen.    

Kleine Anekdoten vom Rand der Laufbahn:
An einem der ersten Tage des Projekts, als die technischen Probleme und erste körperliche Ermüdungserscheinungen sich breitgemacht hatten, fand ich nach dem Zieleinlauf die Zeichnung einer Sekretärin des Instituts für Sport und Bewegungswissenschaften neben meinem technischen Equipment. Daneben stand der Text: „Vielen Dank für Ihre Inspiration zum Entschleunigen“. Das hat mich in diesem Augenblick unglaublich berührt und mir neue Kraft gegeben, um nicht aufzugeben. 
Das Stadion wird von mehreren Platzwarten betreut, die sich um die Anlage kümmern, den Rasen mähen und die Aufsicht über die Sportanlagen haben. Sie sehen also täglich meine Slow-Walk-Performance. Wenn ich komme oder gehe, sitzen sie oft in ihrem Büro, das ich passiere, und wir tauschen noch ein paar freundliche Worte zum Wetter, dem Sportplatz oder meinem Slow-Walk aus. Einer von ihnen hat mir vor kurzem berichtet, dass er versucht hat, selbst einige Meter im Slow Walk zu gehen. Es ist ihm nicht wirklich gelungen. Er konnte das Gleichgewicht nicht halten und ist ins Schwanken gekommen. Bewundernd meinte er, dass ich sehr starke Beine haben muss, um über einen solchen langen Zeitraum immer mein Gleichgewicht zu halten. Ich habe ihm dann erklärt, dass es weniger mit Kraft, als mit Konzentration zu tun hat, ein guter Gleichgewichtsinn erfordert wenig Kraft. Die Schrittgeschwindigkeit passt sich der Atmung an, der Blick ist auf den Boden vor einem gerichtet. Dann hat er bemerkt, dass man für den Slow Walk im Kopf wohl dann ziemlich ruhig bleiben muss und das wohl die größte Herausforderung bei diesem Projekt ist…
Gespräche wie dieses erfreuen mich immer wieder, weil ich merke, dass mein täglicher Slow-Walk etwas mit den Leuten macht. Sie beginnen darüber nachzudenken. Leider bekomme ich es viel zu wenig mit.        
Einladung Heinrich Geiger: Eure Gedanken zum Thema „Slow Walk“ sind herzlich willkommen!

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1 Kommentar

  1. Hallo Heinrich,
    ich habe mir soeben das Gesamtkonzept des Slow Walk durchgelesen. Das Experiment klingt sehr interessant. Ich bleibe an dem Wort „erklären“ hängen. Kann man einer Maschine etwas erklären? Ich sehe da einen Unterschied zum Wort lernen/lehren. Die KI kann nur Daten verarbeiten, die man ihr anbietet oder die sie ( ich bevorzuge das Wort „es“) im Netz findet. Diese werden kombiniert zu neuen Ergebnissen, Aussagen. Ob eine KI philosophische Erkenntnisse bekommen kann, wage ich zu bezweifeln. Da wird meiner Meinung nach ihre Fähigkeit überschätzt. Schon das Pronomen „ihre“ gibt dieser Maschine einen Hauch von Persönlichkeit, eine ungewollte Personifizierung mir nicht angemessen erscheint. Da sträubt sich was in mir. Gleichzeitig zeigt es mir, was Daniels Umgang mit diesem Medium bei mir auslöst und wert macht, darüber nachzudenken.
    Liebe Grüße

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