Meinen letzten Beitrag vor den Sommerferien hatte ich in der Hitze des Juni 2021 dem 1975 verschollenen Künstler Bas Jan Ader (geb. 1942) gewidmet, der ausgezogen war, das Wundern zu lernen. Ob er das Wunderbare gefunden hat, wird man nie erfahren. Bei dem Maler Thorsten Schirmer, der heute zu Wort kommt, ist die Situation schon klarer. Seine Tuschmalereien sind „wunderbar“, indem sie unser Auge durch ihre große Spontaneität bei gleichzeitiger technischer Perfektion beeindrucken. Bas Jan Ader hatte ich in meinem Text vom Juni 2021 mit einem Zitat aus Kierkegaards Abhandlung „Der Einzelne“ attestiert, dass es ihm gelungen sei, „durch vieljährige Anstrengung, Arbeit und Uneigennützigkeit nichts zu werden“. Thorsten Schirmer hat sich ebenso eine künstlerische Haltung erarbeitet, die im Sinne des Chan-Buddhismus aus dem „Nichts“ lebt – der Überwindung von allerlei Zwängen, die die menschliche Natur nun einmal mit sich bringt. Diese Haltung wird im Chan als Erleuchtung oder Erkenntnis bezeichnet.
Ich wünsche uns allen einen „erleuchteten“ Sommer.
Bonn, 03.07.2023 Heinrich Geiger
Zur Person des Autors
Thorsten Schirmer wurde 1969 in Hannover geboren. Er arbeitet seit 1984 im Stil der klassischen Chan-Malerei, die er sich rein autodidaktisch angeeignet hat. Auf das traditionelle Landschaftsthema im Chan-Stil der „Verschütteten Tusche“ spezialisiert, gestaltet er seine Werke nur mit den Fingern und schwarzer Tusche. Die auch in China sehr seltene Hinwendung zu diesen alten Ausdrucksformen und Maltechniken brachte ihm im Mutterland dieser Kunst hohe Anerkennung ein. Bereits mit 21 Jahren wurde er u. a. zum Gastdozenten der Pädagogischen Hochschule Anhui ernannt, seit 2013 ist er Professor der West Anhui Universität. Er veröffentlichte Forschungsarbeiten über die Frühphase der Chan-Malerei unter Li Gonglin (1049-1106) sowie die Landschaftsmalerei im Chan-Stil der „Verschütteten Tusche“ des chinesischen Mönchsmalers Yujian (13. Jhd.) und seiner japanischen Nachfolger. Seine Werke wurden in China, Japan, den USA und in Deutschland ausgestellt. Neben Fachartikeln verfasst er Bücher über die Maltradition Chinas und Japans, die dieser zugrunde liegenden Philosophie sowie den kulturellen Hintergrund. Thorsten Schirmer hat viele Kunstaustauschprojekte in Deutschland und China organisiert und ist Initiator der Partnerschaft zwischen der Region Hannover und der chinesischen Präfektur Luan. Zudem ist er Mitbegründer und Vorstand der „Akademie für west-östlichen Dialog der Kulturen“ mit Sitz in Nürnberg.#
Text
Die Tuschespur der Katze
Ein Deutscher auf dem Weg des Malens im Geiste des Chan-Buddhismus
Die Ausformung der Übungswege zählt zu den höchsten Leistungen der ostasiatischen Geisteswelt. Wenn auch zu allen Zeiten überall auf der Welt kreatives Schaffen unter dem Einfluss philosophischer und religiöser Strömungen stand, von diesen befruchtet oder sogar unmittelbar initiiert wurde, so ist es dennoch einzig im Kulturkreis Ostasiens zu einer vollwertigen Anerkennung des Schöpferischen als eigenes Konzept zur geistigen Vertiefung und Erkenntnissuche gekommen. Der Weg des Malens im Geiste des Chan-Buddhismus ist dafür eines der herausragenden Beispiele, dessen Spuren sich bis in das 11. Jahrhundert zurückverfolgen lassen.
So sehr uns diese Überlieferung heute aufgrund ihrer geradezu modern anmutenden Bildsprache und geistigen Tiefe anzieht, so selten findet eine praktische Annäherung von westlicher Seite aus statt. Einen solchen Versuch unternimmt seit 2019 der deutsche Künstler Jan-Michael Ehrhardt, Jahrgang 1964, unter meiner Anleitung. Er entdeckte als Jugendlicher sein Talent zur Malerei, das ihm über die schwierige Zeit der persönlichen Entwicklung hinweghalf. Diese frühe Selbsterfahrung mit den heilenden und persönlichkeitsentwickelnden Eigenschaften der Malerei motivierte ihn, nach Abschluss der Schulzeit ein Studium der Kunsttherapie zu absolvieren. Anschließend arbeitete er zunächst fünf Jahre als Kunsttherapeut und begann zudem, regelmäßig Zuochan, eine Kontemplationsübung des Chan, zu üben. Schließlich fasste er den Entschluss, aus seinem bürgerlichen Lebensweg auszusteigen, um sich in das Intersein-Zentrum zurückzuziehen, einer Chan-Gemeinschaft in der Linie des weltberühmten vietnamesischen Meisters Thich Nhat Hanhs (1926-2022), der ihm 2012 die Lehrerlaubnis erteilte.
Es sind jene zentrale Fragen des Daseins, die uns Menschen über alle Grenzen von Raum und Zeit hinweg verbinden. Was ist das Ich? Was geschieht nach dem Tod? Niemand ist je mit gesundem Verstand in diese Welt geboren worden, der sich nicht diese beiden existenziellen Fragen gestellt hätte. So löste sich auch dereinst ein nordindischer Fürstensohn mit Namen Siddhartha Gautama vor rund 2.500 Jahren aus der Gemeinschaft seiner Familie und des Hofstaates, um einsam suchend sein Daseinsleid zu überwinden. Also machte er sich auf in die Wälder und übte Askese, um dieses leidende Ich abzutöten. Nach verzehrenden Jahren der ergebnislosen Entbehrung musste er sich jedoch schließlich eingestehen, dass dies ein Irrweg war. Schließlich entschloss er sich dazu, der Entsagung zu entsagen, Körper und Geist fortan mit Maß und Bedacht zu pflegen, um in der stillen Versenkung das zu erkennen, was er hinter dem Scheinbild seines Ichkonzeptes erahnte: Die Leerheit aller Form und Individualität, das schöpferische Nichts der universellen Einheit, die große Befreiung des Nirwana. Nachdem ihm dies gemäß der Überlieferung ebenso plötzlich wie unwiderruflich gelang, wählte er den Weg zurück in die Gemeinschaft, um seine Lehre vom Rad des Lebens und der Erlösung den Menschen zu vermitteln, die ihn fortan ob seiner Erkenntnis „den Erwachten“, d.h. den Buddha, nannten. Unter den ihm nachfolgenden Schulen des Buddhismus war es besonders die Dhyana-Lehre, deren Anhänger sich der Versenkungsübung Buddhas ganz und gar verpflichtet fühlten. Aus ihr entstand schließlich der Chan-Buddhismus, den wir im Westen besser unter seiner japanischen Lesart „Zen“ kennen. Der chinesische Begriff „Chan“ leitet sich als verkürzte phonetische Wiedergabe von jenem Sanskritwort „Dhyana“ (wörtl. „Versenkung“) ab.
Die Tatsache, dass die hier vorgestellte Vermittlung der Chan-Malerei zwischen zwei Menschen des Okzidents stattfindet, mag Fragen aufwerfen. Ist dies überhaupt möglich, da keiner von beiden in diesen fernen und für den Westen so rätselhaften Kulturkreis hineingeboren wurde? Ist nicht die Überlieferung aus erster Hand unabdingbar notwendig, um sich ihm auf dem Wege künstlerischer Praxis erfolgreich zu nähern? Diesen zweifellos berechtigten Fragen stehen aber zugleich auch andere gegenüber: Welche Chancen ergeben sich aus einer distanzierteren Betrachtung des ostasiatischen Erbes unter Einbeziehung unserer westlichen Kunstauffassung? Vermag unsere moderne, globalisierte Welt reif für einen emanzipierten Umgang mit dem kulturellen Erbe der Menschheit sein, ohne dass Trennendes zwischen den Kulturkreisen zum unüberwindlichen Hindernis wird?
Die Malerei des Chan-Buddhismus schöpft ihr Selbstverständnis aus der Überzeugung des Chan, dass neben seiner Hauptübung der stillen Kontemplation im Sitzen praktisch jede wiederholbare Tätigkeit einen Weg zur Erkenntnis im Geiste des Buddha ebnen kann, sofern sie mit einer entsprechenden Einstellung geübt wird. Ganz gleich ob es sich um die Arbeit im Klostergarten, das Reinigen der Räume oder das Zubereiten der Mahlzeiten handelt, der Klosteralltag eines Chan-Mönchs ist ein einziges, erweitertes Feld der Übung. Neben den Tätigkeiten des täglichen Lebens entdeckte der Chan aber noch weitere Übungen für sich. Es waren in seiner Frühphase zunächst die von Chan-Mönchen des chinesischen Shaolin-Klosters entwickelten Kampfkünste, gefolgt von den friedlichen Künsten der Musik, Kalligraphie und Malerei.
So unterschiedlich die Übungen im Einzelnen auch sein mögen, eint sie doch eine wesentliche Eigenschaft. Sie alle haben das Potenzial zur lebenslangen Verfeinerung, was eine elementare Voraussetzung dafür ist, sich mittels der unendlichen Wiederholung einer Tätigkeit kontinuierlich geistig entwickeln zu können. Freiwillige Beschränkung auf eine bestimmte Form der Übung engt somit den Erfahrungshorizont keineswegs ein, sondern öffnet ihn nach traditioneller Überzeugung erst zu universaler Weite. Auf den Weg des Malens bezogen, bedeutet dies, dass sich der Übende zumeist auf ein einziges Sujet konzentriert, in das er sich lebenslang vertieft.
Entsprechend stand für Jan-Michael Ehrhardt am Anfang seines Übungswegs die Suche nach einem geeigneten Sujet. Die Frage beantwortete sich aus seiner Begeisterung für Katzen, die ihn seit seiner Kindheit begleiten. Ferner galt es, die der Persönlichkeit des Schülers entsprechende Maltechnik sowie die dafür am besten geeigneten Malmittel zu finden. Traditionell sind diese Papier, Tusche, Reibstein und Pinsel. Sie werden auch als die „Vier Schätze“ verehrt, wobei bezeichnenderweise nur die reinschwarze Tusche gemeint ist, die auch zur Kalligraphie genutzt wird. Der Verzicht auf Farbe erklärt sich aus der kontemplativen Grundhaltung der Chan-Malerei. Jede Farbe entfaltet eine eigene emotionale Wirkung, was dem Ziel dieser Kunst eher entgegenwirkt. So bleiben die meisten Werke monochrom im neutralen Tonspektrum der schwarzen Tusche mit ihren Abstufungen bis hin zum lichtesten Grau.
Rund vier Jahre der Übung und Unterweisung sind für ihn mittlerweile ins Land gegangen – eine kurze Strecke auf dem Weg des Malens und dennoch erfüllt vom Wesentlichen des Weges. Das Rüstzeug übergeben, die ersten Schritte sorgsam begleitet, das Ziel so genau umschrieben, wie es aufgrund seiner Unbeschreibbarkeit eben möglich ist, hat der Wanderer in dieser Zeit einige beachtliche Etappen hinter sich gebracht. Was keine Unterweisung vermitteln kann, musste er dabei aus sich selbst schöpfen: Den Mut, sich ins Unbekannte zu wagen, die Disziplin, stetig voranzuschreiten, die Energie, auch lange Durstrecken zu überwinden, das Selbstvertrauen, auf seine innere Stimme zu hören, die Sensibilität, aus der stillen Betrachtung des Äußeren Inspiration für die Bildwerdung des Inneren zu schöpfen, die Sehnsucht nach der Wahrheit und schließlich die Liebe zur Übung, derer es unabdingbar bedarf, um den Weg nicht zu verlieren.
Die Liste der Voraussetzungen für einen Schüler auf dem Weg des Malens ließe sich fortschreiben; so lang sie sein mag, so kurz ist jene, mit der sich des Lehrers Eigenschaften zusammenfassen lassen: Erfahrung und Einsicht, ohne die eine Vermittlung des Weges undenkbar wäre, Güte, ohne die man das Herz des Schülers nicht erreicht, sowie Anspruch, ohne den kein Lehrer je einen Schüler erfolgreich entwickelt hätte. Dies zu verstehen, bedeutet zugleich, das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler umzukehren. Nicht der Lehrer ist es, der überragt. Überragend muss der Schüler sein, um all die vielen Eigenschaften in sich zu vereinen, derer es bedarf, den Weg des Malens zu meistern. Der Lehrer ist nicht mehr als ein bescheidener Wegweiser. Ihm bleibt nur die stille Hoffnung, sich zur rechten Zeit am Weg zu positionieren und vom vorbeiziehenden Schüler wahrgenommen zu werden. Dabei hilft es wenig, dem Schüler die notwendige Aufmerksamkeit abzuringen. Was der Schüler nicht zu erkennen vermag, wird seinen Weg nicht lenken, selbst wenn man es ihm direkt vor Augen zu führen meint. Kongzi hat dies vor rund 2.500 Jahren so umschrieben:
„Wer nicht strebend sich bemüht, dem helfe ich nicht voran, wer nicht nach dem Ausdruck ringt, dem eröffne ich mich nicht. Wenn ich eine Ecke zeige, und er kann es nicht auf die anderen drei übertragen, so wiederhole ich nicht.“ (Lun Yü, Buch VII, Vers 8)
Das Glück des Lehrenden liegt darin, den rechten Schüler zu finden. Wohl mag der Schüler vielleicht imstande sein, aufgrund hervorragender Eigenschaften den Weg auch ohne Lehrer erfolgreich zu gehen, niemals hingegen vermag der Lehrer, ohne einen fähigen Schüler erfolgreich zu lehren. So dienen schließlich beide einander, sich auf dem Weg des Chan zu verwirklichen.
Werter Heinrich,
Nach langer Müdigkeit habe ich zurück gefunden; ein „ästhetischer Spaziergang“ einer anderen Art und Weise liegt hinter mir, dies sei nun gewusst… So viele neue, wunderbare, neue Zeilen sind hier zu entdecken, die Landschaft wächst und die Schriftrolle wird länger und länger. Für den Ausdruck der von dir mittlerweile versammelten Beiträge braucht es bereits eine Tapetenrolle. Vielen Dank für deine Ausdauer, es wird erkenntlich, dass sich bereits Einige an diesem Unterschlupf – oder vielleicht sogar eher Aussichtsplattform – daran erfreuen!
Ich würde mir gern erlauben einen kleinen Kommentar zu dem Gastbeitrag von Thorsten Schirmer, um der von ihm gelegten „Tuschespur der Katze“ lesend = schreibend für einen Moment zu folgen. So hinterließ mein Stift drei Spuren im Sinne von drei Anzeichen, Anzeichnungen, welche die folgende Denkbewegung anführ(t)en:
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Werter Herr Schirmer,
gern würde ich ihren Text von hinten ausrollen und mit der ersten Nachfrage als die erste Spur meiner Notiz und zwar zu der „Überlieferung aus erster Hand“ beginnen: So frage ich mich, was bzw. wessen „erste Hand“ Sie damit meinen? Glücklicherweise hält die Hand, soweit ich weiß, soweit ich meine kenne, kein kulturspezifisches Wissen inne. Eine Ausnahme möge höchstens die Hand der Fatima (auch Hamsa, Chamsa, Khamsa, arabisch خمسة , DMG ḫamsa ‚fünf‘) darstellen.
Meine Hände, sprechen auf keinem ihrer Wege von „Ost und West“, womöglich eher noch von „rechts“ und „links“. Auch an-hand der Oberfläche der Hand (und allem weiteren), der Haut, ist eher das zweite zutreffend, wortwörtlich im Sinne von „zu-treffen“. Aus dem Kontext der „Kampfkunst“ wie es die meisten wohl benennen würden, werden die Worte überstiegen; die Eigenart und -weise der künstlerischen Praktiken. So zeigt (m)ein Blick auf die Hände körperlich-ablesbare Spuren als ein vergangenes Gespürtes, welches seine Gestalt in die Gegenwart ausweitet… Vorausgesetzt die Gelenke sind nicht zu verklebt, scheint sich die Führung der Hände doch eher in Bedingtheit mit dem Herzen, dem Herz-Geist zu ereignen. Ob nun durch den Pinsel, durch den Stift aus Blei oder gar ohne sie: erst dessen Leidenschaft und das er-schaffene Leiden des Herz-Geistes eröffnet den Zwischenraum in dem sich alle sinnhaften und sinnlosen Übungen abzuspielen scheinen. Es bildet den Zwischenraum, aus dem sich irgendwann, irgendwie, irgendetwas Gewusstes in Bewusstes verwandelt und sich in Bildschrift = dem Schriftbild form(alis)iert; bevor es zum Egalen, dem vielleicht einzigen Realen (?) wird.
Oder, was denken Sie?