Wandern (nach dem Wanderworkshop)

Wir tragen schwere Wanderstiefel, unsere Rücksäcke lehnen an der Glasfront eines Supermarktes. Wir trinken Kaffee. Der Kleinlaster, in dessen Fahrerkabine drei Männer sitzen und bei laufendem Motor auf einen vierten warten, hat zum Glück so eingeparkt, dass sein Auspuff nicht in unsere Richtung weist. Neben uns sitzt ein Mann, der den Blick auf den großen Parkplatz so zu genießen scheint, wie der einsame Wanderer den Blick über weite Naturlandschaften. Sein Bauch ähnelt den Hügeln, über die uns unser Weg entlang des Lahntals führen wird. Menschen steigen aus ihren Fahrzeugen aus, andere steigen ein, wobei nur diejenigen diesen Vorgang mit Souveränität meistern, die einen SUV fahren. Leichterdings entgleiten sie ihren Autos oder gleiten in sie hinein, während sich die meisten Kleinwagenfahrer äußert schwer mit dem Ein- oder Ausstieg aufgrund ihrer Körperfülle tun. Erste Erkenntnis: Es gibt unterschiedliche Arten des Stoffwechsels.

Dank unseres Aufenthalts in einem Gewerbeviertel gewinne ich die nötige Distanz zu mir selbst. Der Wanderernst bekommt eine Delle. Ich beginne unsere mehrtägige Wanderung als ein Experiment zu verstehen. Indem unsere ganze Aufmachung – die Wanderstiefel, der Rucksack, die Gehstöcke – aufs Merkwürdigste mit all den Röckchen, Boxershorts, Einkaufstäschchen und -wagen rings um uns herum kontrastiert, werde ich mir klar, dass das Wandern einer Versuchsanordnung entspricht, mit der wir die vagen Umrisse des Unbekannten, das wir als „Natur“, „Landschaft“ oder auch „Umwelt“ bezeichnen, zu erkunden versuchen.

Als Wanderer, der noch nicht losgewandert ist und sich noch nicht über weite Wiesen oder durch Wälder bewegt, sondern kaffeetrinkend neben einem Parkplatz-Romantiker vor einem Supermarkt sitzt, werde ich mir der Situation bewusst, in der mein Freund und ich uns befinden. Mittlerweile hat sich die Romantik, zumindest in ihrer Ausprägung des 21. Jahrhunderts, jenseits der alten Klientel neue Vertreter gesucht: Es ist nicht mehr nur der Wanderer, der beseelt von ihr ist, sondern auch der Konsument, der im Sitzen von neuem Glück träumen darf. Novalis (Friedrich von Hardenberg) stellte in einem seiner Fragmente fest: „Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge.“ Diesem Satz liegt die Auffassung zugrunde, dass der Mensch suchend eine Bewegung vollzieht, die auf ein Ziel gerichtet ist – dieses aber nie erreicht. Und mehr noch: Das Ziel nicht nur aus irgendwelchen zufälligen Gründen niemals erreicht, sondern weil es nie zu erreichen ist. Die Suche ist endlos und sie findet „überall“ statt. Wer etwas sucht, das nicht zu finden ist, kann sehnsüchtig in die Ferne blicken – wie wir Wanderer es tun, die von ihrem Platz vor einem Supermarkt aus in die Berge hinter der Stadt schauen; aber auch wie der Mann neben mir, der von neuem Glück träumt, vielleicht einem „Schnäppchen-Menü“.

Novalis spricht vom Unbedingten, demjenigen, was nicht bedingt ist, womit er die transzendentalphilosophische Wende Kants aufnimmt. Laut Kant kann man kein sicheres Wissen mehr über das „Wesen der Dinge“, über etwas ewig Gültiges, über Gott oder die unsterbliche Seele haben. Nimmt man den Romantiker Novalis ernst, dann ist gerade das stabilisierende Gefühl, Teil einer großen Ordnung zu sein (das viele Wanderer haben), fragwürdig. Der menschliche Verstand ist auf innerweltliche Phänomene zugeschnitten: er kann daher nicht die Welt im Ganzen erfassen und stößt deswegen, laut Novalis, immer nur auf Dinge.

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Um die transzendentalphilosophische Wende Kants nachvollziehen zu können, versuche ich unter den Bedingungen der bereits oben beschriebenen Situation, in der mein Freund und ich uns befinden, der Frage nachzugehen, wer denn nun der „bessere“ Romantiker ist: mein Nachbar oder ich? Dabei beginne ich die Hügel der Landschaft als Pendant zu dem „Hügel“ in der Mitte des Körpers meines Nachbarn zu sehen. Durchgängig gilt, dass wir, wie Novalis es uns bedeutet, in der uns umgebenden Welt bleiben, in der alle Einsichten vorläufig sind.  Nämlich als Teil einer Umwelt, die keinen festen, von den Organismen unabhängigen Parameter darstellt, sondern durch sie durchaus einschneidend verändert werden kann und auch wird.  Neue Dinge tauchen auf: Böden, die, obgleich es wochenlang geregnet hat, nach zwei Tagen bereits wieder ausgetrocknet sind; „Waldwege“, auf denen man aufgrund ihrer Verdichtung durch schwere Fahrzeuge geht wie auf Beton.

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Natur und Kultur sind keine fixen Gegensätze. Sie können sich nahekommen, aber auch wieder auseinandertriften. Während ich mir diesen Gedanken immer wieder auf meinem Stuhl vor dem Supermarkt vorsage, kommt endlich die Wendung, mit der das gesamte Programm der Wanderromantik in meinem Kopf wieder mit Leben erfüllt wird. Aufgrund der Einsicht, dass Natur und Kultur immer wieder auseinandertriften können und auch das Suchen niemals an ein Ziel gelangt, werde ich mir der Tatsache bewusst, dass jeder, der wandert, in eine „unendliche“ Tätigkeit gerät, niemals mit dem Gehen, aber auch niemals mit dem Fragen, dem Nachdenken und dem Suchen fertig wird. Es gibt vielleicht einzelne Momente der Erkenntnis oder auch Fortschritte auf dem Weg, der zu gehen ist, aber kein endgültiges Ankommen.

Als wir dann am folgenden Tag an einem Aussichtspunkt bei herrlicher Wolkenbildung über die mit gelben Rapsfeldern durchzogene Landschaft blicken, werden in mir alle Gegensätze von hügeligen Körpermitten und hügeligen Landschaften hinfällig. Während ich vor meinem inneren Auge meinen Nachbarn von Gestern zufrieden den Parkplatz beobachten sehe und mir vorstelle, wie er beim Einbiegen von so manchem PKW erwartungsvoll zu blicken beginnt, erfahre ich auf unserem Weg durch Wiesen und entlang von dichtbewachsenen Hecken, dass sich in der Natur Großes und Kleines durchkreuzen. Wir bewegen uns im Anthropozän – einer Zeit, in der die Wirklichkeit gegen uns aufzustehen droht. Nichts wäre wichtiger als eine Einweisung in diese Wirklichkeit, sodass wir in ihr bestehen können. Ist nicht das Wandern ein Teil einer solchen neuen Mythologie, indem es uns auf Dinge stoßen lässt?

Wanderworkshop

In Vorbereitung auf einen Wanderworkshop hatte ich mir folgende Frage notiert:

„Wird einem erst beim stundenlangen Wandern unter dem freien Himmel bewusst, dass man zu lange als Wissenschaftler oder auch Künstler in einer Komfortzone gelebt hat?“

Als sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Wanderworkshops zum verabredeten Zeitpunkt an einer Bahnstation trafen, wurde mir sofort eines klar: Die Bedürfnisse des Wanderers werden, sobald sich die Natur in all ihrer Macht und Unberechenbarkeit zeigt, auf das lebenserhaltende Minimum reduziert. Es regnete, als hätte der Himmel seine Schleusen geöffnet und das kleine Wartehäuschen an dem kleinen Bahnhof bot nur einem Teil der Gruppe Unterstand; der andere Teil war der Gewalt der Elemente ausgesetzt. Alle aber hatten sich mit der Tatsache zu konfrontieren, dass just die Person, die die Route ausgearbeitet hatte, aus gesundheitlichen Gründen absagen musste. Angesichts der Tatsache, dass sich die Wanderwege bereits in Bäche verwandelt hatten und die Ausrüstung und das Schuhwerk der Teilnehmerinnen und Teilnehmer (mit drei Ausnahmen) nicht den Herausforderungen entsprachen, galt es also die richtige Entscheidung zu treffen. Niemand plädierte für eine heroische Leistung im Geiste männlicher Welteroberung und wollte im strömenden Regen die ganze geplante Strecke zurücklegen. Allen war bewusst, dass die Natur, allem Heroismus zum Trotz, zurückschlagen kann. Und es war scheinbar auch ein feines Gespür für weitere Gefahren vorhanden. Denn keiner von uns bestieg die S- Bahn, die gerade einfuhr und, wenig später, auf offener Strecke von einem umgefallenen Baum zum Halten gebracht wurde. Mit der Teilnehmerin, auf die wir gewartet hatten, verharrten wir dann nochmals eine knappe Stunde auf dem Bahnhof und bestiegen dann einen Bus, der uns dem Ziel näherbrachte, aber nicht ganz. Das Spiel der Elemente wollte doch körperlich erfahren werden. So näherten wir uns dem Gasthof, in dem wir am ersten Abend untergebracht waren, durch Wälder und Wiesen an, die von allen Seiten von Wasser umströmt und unterspült wurden. Ich sah eine Teilnehmerin, wie sie barfuß neben dem Weg, durch tiefes Gras, mit einem großen Rucksack auf dem Rücken, einen Hang hinauftanzte. In dem Rucksack waren, laut ihrer Bekundung, unter anderem Papiere.

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Die antiken Peripathetiker gingen in Wandelhallen ihren Gedanken nach. Sie marschierten, wie man es in Entsprechung zu den heutigen Gegebenheiten sagen würde, mehrmals um den Block, um ihr „Gehirn durchzulüften“. Im Rahmen unseres Wanderworkshops machten wir dagegen gleich zu Beginn unserer Wanderung die Erfahrung, dass Natur ein rohes Energiefeld bedeuten kann, das so gar nichts mit dem Bild eines völlig ungefährdeten „Sich in seinen Gedanken Ergehens“ in einer überdachten Wandelhalle oder rund „um den Block“ zu tun hat. Und ich stellte dann auch bei unserer ersten Reflexionsrunde die Frage, wie es denn nun mit der großen Harmonie in traditionellen chinesischen Landschaftsdarstellungen steht? Verdankt sich diese nicht einer Abstraktionsleistung, die irrigerweise dem Unerwarteten den Gar ausmacht und ganz bewusst davon absieht, dass wir in der Begegnung mit Natur einen ganz engen physischen und psychischen Kontakt zu ihr aufnehmen, aus dem nicht nur das Schöne, sondern auch das Erhabene, das Abgründige hervorgehen? In mir dämmerte dabei die Einsicht, dass die „alten Chinesen“ aber bei anderem Punkt richtig liegen. Wenn Menschen wie wir Landschaften bei Wind und Regen durchschreiten, dann nehmen sie die von ihnen ausgehende Energie auf und setzen die gleichzeitig ausgelösten Emotionen in Bilder um, wie es uns die chinesische Phänomenologie des Naturerlebens und deren Ausdruck in Gedichten bedeutet. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Natur ist ein Feld, auf dem es zu einer Art Urkommunikation kommt, die etwas mit uns macht. Nichts ist isoliert in der Welt. Warum denken wir aber dann, dass wir Natur austricksen können? Warum denken wir, dass wir klüger als die Natur sein können? Gibt es einen Plan, ein System, ein Schema? Und, wenn ja, was geschieht dann, wenn wir es in Worte fassen? Entgleitet uns das Ganze dann nicht wieder?     

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Wahrnehmungen befinden sich im Fluss zwischen Denken, Empfinden und Träumen in einem drängenden Ping Pong unbeantworteter Fragen. Jeder Schritt kann im Gelände mühevoll sein, da wir beim Ausschreiten mit völlig unerwarteten und unvorhersehbaren Ereignissen konfrontiert werden. Und so ist es auch beim Denken. „Open thoughts“: Zeitlose Mythen, utopische Visionen, alltägliche wie fantastische Erfahrungen drängen sich auf, sodass der Mensch, der geht, gleichsam mit einer tonnenschweren Bürde geht. Äußerungen wie die von Zheng Banqiao (1693 – 1766) vermögen da Entlastung zu schaffen. Er schreibt: „Nicht nur ich liebe den Bambus und die Steine, sondern der Bambus und die Steine lieben auch mich.“ Und es hilft auch, wenn man sich der Pflicht zur Verbalisierung der Erfahrungen entledigt. Ich habe mich beim Gehen gefragt, wie ich auch den Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Wanderworkshops vorgetragen habe, ob nicht beiläufige Bemerkungen, wie wir sie aus der chinesischen Geistesgeschichte kennen, sinnvoller als große theoretische Werke wären? Beiläufige Bemerkungen, mit denen versucht wird, durch das Ping Pong zwischen Erinnerungen und Wahrnehmungen zu navigieren, in denen das Leben als Wirklichkeit gespeichert ist.

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Der Ästhetiker, der ich ja nun einmal bin, würde hier vom nie abreißenden Strom eines bedrohlich schönen Universums sprechen. Warum aber wird das Bedrohliche immer ausgeklammert? Und warum wird auch in der interkulturellen Perspektive zwischen China und „dem Westen“ so getan, als ob die einen (nämlich „die Chinesen“) den Schlüssel zu einer Harmonie von Mensch und Natur (dem „schönen Universum“) besäßen und die anderen (die „Wessis“) nicht, weil sie Natur immer nur zerstückelt, sprich im Ausschnitt sehen, wie wir von Francois Jullien erfahren. Während unserer Wanderung, insbesondere am letzten Tag, haben wir uns wunderbare Aussichten erlaufen und dabei festgestellt, dass selbst an außerordentlichen Aussichtspunkten niemals „die Welt“ ganz in den Blick kommt. Die „Harmonie“ und die universale Schau verdanken sich vielmehr Kunstgriffen, die auf ganz anderen philosophischen Voraussetzungen beruhen, als den von Jullien gemeinten.  

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Vor diesem Hintergrund hat sich in der Gruppensitzung am zweiten Tag unserer Wanderung die in meinen Augen interessanteste Diskussion ausgehend von dem Text eines chinesischen Ästhetikers des 20. Jahrhunderts ergeben. Ihm lässt sich entnehmen, dass für die Wahrnehmung von Welt in ihrer umfassenden Weite nicht allein ein Bewusstsein jenseits der Dichotomie von Subjekt und Objekt genügt. Ausschlaggebend ist vielmehr ein Gedanke aus der chinesischen Kunstästhetik. Dieser lautet, dass erst mit den Mitteln der Architektur, zum Beispiel dem Bau eines Aussichtsturms, die Welt im Ganzen in den Blick kommt. Der chinesische Ästhetiker erwähnt, dass im Neuen Sommerpalast in Beijing in der Nähe eines Turms eine Tafel hängt, auf der zu lesen ist: „Turm, der die prachtvollen Ansichten von Bergen und Seen miteinander vereint.“ Ein Turm ist nötig. Die Bewusstseinshaltung allein genügt nicht. Ebenso sind Mauern nötig, aber auch Öffnungen (Fenster), um die Welt in ihrer Unendlichkeit wahrnehmen zu können. Li Yu (1611 – 1680) schreibt: „In einem kleinen Fenster, das 10 Zoll misst, ein unendliches Bild.“ Kurz gesagt: Der Anschluss von Welt wird nur dadurch möglich, dass zunächst etwas ausgeschlossen wird, und dann, in der Verschiebung von Bewusstsein und Unbewusstheit, Welt erfahren wird. Verdichtete Inszenierung. Dieser gilt es auf den Grund zu gehen – ausgehend von einem Schauen, das, wie wir es von der Einsiedlerin Agafia Lykova kennen, in Landschaften nach dem zukünftigen Leben sucht.

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Der Wanderworkshop hatte meines Erachtens einen bedeutsamen Erkenntniswert für eine Gruppe, deren Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht nur wandern wollten und dafür beträchtliche Mühen auf sich nahmen, sondern dabei auch a) ihre eigene akademische Arbeit und b) die spezifischen Herausforderungen, die sich ihnen im interkulturellen Kontext stellen (in der zehnköpfigen Gruppe befanden sich sechs Chinesinnen und Chinesen, die sich an einer deutschen Universität promovieren oder ein Forschungsprojekt durchführen) im Blick hatten. Forschung darf sich, so sehe ich es, ästhetischer Herangehensweisen bedienen – diese sind allemal besser als essentialistische Zuschreibungen. Sie, die ästhetischen Herangehensweisen, müssen als solche nur bewusst reflektiert werden, wie es bei den Fenstern und den Turmbauten in der chinesischen Kulturgeschichte der Fall ist.

Atmosphären-Ästhetik (Zhuofei Wang, Gudula Linck)

Es war Ende der 1960er Jahre, erinnert sich Hamish Fulton, als er mit seinem Freund und Künstlerkollegen Richard Long durch Londons Innenstadt spazierte. Ob es wohl möglich wäre, überlegten die beiden damals, in der Masse der Passanten einen Menschen zu entdecken, der von Dovers Fährhafen aus in die Oxford Street gelaufen ist? Und dann ergänzten sie: Nachdem er sich in Calais eingeschifft hatte. Und ergänzten weiter: Nachdem er von Wladiwostok aus nach Calais gewandert war. Und vielleicht haben sie den Fußmarsch in Gedanken noch weiter zurück, noch weiter in die Ferne gesponnen. Wandern. Unterwegssein. Tagelang, wochenlang, monatelang.

Für Fulton und Long wurden viele Bezeichnungen gefunden – nicht alle zu Recht. Man hat sie Fotografen genannt, weil sie ihre Wanderungen mit der Kamera dokumentieren. Sie wurden als Bildhauer bezeichnet, weil sie Spuren in der Landschaft hinterlassen. Sie gelten als Maler, weil sie Gebirgslinien an die Wände von Museen pinseln oder dünnflüssigen Schlamm dagegen spritzen, bis er zu bizarren Strukturen verläuft. Man nennt sie Poeten, weil sie die Erfahrungen ihrer Touren in wenigen Worten wie Gedichte präsentieren. Manchen gelten ihre Arbeiten auf Papier als eigenständige Werke, anderen bloß als Dokumente der jeweils vorausgegangenen Wanderungen. Ihr eigentliches Medium aber ist das Gehen selbst. „Ich bin kein Wanderer, der Kunst macht“, sagt Fulton, „sondern ein Künstler, der wandert.“ Das Gehen ist den beiden zum Maß aller Dinge geworden. Selbst die Zeit definieren sie so: als eine „Anhäufung von Schritten“.

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Der japanische Dichter Santoka Taneda soll zwischen 1926 und 1940 insgesamt 45000 Kilometer zurückgelegt haben. Er schrieb folgendes Haiku: „Der Mond geht auf, ich warte auf nichts.“  

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Das „Andere der Vernunft für das Selbstverständnis des Menschen zurückzugewinnen, das war meine Arbeit der letzten 30 Jahre“. So beschrieb der Anfang 2020 verstorbene Gernot Böhme 2012 seine Forschung. Dieses „Andere der Vernunft“, das waren nach Böhme „inhaltlich die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefühle“. Ich empfinde es als großes Glück, dass Gudula Linck uns nachfolgend eine Arbeit vorstellt, die genau in dieser Tradition steht. Die Rezensentin selbst ist eine begeisterte Geherin, mit ihren Arbeiten hat sie einen wichtigen Beitrag zur Neuen Phänomenologie geleistet. (Von der Autorin des Buchs „Atmosphären-Ästhetik“ ist mir unbekannt, ob sie auch das Gehen zu ihrer Leidenschaft gemacht hat?) Eine Vorstellung der letzten Buchveröffentlichung von Gudula Linck „Inmitten von Qi. Phänomenologie des Naturerlebens“ (Freiburg: Karl Alber, 2022, ISBN 978-3-495-99876-2) findet sich in diesem Blog. Im Vorwort schreibt sie: „Was unter die Haut geht, draußen in der Natur oder beim Lesen eines Gedichts, sind Stimmungen und Atmosphären, die anmuten und berühren.“

Bonn, 09.04.2024                                                                                                  Heinrich Geiger

Zhuofei WANG: Atmosphären-Ästhetik. Die Verflochtenheit von Natur, Kunst und Kultur. Baden-Baden: Karl Alber im Nomos-Verlag, 2024. 415 Seiten, 99,00 Euro. ISBN 978-3-495-99924-0

Dies ist keine Buchbesprechung im strengen Sinn einer kritischen Inhaltsangabe. Ich möchte ausschließlich beim Titel verweilen, d. h. die dort genannten Schlüsselwörter erläutern, gelegentlich aus dem Buch zitieren und auf diese Weise das Anliegen der Autorin, Sinn und Aufgabe einer Atmosphären-Ästhetik deutlich machen.

Für viele bedeutet Ästhetik die Lehre vom Schönen- in der Natur wie in der Kunst. Damit geht im Einzelfall ein Urteil einher, so dass Kunstkritik zu dieser Disziplin wesentlich dazu gehört.

Atmosphären-Ästhetik will auf etwas anderes hinaus, und zwar auf den ursprünglichen Sinn des Wortes: von griech. aisthánesthai „durch die Sinne wahrnehmen“. So gesehen wäre Ästhetik zu allererst die Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung bzw. eine Erkenntnistheorie, die auf die Sinne vertraut, zumal „die Fülle der Dinge nicht vollständig durch begriffliches Wissen erfasst werden kann“ (Wang, S. 19). Um den Unterschied zur Lehre vom Natur- und Kunstschönen bewusst zu machen, bietet sich der Begriff Aisthetik an, der an die anfängliche Bedeutung anknüpft.

Wenn Ästhetik im Sinne der Aisthetik Wahrnehmungen aller Art thematisiert, dann muß zu dem „sinnlich“ ein „leiblich“ hinzu. Die Einzelsinne bleiben nämlich beim Körper stehen und geben Auskunft auch aus der Distanz heraus: „Was sehe ich?“ „Was höre ich?“ Sobald wir aber Wesen und Dinge am eigenen Leib spüren, ist der Abstand deutlich zurückgenommen. Die Wahrnehmung mag diffus sein, und doch wissen wir schlagartig, worum es geht, denn wir sind mittendrin! Betrete ich z.B. eine fremde Wohnung, dann spüre ich unmittelbar und ohne Einzelheiten zu fokussieren, eine bestimmte Atmosphäre, die mir über die Person, die hier zuhause ist, etwas erzählt. Auch die sogenannte „dicke Luft“ wird leiblich gespürt und warnt mich, dass hier Menschen miteinander im Streit sind.

Mit diesen Beispielen sind wir beim zweiten Schlüsselwort: Atmosphäre. Dazu legt das Buch verschiedene Konzepte vor, die sämtlich die ursprüngliche Bedeutung des Wortes von griech. atmos „Dampf, Dunst“ und sphaira „Kugel“ durchscheinen lassen. Atmosphäre zielt dem anfänglichen Wortsinn nach auf den Dunstkreis der Himmelskörper, die Erdhülle oder, wenn der Mond „Hof hält“ mit dem Licht. Noch im 19. Jahrhundert ist das Wort auf diesen klimatisch-meteorologischen Sinn beschränkt. Alltagssprachlich gesellt sich im letzten Jahrhundert die Bedeutung „Milieu“, „Stimmung“ und „Ausstrahlung“ im Sinne der Aura hinzu: So kann eine Landschaft eine „heitere“ oder „düstere“ Atmosphäre ausstrahlen; so umgibt den Menschen, der zornig gestimmt ist, eine unsichtbare Mauer, an der sich sein Gegenüber stößt; so wirkt ein Raum wie die von mir besuchte Wohnung irgendwie „gemütlich“ oder „kühl“ und lädt zum Verweilen ein oder eben nicht. All dies wird eigenleiblich gespürt, wobei die einzelnen Sinne ihren Teil dazu beitragen.

In den letzten Jahrzehnten wandelte sich das Wort „Atmosphäre“ zum tragenden Konzept einer neuen Ästhetik, die sich weigert, ein Kunstwerk auf seinen Sinn zu reduzieren. Dem steht nämlich entgegen, dass schon das Bild selbst, unabhängig von der Bedeutung, in seiner ganz spezifischen Präsenz bei Anwesenden ein Erleben bewirkt. Als Walter Benjamin (1892-1940) den Begriff der Aura einführte, kam er dem Atmosphärenbegriff dieser neuen Ästhetik sehr nahe: Was er „die Aura atmen“ nennt, heißt nämlich, die Atmosphäre in das eigene Befinden einzulassen: „As we enter a space, the space enters us, and the experience is essentially an exchange and fusion of the object and the subject.“ (Pallasmaa, zit. in: Wang, S. 319)

Atmosphären sind, so gesehen, räumlich ergossene Gefühle, die mich umfangen, umhüllen, tangieren, berühren und mich auf diese Weise in meiner aktuellen Befindlichkeit verändern. Da ist zum einen die emotional aufgeladene Gesamtsituation; zum anderen bilden auch Einzeldinge – im Zusammenspiel ihrer je eigenen Materialität, Formgestalt, Farbe, Töne und Geruch – spezifische „Sphären einer Anwesenheit“ aus, die in die Gesamtatmosphäre einfließen oder unabhängig davon wirksam sind – immer vorausgesetzt, ich lasse mich sinnlich-leiblich darauf ein und gehe nicht bewusst auf Distanz.

Atmosphäre ist also geteilte Wirklichkeit, eine „gemeinsame Situation“ (H. Schmitz): „Als Zwischensein betrifft Atmosphäre weder ein Einzelding noch ein rein subjektives Empfinden, sondern ein Quasi-Objekt, das Umgebungsqualitäten mit menschlichen Befindlichkeiten integriert und sich durch ästhetische Wirkungen wie… Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit auszeichnet.“ (Wang, S. 12)

Atmosphären sind überall: in der Natur, in den von Menschen bewohnten und frequentierten Räumen; sie sind von selbst da oder von Menschen gemacht: Die schroffe Wildnis hoher Berge weist den Wanderer ab, die sanften Hügel im Tal locken ihn an; der Frühling weckt die Lebensgeister, der Herbst stimmt melancholisch; die schlanken Säulen im Freiburger Münster (Gotik) ziehen den spürenden Blick bis unters Gewölbe, der Mainzer Dom (Romanik) schenkt ein Gefühl von Geborgenheit; der Rhythmus eines Gedichts ergreift mich anders als die Prosa eines Romans; ein Streichquartett von Schubert fährt mir anders in den Leib als Rock und Pop; ein Mensch, der aufrecht geht, füllt anders den Raum als ein Mensch, der geduckt über den Boden schleicht…

So lautet bisher eine Bestimmung von Atmosphären wie folgt: Sie treten räumlichzeitlich in Erscheinung; sie werden am eigenen Leib gespürt, selbst dann, wenn sie in Kunst, Alltag und Design bewusst hergestellt sind; sie unterscheiden sich in ihrer Sinnlichkeit (Sehen, Hören), Kognition (wissenschaftliche Interpretation), Medialität (Nebel, Regen) und Kulturalität (s. u.). Im urbanisierten Raum zeigt sich, dem Buch zufolge, darüber hinaus eine Durchmischung von Wahrnehmen und Handeln, von Miterlebbarkeit und Gestaltbarkeit, von Sinnlichkeit und Kognition und nicht zuletzt von Kultiviertem und Unkultiviertem.

Wenn es stimmt, dass Atmosphären „den Grundton unserer Lebenserfahrung bilden“ (Wang, S. 12), dann bedarf es dringend einer Atmosphären-Ästhetik, d. h. einer Disziplin, die sich intrakulturell und interkulturell damit auseinandersetzt, wie sich Umgebungen (natürliche, naturnahe oder urbane) auswirken, sich manifestieren in sinnlich-leiblicher Betroffenheit. Atmosphären-Ästhetik ist dann Voraussetzung für eine „Renaturierung der technisch und industriell geschädigten oder zerstörten Umgebung“ (Wang, S. 14), ist unumgänglich, um künstlerische Praktiken und der Kunst nahestehende Praxisformen (Materialästhetik, Design…) in Landschaftsgestaltung und Stadtplanung einzubeziehen, damit wir uns heimisch fühlen in einer zunehmend urbanisieren Welt.

Nicht zuletzt hat Atmosphären-Ästhetik eine eminent kritische Funktion, da Atmosphären immer und überall auch manipulativ einsetzbar sind, „aufgrund der Tatsache, dass nicht jede gestaltete Atmosphäre eine positive Wirkung hat. Manche können physisch, psychisch und spirituell negativ oder sogar schädlich sein. Wie schafft man eine Atmosphäre, die als sinnvoll erfahren werden kann?“ (Wang, S. 123) Dies ist eine ästhetisch-ethische Frage und hat mit Resonanz (Rosa) zu tun.

Die Verflochtenheit von Natur, Kunst und Kultur ist das dritte im Titel genannte Thema. Unser Körper-Leib ist zwar „Natur, die wir selber sind“ (G. Böhme). Wie wir aber die Welt wahrnehmen, agieren und reagieren, ist nicht nur individuell und situativ, sondern auch kulturell geprägt im weitesten Sinne des Wortes: „Ob Farben, Klänge oder Gerüche Vergnügen bereiten, lässt sich in vielen Fällen auf soziale Hintergründe und kulturelle Wurzeln zurückführen.“ (Wang, S. 152-153)

Um zu zeigen, wie Natur, Kunst und Kultur miteinander verknüpft sind, greift das vorliegende Buch über weite Strecken auf Phänomene des Wetters zurück. Dabei geht es um die Wahrnehmung und (bild)künstlerische Gestaltung von Nebel, Regen, Schnee, Licht und Schatten, Wind und Wolken in verschiedenen Epochen und Kulturen.

Auch von zeitgenössischen Kunstprojekten und deren Bedeutung für eine Atmosphären-Ästhetik weiß das Buch zu berichten. Ausgiebig verweilt die Autorin beim sogenannten Weather Project, dasder dänisch-isländische Künstler Eliasson 2003 im Tate Modern Museum in London realisierte. Bei dieser spektakulären Installation ging es um die Verflochtenheit von Natur, Kunst und Alltagserleben. Hier konnten Besucher am eigenen Leib erfahren, dass die sogenannte Wirklichkeit das Ergebnis einer Interaktion ist zwischen Umfeld und Mensch.

Am Schnittpunkt von Natur, Kunst und Kultur liegen nicht zuletzt Alltagserfahrungen im städtischen Raum, wo Naturatmosphären (Jahres- und Tageszeiten), naturnahe Atmosphären (Grünanlagen) und urbane Atmosphären (Gebäude, Straßen und Plätze) zusammenkommen und zusammenwirken. Neben architektonischen und stadtplanerischen Besonderheiten entscheiden Klänge und Geräusche, Düfte und Gerüche darüber, ob die Menschen sich wohlfühlen in ihrer Stadt. Auch hier bietet sich ein weites Feld zeitgenössischer Atmosphären-Ästhetik.

Dankbar für die Fülle an praktischen Beispielen aus einer neuen Disziplin, für die ordnende Übersicht und theoretischen Überlegungen, möchte ich abschließend noch einmal die Autorin selbst zu Wort bitten: „Die Komplexität der Atmosphärenerfahrungen deckt eine Vielfalt von Lebenserfahrungen auf… und eröffnet gleichzeitig weitgehend neue Horizonte für eine global orientierte Ästhetik… Der durch den… Austausch ermöglichte Perspektivenwechsel würde blinde Flecken in unserer ästhetischen Wahrnehmung aufdecken… und so dazu beitragen, eine andere (und vielleicht bessere!) Version von uns selbst zu entdecken.“ (Wang, S. 388-389)

Gudula Linck, im März/April 2024

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Gudula Linck, em. Professorin für Sinologie a. d. Universität Kiel

Lebendigkeit (Christian Dillo, Gudula Linck)

Beim Lesen des Titels von Christians Dillos Buch „Der tiefe Wunsch nach Lebendigkeit“, dessen Inhalt Gudula Linck nachfolgend vorstellt, möchte man sofort loslaufen und die Idee, die es verkündet, für sein eigenes Leben verwirklichen. Und das Überraschende ist: Jeder kann mitmachen, denn in jedem steckt ein Entdecker, man muss nur den Blick so einstellen, dass man hinter den trostlosen Tatsachen den prachtvollen Garten des Lebens findet: den hellen Traum, die heilenden Bilder.

Das Buch wird im Untertitel als ein „Wegweiser für das 21. Jahrhundert“ vorgestellt. Und das ist nicht so einfach. Wir sind ja nicht automatisch auf der besseren Seite, nur weil wir es wünschen. Ich möchte den Gedanken des „Wegweisers“ mit der Frage nach den geschichtlichen Voraussetzungen unseres Denkens und Fühlens konkretisieren: „Wessen Vorstellung bin ich, wessen Veranstaltung?“ und damit mir eingestehen, dass ich eine schwere Bürde trage. Der Gedanke, ob die Geschichte nach Hegels Regie immer deutlicher Richtung Fortschritt und Vernunft verläuft, spielt keine Rolle. Wichtiger ist, dass das Wahnsystem Realität um seinen Alleinvertretungsanspruch gebracht werden muss. In seinem Gedichtband „Das Auge des Entdeckers“ schreibt Nicolas Born: „Du kannst nicht davon leben/ mit der Wirklichkeit zu konkurrieren/ noch kannst du von der Wirklichkeit leben/ aber du kannst einen Eingriff überleben/ und alles zurück kriegen/ und durch das Leben gehen/ durch schnell verfallende Bilder/ das warst du.“ Nichts Abgeklärtes ist in diesen Versen, stattdessen: eine schöne traurige Unruhe und das märchenhafte Verlangen nach einer Welt, in der das Wünschen hilft – und die Einsicht, dass „Kunst heißt das Leben mit Präzision verfehlen!“

Ich bedanke mich bei Gudula Linck, die uns das Buch Christian Dillos vorstellt – ein Werk, das uns dazu anregt, das Leben in seiner Wirklichkeit zu erschließen. Es möge uns aber auch, wie ich hinzufügen möchte, lehren, mit dem möglichen Scheitern künstlerisch-ästhetisch umzugehen.

Bonn, 19.03.2024                                                                                                          Heinrich Geiger  

  

Christian Dillo: Der tiefe Wunsch nach Lebendigkeit. Ein buddhistischer Wegweiser für das 21. Jahrhundert. Berlin: Ullstein, 2022. 458 Seiten, 22,99 Euro. ISBN 978-3-7934-2437-6

Gleich zu Beginn des Buches, noch vor dem Inhaltsverzeichnis, steht das Zitat von Dōgen (1200-1253), dem das Buch seinen Titel verdankt: „Der tiefe Wunsch nach Erwachen und die umgebende Welt halten gemeinsam eine Hand auf – eine Hand frei aufgehalten, inmitten des Seins.“

Dōgen gilt als einer der bedeutendsten Zenmeister Japans und Gründer der Zen-Sōtō-Schule, die bis heute existiert. In dieser Tradition praktiziert der Autor seit nunmehr 30 Jahren, derzeit als Abt des Zen-Centers von Boulder, Colorado.

Wenn im Titel statt „Erwachen“ das Wort „Lebendigkeit“ erscheint, so verweist das bereits auf ein zweifaches Anliegen des vorliegenden Buches:

Erstens, den Buddhismus phänomenologisch zu durchleuchten, um die mit buddhistischer Praxis verbundene menschliche Erfahrung „mit intellektueller Präzision“ (S. 148) zu untersuchen und so zur Entwicklung des Buddhismus beizutragen.

Damit geht, zweitens, ein kritischer Blick einher, weil es loszulassen gilt, was „historisch veraltet“ ist (S. 145): etwa die Lehre von der Reinkarnation, vom Erwachen/Nirwana als Endzustand und von der Allwissenheit Buddhas.

Manchmal genügt eine etwas andere Formulierung, um signifikante Lehrinhalte auf den Boden gespürter Wirklichkeit zurückzuholen, wenn der Autor z. B. die „vier edlen Wahrheiten“ als die „vier Vollzüge“ erläutert.

Vor diesem Hintergrund ist der Wunsch nach Lebendigkeit – in einer zunehmend säkularen und rationalen Welt – dann nichts anderes als der Wunsch nach unmittelbarem Erleben unserer eigenen „vibrierenden Vitalität“: „Dieses Gerade-jetzt-hier-Sein ist das, was ich Lebendigkeit nenne.“ (S. 338) Für diese „Grundschwingung der Lebendigkeit“ führt der Autor eine Reihe schöner bildhafter Wendungen an: „eine Art Summen, ein inneres Schimmern“, „Champagnerperlen“ (S. 116).

Der Wunsch nach Lebendigkeit ist dann buddhistisch, wenn wir auf die Möglichkeit vertrauen,

  1. unsere Erfahrung zu transformieren (Transformation)
  2. uns von unnötigem Leid zu befreien (Freiheit)
  3. im Einklang mit den Dingen zu leben, so wie sie wirklich sind (Weisheit)
  4. zum Wohle aller Wesen zu handeln (Mitgefühl).

Beim Schreiben an diesem Buch standen dem Autor zwei Zielgruppen vor Augen: „diejenigen, die sich für Selbsttransformation interessieren, aber noch nicht wissen, wie eine buddhistische Perspektive dazu beitragen könnte. Und diejenigen, die den Buddhismus bereits praktizieren, aber an Verfeinerungen von Sichtweisen und Übungsansätzen interessiert sind.“ (S. 15).

Von den ausdrücklich genannten Gewährsleuten bei diesem Unterfangen seien zwei Philosophen aus dem deutschsprachigen Raum genannt: zum einen Hermann Schmitz (1928-2021), der Begründer der Neuen Phänomenologie. Ihm verdankt der Autor das Augenmerk auf leiblich Gespürtes als unmittelbarer Ausdruck von Erleben und Erfahren; zum andern Rolf Elberfeld (1964), Professor für Kulturphilosophie an der Universität Hildesheim. Mit ihm teilt er das Interesse an einer „verändernden Wirksamkeit philosophischen Denkens“ (Elberfeld). So gesehen, erweisen sich Theorie und Praxis des (Zen)Buddhismus als Erscheinungsformen einer transformativen Phänomenologie: „Mit der Idee, den Buddhismus als eine transformative Phänomenologie zu betrachten, möchte ich ihn anschlussfähiger machen.“ (S. 45)

Das vorliegende Buch ist in vier Teile gegliedert, die jeweils einem der oben genannten vier Aspekte buddhistischer Praxis gewidmet sind. Es dient somit zugleich als Handbuch auf diesem Übungsweg, zumal über die Seiten verstreut Atem- und andere Übungen zur Sprache kommen.

Transformation (Teil Eins) zielt nicht darauf, „unser Menschlich-Sein sein zu transzendieren“ (Bruce Tift), „sondern darum, immer vollständiger und freier darin anzukommen“ (S. 16), und zwar „in Richtung weniger Leiden, mehr Weisheit und angemessenem ethischen Handeln“ (S. 144). Buddhistische Phänomenologie ist nicht am Wissen um des Wissens willen interessiert, „sondern stellt Wissen in den Dienst von Transformation“ (S. 144).

Befreiung (Teil Zwei) meint hier Freiwerden von unnötigem Leiden. Leiden ist dann „unnötig“, wenn das Leid zunimmt, nur weil einer unangenehmen Erfahrung (Schmerz) Widerstand entgegengebracht wird: „Auch wenn der Schmerz sehr heftig ist, entsteht kein Leid, solange es keinen Widerstand dagegen gibt: Leiden = Schmerz x Widerstand.“ (S. 153)

Das so bestimmte Verhältnis von Schmerz und Leid führt im Buddhismus zur Empfehlung, nicht (mit Abwehr) zu reagieren, vielmehr gelassen in „Nicht-Reaktivität“ zu verweilen: „Sobald wir die Fähigkeit haben, uns unserem Schmerz zuzuwenden, statt uns von ihm abzuwenden, ist das Leiden bereits kleiner geworden… Um kontinuierlich frei von Leiden zu sein, bedarf es einer Praxis, die von Moment zu Moment Widerstand in Akzeptanz transformiert.“ (S. 155)

Hier ergibt sich ganz nebenbei ein Verständnis von Nirvana jenseits aller Metaphysik: Die Frage ist, „wie wird Reaktivität ‚wiedergeboren‘, d. h.: in diesem Geist hier jetzt von diesem in den nächsten Moment weitergetragen… Momenthafte Nirvana-Erfahrungen sind allen Menschen möglich und zugänglich.“ (S. 177-178)

Weisheit (Teil Drei) bedeutet, „im Einklang mit den Dingen handeln, so wie sie wirklich sind“. Wenn wir durchs Leben gehen, ohne uns der reaktiven Muster bewusst zu werden, die uns im Laufe unseres Lebens zu einer zweiten Haut geraten sind, dann bleibt uns solcherart Weisheit verschlossen: Spontane, erst recht eingeschliffene Verhaltensweisen verstellen womöglich die Dinge, so wie sie wirklich sind: „Solange ich in meine reaktiven Muster verstrickt bin, ist mein Geist dafür nicht offen genug; stattdessen werde ich alles tun, um die Dinge in Einklang mit meinen eigenen Vorlieben und Abneigungen zu bringen“ (S. 263).

Mitgefühl (Teil Vier) impliziert, zum Wohle aller Wesen zu handeln: „Buddhistisch gesehen bleibt unsere Befreiung allerdings unvollständig, wenn wir den Effekt, den wir auf andere haben, ignorieren.“ (S. 258) Umgekehrt sind wir selbst dem Effekt, den andere auf uns haben, ununterbrochen ausgesetzt. Schon deshalb wird uns daran gelegen sein, dass sich die anderen wohlfühlen in ihrer Haut und Umwelt.

Darüber hinaus ist Mitgefühl Ausdruck von Lebendigkeit: Wenn es darum geht, „unser Gefühl von Lebendigkeit zu steigern und zu verfeinern, werden wir ein natürliches Interesse haben, diese Fähigkeit in uns weiterzuentwickeln.“ (S. 360)

So setzt Mitgefühl als Teil buddhistischer Lebenskunst voraus, dass wir uns um Kultivierung von Resonanz, allseitiger Teilnahme und „wechselseitiger Einleibung“ (Schmitz) bemühen und „Ver-Antwortlichkeit“ (S. 360) übernehmen.

All dies macht nicht bei den Menschen Halt. Ein von Mitgefühl getragenes Weltverhältnis, ein „ökologisches Mitgefühl“, erfreut sich an der Schönheit der nicht-menschlichen Natur, lindert auch hier Not und Schmerz und verhält sich verantwortlich.

Aus Platzgründen kann hier auf weitere Stichworte nicht eingegangen werden – so lebendig, poetisch und in höchstem Maße „benutzerfreundlich“ sie auch daherkommen. Die für mich wichtigen seien immerhin genannt: Selbst und Bewusstsein, Geist und Körper, Meditation, Aufmerksamkeitsbewusstsein versus Denkbewusstsein, die irritierenden Emotionen, Raum und Zeit und nicht zuletzt das Atmen – als verlässliche und allgegenwärtige Brücke zur eigenen Lebendigkeit im Hier und Jetzt: Wer bin ich? Die Summe der Geschichten, die ich mir und anderen über mich erzähle? Die Erwartungen der anderen, die ich erfülle? Oder bin ich diese „Schwingtür, die sich bewegt, wenn wir einatmen und ausatmen?“ (Shunryū Suzuki) (S. 135)

Zwischen die vier Teile (Transformation, Befreiung, Weisheit, Mitgefühl) sind drei Exkurse eingestreut: erstens zum Buddhismus als einer transformativen Phänomenologie; zweitens zum Thema „Buddhismus und Psychotherapie“; drittens zur „Spürenswirklichkeit“, dem felt sense nach Eugene Gendlin.

Eine Vorbemerkung des Autors und sein Epilog – erstere ausführlich, letzterer kurz und bündig – geleiten umsichtig in das Buch hinein und hinaus und geben dem knapp fünfhundert Seiten umfassenden Werk seine Rahmung. Das der deutschen Ausgabe vorangestellte Vorwort von Mariana Leky erfrischt mit Witz und Humor. Ihren Vorschlag, sich ganze Sätze aus dem Buch „über die Spüle zu hängen“, habe ich zwar nicht befolgt. Dafür ist mein Kalender 2024 mit zwölf ausgewählten Passagen aus Christian Dillos Buch bestückt. Mit seinen feinsinnigen und feinsprachlichen Überlegungen, die aus langjähriger Praxis schöpfen, werden sie mich durchs Drachenjahr begleiten.

Gudula Linck, em. Professorin für Sinologie a. d. Universität Kiel

Freiburg im Februar 2024

Antworten

Der im letzten Blog veröffentlichte Beitrag von Anja M. Rommel fordert persönliche Stellungnahmen heraus. Sensibilität auf dem Sprung. Nachfolgend zwei Antworten, die beide aus biographischen Erfahrungen leben.

Antwort 1 (Thorsten Schirmer)

Liebe Frau Rommel,

„Überlieferung aus erster Hand“ meint ja bekanntermaßen im übertragenen Sinn das direkte Schöpfen aus der Quelle einer Überlieferung, die im Falle der Chan-Malerei in Ostasien verortet wird. Vor vielen Jahren hatte ich eine Ausstellung in New York, in die sich eher zufällig eine Gruppe deutscher Touristen verirrte. Als diese begann, sich angeregt über meine Werke auszutauschen, schaltete ich mich schließlich in die Unterhaltung ein, um ein paar Erklärungen zu dem Ursprung der Chan-Malerei beizusteuern. Als sich die Gruppe schließlich verabschiedete, blieb eine ältere Frau in der Tür stehen, dreht sich noch einmal zu mir um und sprach: „Ich finde Ihre Bilder ganz wunderbar, aber wenn ich mir so etwas kaufen wollte, dann nur aus erster Hand von einem ostasiatischen Künstler.“ Ich antwortete ihr, dass sie in Ostasien lange nach einem solchen Künstler suchen müsse, da ich niemanden kenne, der so malt wie ich. So verorten sich die Tuschespuren meiner Hand eben weder in Ost noch in West, sondern allein in mir. Und mehr noch: Aus Sicht des Chan gilt es zu erkennen, dass es überhaupt keine erste oder zweite Hand gibt, dass es kein Ich und also auch keinen Tod eines Ichs gibt, dass zwischen der Kontemplation im Sitzen oder im Liegen auch nicht der kleinste Unterschied besteht. Hakuin Ekaku (1686-1769), der zu den bedeutendsten Vertretern des japanischen Chan zählt, hat dies in seinem berühmten Gongan zum Ausdruck gebracht, das da lautet: „Horcht auf das Klatschen der einen Hand!“

Herzliche Grüße

Thorsten Schirmer

Antwort 2 (Heinrich Geiger)

Liebe Anja,

eigentlich fing alles gut an. Als ich im ersten Semester Sinologie und Chinesische Kunst und Archäologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München studierte, begegnete ich in den Räumen des Sinologischen Instituts immer wieder einem Asiaten, von dem ich bald schon erfuhr, dass er ein Auslandschinese aus Indonesien ist. In welchem Semester er studiert, interessierte mich nicht. Danach zu fragen, verbot allein schon der Geist, der damals in einem „Orchideenfach“ vorherrschte: Man studierte, vertiefte sich in Themen, ohne die Jahre zu zählen. Ich sprach ihn immer mit „Billy Eastfalia“ an. Ich meinte, diesen Namen bei einer Professorin des Sinologischen Instituts gehört zu haben. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass dieser Mann, der mich aufgrund seiner asiatischen Erscheinung faszinierte, „Billy Westfalia“ heißen könnte.

East and West: Das Unglaubliche geschah. Ich bemerkte, dass Billy nicht nur von manchen mit „Herr Westfalia“ angeredet wurde, sondern auch auf beides hörte: „Herr Eastfalia“ oder „Herr Westfalia“, beide Anreden nahm er mit völliger Regungslosigkeit entgegen. Er korrigierte den anderen nicht, er widersprach ihm nicht, versuchte nichts richtigzustellen. Billy wurde mir zu einem Vorbild. Bis zum heutigen Tage bin ich ihm dankbar dafür, dass er mich schon gleich zu Anfang meiner Laufbahn als Sinologe lehrte, die Unterscheidung zwischen East und West als völlig nebensächlich abzutun und nicht auf der identitären Differenz, die sich mit geografischen Zuschreibungen verbindet, zu bestehen. Gegenläufig zu den identitären Bestrebungen der jüngsten Zeit, ist mir das Spiel mit den Namen und mit den Identitäten zu einem wahren Vergnügen geworden.

Peter Handke proklamiert in seinem Buch Innere Dialoge an den Rändern (2022), sich vor der „Ideologiefalle Genauigkeit“ zu hüten. Stattdessen plädiert er für eine „Genauigkeit des Vagen“. Und brüsk richtet er sich gegen alle Anweisungen für ein zeitgemäßes Schreiben, die gleichermaßen für Romane wie für Reportagen gelten. Offensiv hält er dagegen, was die Literatur ausmacht: „Eine Klärung durch Rätselhaftigkeit, Rätselhaftwerden, Schleierhaftwerden“. Letzteres, das „Schleierhaftwerden“ ist für Handke geradezu ein Gütesiegel. Und damit ist der Bogen zurückgeschlagen zu „Billy Eastfalia“, der auch die Anrede „Billy Westfalia“ ohne Widerspruch entgegennahm, und dem Gedanken des „Zeitraumerblühens“. Nicht Zuweisungen, sondern Suchbewegungen in der Sprache, die von Sinnlichkeit, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit getragen sind, sind wichtig. Und, unsere Sympathien sollten den Randständigen und Sonderlingen, die sich unter Umständen auch keinem Studienplan fügen, gelten: den von Peter Handke vielfältig beschworenen Kaspar-Hauser-Figuren. Laut Handke ist das Epische, das Erzählen das Gegenteil von „Wissen“. Vom Wissen sein Leben zu bestreiten, nennt er „eine Art Tod“.

Billy bin ich leider nicht mehr begegnet. Auf meinen ästhetischen Spaziergängen ist er immer dabei. Da er im Rollstuhl saß/ sitzt, laufe ich langsam. Rücksicht ist nötig. Denn er muss ja sich und den Rollstuhl mit der Kraft seiner Arme vorwärtsbewegen.

Beste Grüße,

Heinrich

Gastbeitrag Anja M. Rommel: Von was Hände sprechen

Liebe Leserinnen und Leser meines Blogs,

seit Herbst vergangenen Jahres habe ich keine neuen Beiträge verfasst und ins Netz gestellt. Ich war in den zurückliegenden Monaten mit der Arbeit an einem neuen Buch befasst. Ich bin gut vorangekommen und hoffe, dass es in nicht allzu weiter Ferne erscheinen wird. Umso mehr freut es mich, dass Anja M. Rommel mir einen Kommentar geschickt hat, mit dem sie zeigt, dass die Texte meines Blogs nachhallen, den ganzen Menschen ansprechen. Rommel kommentiert den Gastbeitrag des Tuschmalers Thorsten Schirmer, der 2023 in meinem Blog erschien, mit einer „existentiell sensibleren Begrifflichkeit“, deren Notwendigkeit einmal Karl Heinz Bohrer anmahnte. Dadurch eröffnet sie der ästhetischen Betrachtung einen neuen Horizont. Bohrer würde hier von einer „kritischen Seismographie“, die „an der kreativen Wahrnehmung und Schilderung menschlicher Zustände, individuellen und kollektiven“ ansetzt, sprechen. „Schönheit“ (im Chinesischen mei) zeigt sich dann nicht mehr als eine ins Allgemeine enthobene Erfahrung des einzelnen Menschen, als philosophische Universalie, sondern als das, was sie in Wirklichkeit ist: Als eine Herausforderung an jeden von uns.

Adressiert ist der Text Anja M. Rommels vom 28.01.2024 an zwei Personen: Zum einen an den Verwalter des Blogs (Heinrich Geiger) mit allgemeinen Ausführungen und zum anderen an den Verfasser eines früheren Gastbeitrags (Thorsten Schirmer) mit konkreten Einlassungen zu einem von ihm 2023 verfassten Text, einem Gastbeitrag zum Thema der Tuschmalerei.

Bonn, 06.02.2024                                                                Heinrich Geiger

Zur Autorin

Anja M. Rommel studierte Sinologie, Medien- und Kommunikationswissenschaften und Betriebswirtschaftslehre an der Universität Leipzig. Entlang ihrer Magisterarbeit mit dem Titel Theorien auf Wanderschaft: Die chinesische Rezeption der Adorno’schen Kategorie des Hässlichen” formierte sich ihr zunehmendes Interesse an der Ergründung nicht-europäischer Wahrnehmungspraktiken. Sie forschte zum Werk des Erkenntnistheoretikers 冯契 Feng Qi (1915-95), im Spezifischen seiner Expanded Epistemology und war von 2017-2018 als Promotionsstipendiatin am Ostasiatischen Institut der Universität zu Köln tätig. Ihre Leidenschaft für die Praxis des Wing Tsun Kungfu, mit der sie 2015 im Sinne eines persönlichen Kultivierungsweges begann, brachte jedoch lebensweltliche und berufliche Fokuswechsel mit sich, welche in einer längeren Abwesenheit aus den Wissenschaften resultierten. Ihr Dissertationsprojekt trägt den Arbeitstitel „Das Konzept der Elastischen Kraft im Wing Tsun-Kungfu nach Großmeister 梁挺 Leung Ting (1947-): Medi(t)ationen einer kultur-ästhetischen Praxis” und diskutiert die WT-spezifischen Vorgehensweisen inmitten ihrer Befragung als Wissensformen resp. nicht-diskursive Wissenspraktiken. Durchdrungen wird ihre Forschung von der Bestrebung eines methodischen Brückenbaus zwischen den vermeintlichen „Künsten” und den vermeintlichen „Wissenschaften”, angeleitet von der WT-ästhetischen Gleichung: Empfind-samkeit > Empfind-lichkeit.

Text

(FRAGMENT 1)

Werter Heinrich,

Nach langer Müdigkeit habe ich zurückgefunden; ein ästhetischer Spaziergang“ einer anderen Art und Weise liegt hinter mir, dies sei nun gewusst… So viele neue, wunderbare, neue Zeilen sind hier zu entdecken, die Landschaft wächst und die Schriftrolle wird länger und länger. Für den Ausdruck der von dir mittlerweile versammelten Beiträge braucht es bereits eine Tapetenrolle. Vielen Dank für deine Ausdauer, es wird erkenntlich, dass sich bereits Einige an diesem Unterschlupf – oder vielleicht sogar eher Aussichtsplattform – erfreuen!

Ich würde mir gern erlauben, einen kleinen Kommentar zu dem Gastbeitrag von Thorsten Schirmer zu geben, um der von ihm gelegten „Tuschespur der Katze“ lesend = schreibend für einen Moment zu folgen. So hinterließ mein Stift drei Spuren im Sinne von drei Anzeichen, Anzeichnungen, welche die folgende Denkbewegung anführ(t)en:

***

Werter Herr Schirmer,

gern würde ich ihren Text von hinten aufrollen und mit der ersten Nachfrage als der ersten Spur meiner Notiz und zwar zu der „Überlieferung aus erster Hand“ beginnen: So frage ich mich, was bzw. wessen „erste Hand“ Sie damit meinen? Glücklicherweise hält die Hand, soweit ich weiß, soweit ich meine kenne, kein kulturspezifisches Wissen inne. Eine Ausnahme möge höchstens die Hand der Fatima (auch Hamsa, Chamsa, Khamsa, arabisch خمسة , DMG ḫamsa ‚fünf‘)  darstellen.

Meine Hände, sprechen auf keinem ihrer Wege von „Ost und West“, womöglich eher noch von „rechts“ und „links“. Auch an-hand der Oberfläche der Hand (und allem weiteren), der Haut, ist eher das zweite zutreffend, wortwörtlich im Sinne von „zu-treffen“. Im Kontext der „Kampfkunst“, wie es die meisten wohl benennen würden, werden die Worte überstiegen; die Eigenart und -weise der künstlerischen Praktiken. So zeigt (m)ein Blick auf die Hände körperlich-ablesbare Spuren als ein vergangenes Gespürtes, welches seine Gestalt in die Gegenwart ausweitet… Vorausgesetzt die Gelenke sind nicht zu verklebt, scheint sich die Führung der Hände doch eher in Bedingtheit mit dem Herzen, dem Herz-Geist zu ereignen. Ob nun durch den Pinsel, durch den Stift aus Blei oder gar ohne sie: erst dessen Leidenschaft und das er-schaffene Leiden des Herz-Geistes eröffnet den Zwischenraum, in dem sich alle sinnhaften und sinnlosen Übungen abzuspielen scheinen. Es bildet den Zwischenraum, aus dem sich irgendwann, irgendwie, irgendetwas Gewusstes in Bewusstes verwandelt und sich in Bildschrift = dem Schriftbild form(alis)iert; bevor es zum Egalen, dem vielleicht einzigen Realen (?) wird.

Oder, was denken Sie?

(FRAGMENT 2)

            Präskript: Ich glaube, ich habe doch geschwindelt, es gab für mich ebenso ein „Ost“ und „West“, vor allem als die Mauer dann gefällt wurde…

Die zentralen Fragen des Daseins gilt es nicht nur folgerichtig zu zentrieren, sondern ebenfalls aus der Mitte heraus, gleichzeitig gen Mitte, gleichzeitig als Mitte zu ergründen, so vermute ich. Dieser Art und Weise der Richtung oder vielmehr der Weg(be)gehung werden längst nicht genug Zeit und Raum eingestanden, das glaube ich zu wissen. Besonders in Bezug auf die, von Herrn Schirmer an 2. Stelle platzierten Frage darüber, was nach dem Tod geschieht. Höchstwahrscheinlich ver-irre ich mich hier und es war nicht Martin Heidegger, der der Ansicht war, dass es sich bei dem Tod eben nicht um ein empirisches Ereignis, sondern um ein existentielles Phänomen handelt? Gehörte nach ihm sowie nach seinem Tod, der Tod nicht nur dem, der ihn durchläuft bzw. dem, durch den er läuft, dem, der von ihm passiert wird, ohne dass es ihm wirklich passiert? Feststeht, dass man im Zuge dieser Passage für immer mit-genommen wird und mit-gerissen bleibt. Die Frage, „Was bin ich?“, welche danach zu fragen scheint, was das Ich ist, begrenzt sich eben hoffentlich nicht nur auf das Sein oder Seiende, denn dessen Raum und Zeit sind viel zu kurz und klein. Aber wer versteht außer Martin schon diesen Unterschied? Auch nach Heidegger(s Leben) bleibt das Dasein immer eine Bewegung in Richtung des AB-lebens im Sinne eines Lebensendes, welches sich in ein sich anschließendes ablöst und in diesem ein neues AUF-leben freilegt…

(FRAGMENT 3)

Die dritte kleine Spur verklebt die von Herrn Schirmer angesprochene „Versenkung“ (Dhyana) mit der „Hauptübung der stillen Kontemplation im Sitzen“. So wäre ich mehr als dankbar für eine weitere Aufklärung, denn wissen wir doch alle, dass das Licht einfacher durch klare Wassertropfen zu scheinen weiß.

So frage ich mich schon eine halbe Ewigkeit, wie es dazu kam, das Sitzen als die entspannteste Position, als die den Grund für die Versenkung im Sinne einer Inne-Werdung/Inne-Wohnung legende, zu wählen. Das Liegen ist doch so viel aufwandsloser, oder? Oder gleicht das Liegen zu sehr der (sprach-)bildlichen Vorstellung der absoluten Versenkung im Sinne des Todes und wird somit nicht als zentral angesehen? Es ist aber ja auch möglich, dass sich meine Wahrnehmung immer um die sitzenden Buddhas gedreht hat, immerhin erscheint es so, als würden sie mit ihrem Sitzen die „erhabene“ Mitte zwischen Erde und Himmel bilden. „Perfekte“ 90 Grad, Füße und Knie neigen im Lotussitz gen Erde, der Blick aufrecht ohne zu sehen. Kein Übungsweg scheint in ihrem Sitzen mehr erforderlich, keine Not mehr, die es zu wenden gäbe; nichts wovon man sich zu lange ausruhen müsste.

Wie seht ihr den Buddha, welche Buddhas seht ihr, ob nun mit müden oder hellwachen Augen?

… Beim Schreiben neigt sich unser Blick, wie eine kleine Verbeugung vor dem Papier und das im Zuge der Praxis des Stiftes und des Pinsels. Eine Staffelei für das Schreiben würde vielleicht noch mehr Aufre/ichtigkeit mit sich bringen?

Nun ist mein Stift ausdauernd, doch mein A4-Papier geht dem Ende entgegen. Für eine vorletzte und letzte Frage sei jedoch immer ein kleiner Zeitraum in den Zwischenräumen zu finden. So frage ich mich und Sie, Euch, wo zeigen die Handflächen des Buddhas hin? Oder führt diese Frage ins NICHTS, solange beide Hände dem gleichen Quell entspringen? 心。。。

信?

An der Schwelle

Betritt eine Besucherin/ ein Besucher die Sankt-Burchardi-Kirche in Halberstadt – eine Kleinstadt am Rand des Harzes – steht er in einem leer geräumten Raum, der eher einer Ruine als einem Sakralbau gleicht. Sie oder er wird vom Vibrieren und Wummern eines Akkords erfasst, der derzeit aus fünf Orgelpfeifen erklingt – gespielt auf einer Miniatur-Orgel aus Holz, an deren Tasten Sandsäckchen hängen, damit der Ton, dieser fast hypnotische, monotone, leicht erhöhte Ton, durchgängig zu hören ist. Von der Orgel selber ist vorerst nichts zu sehen. Denn diese befindet sich im südlichen Querhaus, ihr gegenüber, im nördlichen Querhaus, der Blasebalg. Fast schwebend wird der Raum von einem Klang erfüllt, der sich verändert: Mit jedem Schritt, schon bei der kleinsten Kopfdrehung, hört er sich anders an, bald tiefer, bald höher; einmal überwiegt das Wummern, dann ein Sirren.

Klang und Raum und zeitliche Dauer. In der  Sankt-Burchardi-Kirche erklingt ein Konzert, das kein Mensch im Ganzen hören kann. In dem romanischen Kirchbau wird seit 2001 John Cages Orgelwerk „ORGAN2/ ASLSP aufgeführt. Das Konzert, das Cage 1985 unter dem Titel „As SLow aS Possible“ komponierte und zwei Jahre später für die Orgel adaptierte, dauert 639 Jahre. Die Zahl ist keineswegs willkürlich bemessen. Sie wurde ausgehend von einem musikhistorischen Datum berechnet. Ausgangspunkt ist das Jahr 1361, in dem im Halberstädter Dom die damals größte und modernste Orgel geweiht wurde. Die Zahl 639 ergibt sich aus der Zeitspanne zwischen dem Jahr der Weihe der Orgel und der Jahrtausendwende, dem Jahr 2000. Begonnen am 5. September 2001 (am 89. Geburtstag des 1992 verstorbenen amerikanischen Komponisten), wird demgemäß das Konzert im Jahr 2640 endigen oder, genauer gesagt, am 4. September 2640, einem Freitag.  

Die Anweisung des Komponisten „So langsam wie möglich“ erinnert an Daniel Beerstechers Slow Walk, der in einem früheren Text vorgestellt wurde. Er lässt uns an seinen Marathonlauf denken, bei dem er pro Tag jeweils eine 400-Meter-Runde auf einer Tartan-Laufbahn zurücklegte und dafür im Durchschnitt zwischen 3 und 3 ½ Stunden benötigte.

Klang und Raum, Zeitdauer und Zukunft. Alles im Inneren der Kirche und auch das Projekt selbst wirkt superzerbrechlich. Die Wände der Kirche bröckeln, und in manchen Jahren bröckelt auch die Gruppe der Ehrenamtlichen, ohne deren Engagement die „ORGAN2/ ASLSP“ nicht fortgeführt werden kann. Es fehlen Helfer, genauso wie auch das Geld immer fehlt. „Die Sorge ist Teil des Ganzen“, wie einer der Ehrenamtlichen sagt. Dennoch planen die Menschen in Halberstadt ganz fest mit der Zukunft; sie vermitteln Hoffnung in einem Weltgeschehen, das in Höchstgeschwindigkeit auf den Abgrund  zuzurasen scheint.

*

Schwellenorte. Seit ein paar Jahren erfährt man in den sozialen Medien von einer Ästhetik, die als „liminal spaces“ bezeichnet wird. Damit sind „Schwellenorte“ oder „Übergangsorte“ gemeint, also leere Flure, Treppenhäuser, Durchgänge, Unterführungen und so weiter. Sie haben etwas Unheimliches an sich, weil sie kein Gefühl von Geborgenheit vermitteln. Andererseits sind sie anziehend, weil sie Aufbruch, neue Ereignisse, vielleicht ein neues Leben versprechen, und damit auch ein Stückchen Bewegungslust beinhalten: „Nur wer sich auf den Weg macht, wird neues Land entdecken“ (Hugo von Hofmannsthal), auch wenn der Weg streckenweise durch Gewerbegebiete, durch Landschaften aus Asphalt und entlang von Lagerhallen führt, bevor man dann auch schon wieder auf die nächste Schnellstraße stößt, an deren andere Seite man durch einen betonierten Tunnel gelangt. Wahre Schwellenorte, an denen sich Menschen nur vorübergehend aufhalten, auf dem Weg zu anderen Orten.

Auch die Sankt-Burchardi-Kirche von Halberstadt ist ein Schwellenort, der allerdings auf Ewigkeit gesetzt ist, weil er als Klangraum das unvergängliche Thema des Weggehens und Ankommens auf ganz eigene Weise formuliert. Durch das Cage-Projekt dehnt sich in der Sankt-Burchardi-Kirche die Zeit, sie weitet sich zu einem Resonanzraum. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die ehemalige Klosterkirche säkularisiert worden, diente einmal als Lazarett und einmal als Schweinestall oder als Brennerei. Alles an und in ihr ist rau. Gleichzeitig ist da aber der Dauerton aus fünf Orgelpfeifen, der zur Rauheit des Raums den Gegenpol bildet und sich in seiner Zerdehnung der menschlichen Auffassungsgabe entzieht. Dem Besucher, der die Tür der Sankt-Burchardi-Kirche öffnet und danach die Schwelle zu deren Innenraum überschreitet, zeigt das langsamste Orgelstück der Geschichte, wie es sich anfühlt, aus der Zeit herausgehoben zu sein. Es verunsichert ihn aber auch. Denn wie soll man sich orientieren, wenn noch 617 Jahre vor einem liegen? Hat das Stück nicht gerade erst angefangen?

Trotz dieser bangen Fragen erdet und erhöht zugleich das Erleben eines Raumes, in dem ein Klang durchgehend Präsenz zeigt, der einfach da ist. Ein Cage-Zitat lautet: „I love sounds, just as they are“. Aufgehobene Zeit. Später, im Stadtraum von Halberstadt, wird dann wieder Geschichte konkret erlebbar. Am 8. April 1945 hatte ein amerikanisches Bombergeschwader die Stadt als Ziel eines verheerenden Angriffs gewählt. „Moral bombing“ nannten die Alliierten solche Bombardements, die keinem unmittelbaren militärischem Zweck dienten, sondern allein die Moral der Zivilbevölkerung brechen sollten. Man erkennt es noch heute, dass die Stadt damals ein neues Gesicht erhielt. Nachdem der Schutt abgetragen war, wurde Platte um Platte hochgezogen, ohne Rücksicht auf Vergangenes, ohne Bemühung um Baukultur im menschlichen Mass. Was von alter Bausubstanz geblieben war, wurde geradezu mutwillig dem Verfall preisgegeben. Die Stadt erhielt in den Jahren der DDR ein Gesicht, das gesichtslos war, was man auch heute noch erkennt, wenn man vom Bahnhof her in die Stadt geht. Der Weg führt durch trostlose Häuserschluchten, an denen gerade die schütteren Vorgärten das Trostloseste sind. Mittlerweile wird da und dort mit Sorgfalt restauriert. Ein Rundgang durch die von Umbrüchen gezeichnete Stadt wird darum zur bald gespentischen, bald aufregenden historischen Anschauung. Plötzlich, an der Außenfassade eines Gebrauchtmöbel-Ladens, ein Schild mit einer aufrüttelnden Botschaft: „Schnapp zu“. Und ein weiteres sagt: „% % Räumungsverkauf“. Ja, es steckt viel Schönheit in gewöhnlichen Dingen. In diesem Fall scheint mir dieser Satz aber nicht zu gelten. Wer zu Fuß unterwegs ist, kommt ohnehin nicht auf die Idee, „zuzuschnappen“ und sich einen Sessel oder ein Sofa zu kaufen. Sie oder er bevorzugt leichtes Gepäck, womit ich am Ende meiner Ausführungen wieder bei dem Text von Shu-Jyuan Deiwiks wäre, die uns im letzten Blogtext der „Ästhetischen Spaziergänge“ von ihrem Ankommen in einer neuen Lebensumgebung berichtete.

Gehen und ankommen. Gastbeitrag von Shu-Jyuan Deiwiks

Wege erzählen Geschichten. Dass die Erzählungen oftmals sehr persönlich ausfallen, ist dem nachfolgenden Text von Frau Shu-Jyuan Deiwiks zu entnehmen – einer Ostasienwissenschaftlerin (Sinologie, Mandschuristik, Japanologie), die nach dem Studium in Taibei und den USA an der Universität zu Köln unterrichtete . Sie war Vorsitzende und treibende Kraft des Ostasien-Instituts e.V. (OAI) in Bonn. Den Musikfreunden unter uns ist sie als Organisatorin des Konzerts „Klänge aus Ostasien. Zeitgenössische Musik aus alten und neuen Traditionen Taiwans“, das am 02. Oktober 2022 im Kammermusiksaal des Beethoven-Hauses Bonn stattfand, bekannt. Unter anderem kam das Stück „Sound Color Density“ der 1970 geborenen taiwanesisch-amerikanischen Komponistin Zhichun Li (Chichun Chi-sun Lee) zur Aufführung. Die Titel der ersten beiden Sätze (es gibt insgesamt drei) „Texture/ Density“ und „Color/ Timbre“ verdeutlichen den Charakter des Textes von Shu-Jyuan Deiwiks, der in seiner Textur dicht und in seiner Stimmungslage voller Zwischentöne ist. Er handelt vom Gehen und vom, wie ich ergänzen möchte, ersehnten Ankommen.

Heinrich Geiger, 10.10.23

Shu-Jyuan Deiwiks, Elten – ein Grenzdorf

Seit meinem Umzug im August 2022 von Rösrath im Bergischen Land nach Elten, Emmerich am Rhein, agiere ich wie eine Touristin, die nach der Ankunft im Urlaubsort neugierig die Ortschaft  erkundet. Zuvor war ich bereits vom ersten Blick angetan: von der Autobahn heruntergefahren, sah ich auf der Landstraße zum Ortskern viele hübsche mittelgroße Häuser auf einer Seite, auf der anderen Seite dichte Wälder. Sehr bald bemerkte ich die Windmühle, dann die Turmspitze der Dorfkirche. Im Dorfzentrum angekommen, sah ich den „Markt“ genannten Platz vor der Kirche St. Martinus und, rund herum um den Marktplatz, Geschäfte wie eine Bäckerei, eine Eisdiele, Banken, Restaurants, ein Hotel usw. Vor der Bäckerei und der Eisdiele saßen Menschen, die Kaffee mit Kuchen oder Eis aßen. Unter dem großen Baum in der Mitte des Platzes beobachteten einige Leute das Treiben im Dorf und genossen im Schatten des Baumes die Kühle. Ein ruhiges und gelassenes Bild.

Nach dem Einzug in die neue Wohnung begann ich den Ort Elten genauer kennenzulernen.

Elten ist an drei Seiten, außer im Süden, von den Niederlanden umgeben. Es ist sehr leicht, den niederländischen Boden zu betreten. Wenn ich 700 Meter nach Nordwesten zum Bahnhof, eigentlich nur eine Haltestelle, laufe,  befinde ich mich auf der anderen Seite der Schiene bereits in den Niederlanden. 400 Meter südwestlich meiner Wohnung führt eine Straße zur niederländischen Stadt Spijk. Das Gebiet nördlich von dieser Straße gehört zu den Niederlanden, die Straße selbst und das Gebiet südlich davon gehören zu Deutschland. Man kann mit einem Fuß auf dem niederländischen und mit dem anderen Fuß auf dem deutschen Boden stehen. Dies ist in meinem neuen Wohnort nichts Ungewöhnliches.

Elten ist bekannt als ein Ort der kurzen Wege. Innerhalb von 400 Metern von meiner Wohnung gibt es in drei Richtungen jeweils einen Supermarkt. Der Weg dorthin führt durch den alten Friedhof bzw. durch den Dorfkern. Zu meinem Alltag gehört mittlerweile auch der Spaziergang auf den Eltenberg, ein Fußweg von ca. 20 Minuten. Ich gehe durch die Lindenallee, an deren Seiten schöne Villenhäuser zu bewundern sind. Auf dem Berg angelangt, gehe ich am Touristenzentrum und Minigolfplatz vorbei zur Stiftskirche St. Vitus. Diese Kirche wurde im Mittelalter erbaut (der Stil ist romanisch), erlitt aber mehrmals Zerstörungen durch Krieg oder Brand und wurde jedes Mal neu aufgebaut. So finden sich auch Architekturelemente im gotischen Stil. Eine Kirche mit zwei unterschiedlichen Baustilen ist selten. Im Inneren ist die Kirche schlicht, aber dennoch elegant. Der Altar verfügt über ein Holzwerk, das im Original erhalten ist und aus dem 17. Jahrhundert stammt. Das Bild im Mittelpunkt der Holzschnitzerei zeigt das Feuer, das im damaligen Krieg von Emmerich bis nach Elten wütete.

Hinter der Kirche verläuft ein Spazierweg mit drei Sitzbänken, die einladen, die Landschaft aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten. Von dort sehe ich hinunter auf das Rheindelta, in der Ferne die rote Rheinbrücke, gelegen zwischen Emmerich und Kleve, und oben die Wolkenspiele. Im Wald um die Stiftskirche ist ein Kreuzweg eingerichtet. Allerdings fand ich bisher nur einige Stationen. Im Wald ist ein kleiner Altar mit einer Skulptur der heiligen Familie. Der Altar wird regelmäßig mit frischen Blumen geschmückt. Bevor ich weitergehe, muss ich über meinen Rückweg entscheiden: den Weg nehmen, den ich gekommen bin, oder weiter westlich über das Feld, oder steil bergab hinunter auf die Emmericher Straße. Andererseits kann ich auch gen Osten in die Waldsiedlung gehen, um so nach Norden zum Dorfkern zu kommen. So mache ich aus dem Ort der kurzen Wege einen Ort der langen Wege, indem ich in der Gegend herumlaufe, und z. B. zum Denkmal für verstorbene Soldaten oder zur Grillhütte im Wald oder zu manchen anderen schönen Ecken gelange. Die Stiftskirche St. Vitus auf dem Eltenberg und die Kirche St. Martinus im Dorfzentrum sind meine Orientierungshilfen. Ohne Stadtplan oder Kompass finde ich immer den Weg nach Hause.

Im Norden des Dorfes, wo es direkt an die niederländische Gemeinde Zevenar grenzt, befindet sich das Neubaugebiet mit meist freistehenden Einfamilienhäusern, ähnlich wie in anderen deutschen Städten. Im Süden von Elten, am Fluss Wild, liegt ein Erholungsgebiet mit zwei Campingplätzen. Im Osten des Dorfes gibt es größere Höfe, die Erdbeeren, Spargel, Kartoffeln anbauen und verkaufen. In den Sommermonaten herrscht dort reger Betrieb.

Die nächsten niederländischen Städte sind u. a. Zevenar im Norden und Beek sowie s’Herrenberg im Osten. Diese hübschen Städtchen sind wie Elten und Emmerich zu Urlaubszielen sowohl für Deutsche als auch für Niederländer geworden.

Bei einem Spaziergang auf dem Eltenberg, kurz nach meinem Umzug, sprach mich einmal ein älterer Herr an, als ich vom Aussichtspunkt aus Fotos vom Rheindelta machte. Da er einen Fotoapparat trug, hielt ich ihn zuerst für einen Fotografen. Statt über Fotografie zu reden, fing er an, mir die Bauten in der Landschaft zu erklären. Die rote Brücke fällt als erstes ins Auge, die majestätisch über dem Rhein hängt und an die Golden Gate Bridge in San Francisco erinnert, nur in kleinerem Format. Am anderen Ende der Brücke befindet sich die Stadt Kleve. Weiter hinten beginnen bereits die Niederlande. Nachdem er über die Landschaft gesprochen hatte, fragte er mich, ob ich Zeit und Lust hätte, mit ihm einen Spaziergang durchs Dorf zu machen. Ich war angenehm überrascht von seiner Offenheit und nahm seinen Vorschlag an. Er stellte sich mit Vornamen vor, eine Sitte der Niederländer. Ich fragte vorsichtshalber nach seinem Familiennamen. Er, Herr F., fing an über Fremdsprachen zu sprechen. Er vermutete, dass ich als Asiatin mehrsprachig sein müsste, um in Deutschland leben zu können. Anders als seine Frau, die fünf Sprachen fließend spricht, kann er nur Deutsch. Ihre Kinder gingen in den Niederlanden zur Schule und lernten problemlos zwei Fremdsprachen, Niederländisch und Englisch. Anscheinend ist Mehrsprachigkeit für ihn ziemlich wichtig. Wir tauschten einiges über unsere jeweilige Familie aus. Herr F. führte mich dann nach Osten über den Trimm-Dich-Sportplatz, dann durch eine große Obstwiese und durch den von Sommertouristen beliebten Barfußpfad. Wir kamen beim neuen Friedhof am Ortsrand heraus und gingen gen Norden zum Dorfkern zurück. Es stellte sich heraus, dass er nur um die Ecke bei mir wohnt.

Diesem Herrn F. bin ich in den darauffolgenden Monaten sehr oft begegnet. Er nahm mich manchmal auch gleich mit auf seinen Spaziergang und stellte mir neue Stätten vor. Er kennt viele Leute im Dorf und konnte erzählen, z. B. wer die wichtigste Person für Elten sei, nämlich der Tankstellenbesitzer – das tat er, als wir an dessen Haus mit einem Vorgarten, in dem das Modell einer Tanksäule steht, vorbeigingen. Ein anderes Mal führte er mich zum neuen Friedhof. Einige Verstorbene, die dort liegen, kannte er gut. Ich erfuhr von ihm, welche Beiträge diese Menschen, darunter ein Türke und ein Grieche, für Elten geleistet hatten. Eine kurze Dorfgeschichte sozusagen.

Die zweite Person, die mein Einleben in Elten erleichtert hat, ist eine Nachbarin im Haus, Frau R. K. Sie kam vor 4 Jahren von Spanien hierher und ist fast jeden Tag durch die Straßen in Elten gelaufen. Sie führte mich in den ersten Monaten an viele Orte und erzählte mir auch, was sie von den Einheimischen erfahren hatte. Wir spazieren nun zusammen durch den Wald oder durch die verschiedenen Teile des Dorfes, wenn das Wetter es erlaubt.

Im Laufe der Zeit kam ich auch mit anderen Spaziergängern ins Gespräch, wenn ich alleine unterwegs war. Ich erinnere mich an einen älteren Niederländer mit einem niedlichen kleinen Hund. Nach dem ersten Hallo fragte er nach meiner Herkunft. Als ich Taiwan nannte, wusste er sofort über die Spannung zwischen meiner ursprünglichen Heimat und China Bescheid. Wir sprachen eine Weile über die politische Situation in Asien. Dann erzählte er mir, dass er eigentlich ein Amsterdamer sei. Nach seiner Pensionierung sei er nach Elten gezogen, weil er den Lärm und die vielen Menschen in Amsterdam nicht mehr ertragen wollte. Er fand Elten einfach ideal für ein ruhiges Leben in der Natur. Der Umzug nach Elten war für ihn daher die beste Lösung. Er war der erste Niederländer, dem ich in Elten begegnete.

Ein anderes Mal sprach mich eine ältere Frau an. Sie wollte wissen, woher ich käme. Ich bin die einzige Asiatin in Elten. Als wir uns weiter unterhielten, äußerte sie ihr Bedauern, dass ihre Kinder sie nicht so oft besuchen kämen, wie sie es sich wünschte. Ich spürte ihre Einsamkeit, unter der viele ältere Menschen in Deutschland leiden.

In meinem Alltag treffe ich verschiedene Lieferanten im Haus. Der Mitarbeiter einer Lebensmittelfirma singt bereits, wenn er vor dem Haus parkt und Waren aus dem Wagen holt. Er singt klassische Melodien, während er die Bestellungen durch die Flure zu den Wohnungen bringt. Ich hätte ihn für einen Opernsänger gehalten.

Jeden Freitag kommt ein niederländischer Gemüsehändler aus Didam ans Haus. Die Nachbarschaft kommt zusammen, um bei ihm einzukaufen. Der Händler macht oft Scherze und erheitert die Kundschaft. Für kurze Zeit ist vor unserem Wohnhaus Gelächter zu hören.

Dann gibt es noch einen Syrer, der schräg gegenüber im anderen Haus wohnt und sehr oft draußen im Vorgarten sitzt. Er grüßt jeden, der vorbeigeht. Ab und zu winken wir uns zu, wenn wir einander durch unsere Fenster sehen.

Zu Weihnachten ging eine Gruppe Posaunenmusiker Weihnachtslieder spielend durch die Straßen. Als sie auf der Parkanlage neben unserem Wohnhaus ca. 15 Minuten gespielt hatten, gingen viele Fenster auf. Die Menschen drinnen applaudierten und riefen laut „Dankeschön“ oder „Bravo“ zu den Musikern für ihre warmherzige Musik in der winterlichen Kälte.

Auf dem Sommerfest im Juni tanzte eine niederländische Volkstanzgruppe für die Menschen vom Altenheim, die im Rollstuhl oder mit Rollator kamen. Alle hatten einen fröhlichen Nachmittag mit Kaffee und Kuchen verbracht.

Das Schützenfest dauerte nicht nur übers Wochenende, sondern auch noch bis Montag früh. Gegen 6:30 Uhr wurde ich von der Blasmusik draußen wach. Gegen 8:00 Uhr kamen alle Musikgruppen vor unser Haus. Nachdem sie etwas gespielt hatten, gingen sie hinein, vermutlich zum Frühstück. Danach, kurz vor 9 Uhr gingen sie auseinander. Damit war das Schützenfest wohl offiziell beendet. Und das Ganze bei Nieselregen!

Ich glaube, man kann solche Gegebenheiten nur in einer kleinen Gemeinschaft erleben. All diese fröhlichen Menschen tragen dazu bei, dass hier eine gute und gelassene Atmosphäre herrscht.

In den ersten Monaten in Elten habe ich fast alle Sehenswürdigkeiten und historische Stätten wie die Windmühle, den Eltenberg, die Stiftskirche St. Vitus, die Kirche St. Martinus usw. besichtigt, nur nicht den Drususbrunnen, weil er von November bis März geschlossen ist und sonst auch nur sonntags offen ist.

Einige ältere, aber schöne Häuser wurden leider nicht sonderlich gepflegt, wie ein Wohnhaus in der Nähe des Bahnhofs. Es ist ein Haus im Jugendstil. Die Haustür und die Fenster zeigen die für ihn typischen anmutigen Verzierungen. Leider ist die Fassade etwas zerbröckelt.

Ein anderes Beispiel ist das Waldhotel auf dem Eltenberg. Das Hotel steht wie die Stiftskirche St. Vitus auf einer Anhöhe, wo man von der Terrasse aus direkt auf das Rheindelta blickt. Zum allgemeinen Bedauern ist es seit 8 Jahren eine häßliche Baustelle. Der Eigentümer ist ein Niederländer; er beschäftigte einen Architekten und Bauarbeiter aus den Niederlanden, die nicht immer über die deutschen Baugesetze Bescheid wussten. Folglich geriet er in Konflikt mit der hiesigen Baubehörde. Noch schlimmer ist die Tatsache, dass er sich mit seinen Nachbarn, die alle Niederländer sind, überworfen hat. Hier tobt seit Jahren ein niederländischer Nachbarschaftskrieg, und ein Ende ist noch nicht in Sicht. 

Als der Drususbrunnen ab Frühjahr sonntags geöffnet war, besuchte ich ihn einmal. Die sympathische Gästeführerin erklärte die Geschichte und die Technik des Brunnens. Der Brunnen versorgte bereits im Jahre 980 n. Chr. die ca. 20 dort wohnenden Familien. Der Name Drusus ist mehr eine Legende, denn es ist nicht bekannt, dass der römische Heerführer Drusus jemals in Elten gewesen war. Der Brunnen ist 57 Meter tief. Er wurde noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg betrieben. Selbst heute würde er noch funktionieren, denn er wird von Zeit zu Zeit geprüft. Lediglich aufgrund der mühsamen Arbeit und der neu installierten Wasserversorgung hat man die Nutzung des Brunnens aufgegeben. Das Interessanteste für jeden Besucher, besonders für Kinder, ist, einen Eimer Wasser in den Brunnenschacht hinabzulassen. Genau 8 Sekunden später hört man das Platschen auf die Wasseroberfläche, tief unten.

Nach der Demonstration der Brunnentechnik kam ich mit der Gästeführerin ins Gespräch. Ich fragte sie nach dem Umstand der Rückführung von Elten in die deutsche Verwaltung im Jahre 1963. Da ihr erst 2022 verstorbener Großvater diese Zeit erlebt hatte, konnte sie mir lebhaft erzählen: Elten stand seit 1949 unter niederländischer Verwaltung. 1963 wurde Elten wieder Deutsch. Die deutsche Bundesregierung hatte Elten sozusagen „zurückgekauft“. Es war eine umstrittene Entscheidung, die Bevölkerung war geteilter Meinung. Manche Eltener wollten lieber weiter niederländisch bleiben, andere lieber deutsch werden. Nur die Einwohner in Elten wurden gar nicht gefragt. Es gab keinen Bürgerentscheid.

Ein weiteres Mal wurde, abermals über ihren Kopf hinweg, der Beschluss gefasst, Elten nach Emmerich einzugemeinden. Elten war in niederländischer Zeit schon ziemlich reich und blieb danach auch reich, während Emmerich hoch verschuldet war. Die Eingemeindung war kein gutes Geschäft für die Eltener, so die Gästeführerin. Elten gilt heute als ein besseres Wohngebiet der Stadt Emmerich am Rhein.

Die Atmosphäre in Elten ist sowohl deutsch als auch niederländisch. Ungefähr 40% der schätzungsweise ca. 4700 Einwohner sind Niederländer. Überall und jederzeit hört man Niederländisch, bei der Post, in Supermärkten usw. Auf dem Wochenmarkt spricht die Mitarbeiterin des Fischstandes aus den Niederlanden die Kunden grundsätzlich auf Niederländisch an. Sie wechselt erst ins Deutsche, wenn der Kunde Deutsch spricht. Der Gemüsehändler aus dem niederländischen Didam, der vors Haus kommt, spricht immer zuerst Deutsch, wohl weil er in Deutschland verkauft. Grob geschätzt hat die Hälfte der Autos auf den Straßen niederländische Nummernschilder. Viele Läden und Straßen tragen niederländische Namen.

In Elten spricht man daher häufig von der 14 Jahre langen niederländischen Zeit (1949-1963) . Das erinnert mich an meine ursprüngliche Heimat Taiwan. Taiwan hatte eine holländische Zeit von 38 Jahren (1624-1662) und eine japanische Zeit von 50 Jahren (1895-1945). 2024 soll laut Medienberichten an die Holländische Regierung vor 400 Jahren in Tainan (Hauptstadt der Niederländer) in Südtaiwan erinnert werden. Als bestes Beispiel für die Architektur dieser Zeit dient die Festung in Tainan, die über ein Verwaltungsgebäude mit einem Wachturm und einigen Kanonen außerhalb verfügt. Im Gegensatz zu demjenigen der Niederlande ist heute immer noch ein deutlicher Einfluss aus japanischer Zeit zu sehen. Viele Häuser im japanischen Stil stehen heute unter Denkmalschutz. Viele andere werden renoviert und weiter genutzt. Neue Gebäude werden im japanischen Stil gebaut, besonders wenn sie als Urlaubsdomizil gedacht sind. Sprachlich und kulturell ist noch vieles japanisch. Im Bewusstsein mancher Bevölkerungsschichten ist das Japanische noch sehr präsent. Heutzutage sind japanische Touristen in Taiwan eine größere Gruppe, umgekehrt eben so. Beide Länder sind in vielen Bereichen eng miteinander verbunden.

Anders als Elten haben die Straßen oder Geschäfte in Taiwan kaum noch japanische Namen, es sei denn, es handelt sich um japanische Restaurants. Was Taiwan mit Elten gemeinsam hat, ist, die Tatsache, dass sowohl Taiwan als auch Elten ihren ehemaligen „ausländischen“ Verwaltungseinrichtungen positiv gegenüber stehen, obwohl allen in Taiwan bewusst ist, dass sie Kolonialmächte bzw. Besatzungsmächte waren.

Ich glaube, Elten wird mein letzter Wohnort in Deutschland sein, und hoffentlich auch meine Heimat. Elten hat das beste Potenzial, mich heimisch werden zu lassen. Natürlich hängt das auch davon ab, wie aktiv ich ins Leben hier eintauche, wie ich die Interaktion mit meiner Umgebung gestalte. Auf jeden Fall war das erste Jahr für mich sehr interessant, und die Urlaubsstimmung hält an. Das verdanke ich Frau R. K. und Herrn F. Als Eltener gibt mir Herr F. sein Wissen über seine Heimat weiter; als früher Zugezogene zeigt mir Frau R. K., was sie in Elten kennengelernt und von den Einheimischen gehört hat. Es ist ein Glück für mich, Menschen wie ihnen begegnet zu sein, denn sie haben wie andere fröhliche Menschen in Elten mein Einleben hier erleichtert. Eines Tages werde ich vielleicht Elten meine Heimat nennen können, wenn ich hier wirklich im Alltag angekommen bin.

Identität – Nicht – Identität

Zum Thema der Begegnung mit sich selbst und mit anderen

Zwei Teile

Heinrich Geiger, Eine Begegnung mit einem Menschen mit einem verstümmelten Namen

Er stammt aus einer Gegend, aus der auch eine andere mir bekannte Person stammt. Ob ihm zu Zeiten des „Ostblocks“ sein Name ebenso polnifiziert wurde? Wurden ihm einfach auch die letzten Buchstaben seines deutschen Nachnamens gestrichen, damit er zu einem der ihren, wenn auch mit einem verstümmelten Namen, in einer Region wurde, deren Zugehörigkeit immer wieder wechselte? Ich habe ihn nicht danach gefragt, weil in unserem Gespräch kein Platz dafür war. Vielmehr hörte ich ihm gebannt zu, wie er mir von seinen beruflichen Träumen, die alle nichts mit seiner derzeitigen Tätigkeit zu tun haben, erzählte. Eigentlich habe er Maler werden wollen, und, wie er mir nur wenige Minuten danach sagte, würde ihn das  Musikmachen faszinieren, und, wiederum ein paar Minuten später, berichtete er mir von seiner Leidenschaft für Fremdsprachen. Ostasiatische Sprachen hätten ihn schon immer interessiert. Zumindest mit seinem letzten Interessensschwerpunkt war er bei mir genau richtig. In seinen überbordenden Vorstellungen zeigte sich mir eine Verbundenheit mit der Welt, so als würde das Leben direkt durch ihn strömen, jenseits der apokalyptischen Zukunftsbilder und im festen Bewusstsein um eine Vergangenheit, die mehr ist als Imperialismus, Ausbeutung, Unterdrückung und Vernichtung.  

Am vergangenen Samstag, es war der 16. September 2023, bin ich also einem Menschen begegnet, den, wie ich mein Erlebnis in Worte fassen möchte,  die Sehnsucht nach dem  Nicht-Identischen leitet. Er will sich nicht nur mit Berufskollegen treffen, sich nicht nur in Kneipen setzen, in denen er unter seinesgleichen ist, sondern er will sich für eine Welt öffnen, die völlig anders als seine derzeitige ist. Wem ich da begegnet bin und was da passiert ist ? – das kann ich nicht genau sagen. Aber die Begegnung mit ihm hat für mich einen geheimen Reiz, wie das „Parliament of Ghosts“, das der ghanaische Künstler Ibrahim Mahama (geb. 1987 in Tamale, Ghana, wo er jetzt auch lebt und arbeitet) als einen experimentellen Raum erschuf, in dem verschiedene Formen der Vorstellung und der Theorie zugelassen sind. Mahama interessiert sich nicht für die Welt, wie sie ist, sondern für das, wie sie sein kann. Ihn treibt die Hoffnung an, aus den Ruinen der Vergangenheit ein „weiteres Versprechen für die Zukunft“ abzuleiten, „das noch viel größer ist als die Zukunft, die es (die Vergangenheit, Ergänzung durch Heinrich Geiger) einst darstellte.“  

Ist das Leben etwa ein Experiment der Kunst und die Kunst ein Experiment des Lebens, das mit einem Faktor ganz bestimmt rechnen muss: den Unzulänglichkeiten des Lebens? Daniel Beerstecher (weitere Infos über Daniel Beerstecher und seine Arbeit unter: www.danielbeerstecher.de) zeigt uns mit seinen „Marathon“-Läufen, dass die radikale Entschleunigung eine Möglichkeit ist, der Sinnhaftigkeit des Daseins und auch den Fragen nach der Nicht-Identität und der Identität nachzuspüren.  

Daniel Beerstecher, „Slow Walk“  

In einer Email vom 03.09.23, 20:48, schreibt Daniel Beerstecher:  

Liebe Freunde und Bekannte,
 
die erste Hälfte meines meditativen Slow-Walks ist geschafft! In den letzten vier Wochen habe ich pro Tag jeweils eine 400-Meter-Runde auf einer Tartan-Laufbahn zurückgelegt und im Durchschnitt zwischen 3 und 3 ½ Stunden dafür benötigt.
In dieser Rundmail möchte ich euch einen Einblick geben, was es mit einem macht, wenn man Tag für Tag seine Runde im meditativen Slow Walk dreht, vor allem, wenn es nicht so läuft, wie man es sich vorgestellt hat. Wie das Wetter Einfluss nimmt, welche Gedanken einem bei solch einem Projekt durch den Kopf gehen und einige kleine Anekdoten vom Rande der Laufbahn. Viel Spass beim Lesen!

Informationen zum Projekt findet ihr unter:   www.slowwalk.de  

Mein Fazit nach der ersten Hälfte:
Eigentlich wollte ich mit diesem Kunstprojekt durch das Sammeln von vielen Daten der KI metaphorisch das Meditieren erklären. Letzten Endes hat mich aber in den letzten Wochen die KI, bzw. die Technik und die äußeren Umstände das Meditieren gelehrt!
 
Wenn die KI und die Technik machen, was sie wollen:
Aus den Erfahrungen mit meinem Slow-Walk-Marathonprojekt Walk in Time, 2019, war mir bewusst, auf was ich mich mit diesem Projekt eingelassen habe. Deshalb wusste ich auch, dass ich körperlich und mental gut vorbereitet war und unter normalen Umständen keine allzu großen Schwierigkeiten mit den Anforderungen des Projekts haben sollte.
Womit ich allerdings weniger gerechnet hatte, waren die technischen Probleme der ersten Wochen, die den täglichen Slow Walk zu einer echten Herausforderung gemacht haben. Die Kameras haben mich nicht so getrackt, wie sie es eigentlich hätten tun sollen. In einigen seltenen Fällen sind sie einfach „fremdgegangen“. Wenn eine/r Läufer/in an mir vorbeigelaufen ist, hat sich die Kamera manchmal entschlossen, die schnellere Person in den Fokus zu nehmen und ihr zu folgen, um dann nach wenigen Metern durch die KI-gesteuerte Gesichtserkennung zu bemerken, dass sie der falschen Person folgt. Da war es allerdings schon zu spät, weil das Trackingsystem der Kameras mich schon aus dem Blickfeld verloren hat und dann das Bild irgendwo auf dem Fußballfeld oder der Laufbahn hängen geblieben ist. 
Als wir eine Lösung für dieses Problem gefunden haben, kamen die heißen Tage mit Temperaturen bis zu 33 Grad Celsius im Schatten. Ich habe die Temperaturen ganz gut weggesteckt, allerdings war die Technik dafür nicht ausgelegt. Die Internetverbindung ist immer wieder abgestürzt, Programme haben sich aufgehängt, die Daten wurden nur teilweise übertragen und aufgezeichnet, weil das Handy wegen Überhitzung abgeschaltet hat. Ein Access Point und ein Internet-Router mussten defekt ausgetauscht werden.    

Die Kunst der Meditation und das Akzeptieren von Hindernissen:
Für viele mag es unmöglich erscheinen, 3-4 Stunden in einem meditativen Slow Walk unterwegs zu sein. Um nicht zu verzweifeln oder gar verrückt zu werden, muss man lernen, aufkommende Gedanken zu beobachten und immer wieder loszulassen, den Fokus zurück auf die Atmung und das langsame Gehen zu lenken. Wenn zum Beispiel der Gedanke aufkommt, dass ich nach einer Stunde „nur“ 130 Meter geschafft habe und dann noch 270 Meter vor mir liegen, dazu ist es noch heiß, man ist müde und der Sonne voll ausgeliefert, dann kann ich diesen Gedanken einfach wieder loslassen, ohne daran zu verzweifeln, dass ich noch 2/3 der Strecke vor mir habe.
Schwierig wurde es jedoch für mich, wenn mir ständig durch den Kopf ging: Funktioniert die Technik noch? Haben die Kameras mich verloren? Was könnte das Problem sein? Wann hat der Techniker wieder Zeit, sich die Sache anzuschauen? Macht das Projekt überhaupt noch Sinn, wenn die Aufzeichnungen nur teilweise und fehlerhaft funktionieren? Wie lässt sich daraus später überhaupt noch ein ausstellbares Kunstwerk machen? Dazu das Wissen, dass das Budget eigentlich schon längst überzogen ist und für mich selbst nicht mehr viel übrig bleiben wird…
Fragen dieser Art, die einem dann durch den Kopf gehen, könnte ich noch endlos aufzählen. Ich hatte ja 3-4 Stunden Zeit, über solche Dinge nachzudenken, wütend zu sein, mich zu ärgern, Angst vor dem Scheitern zu haben, sowohl künstlerisch als auch körperlich. Solche Gedanken machen dann die Meditation unglaublich zäh und schwierig. 
In unserem Alltag versuchen wir, unangenehme Gedanken und Gefühle zu vermeiden, indem wir uns zum Beispiel mit dem Handy und sozialen Medien ablenken. Ein Gläschen Wein am Feierabend kann uns ebenfalls auf andere Gedanken bringen. Doch Umstände und Herausforderungen wie diese sind vielleicht auch der beste Lehrmeister, wenn wir uns ihnen stellen…
In der Meditation bleibt einem nichts anderes übrig, als sich seinen Gedanken zu stellen, sofern man nicht abbricht. Diese negativen Gedanken immer wieder zu bemerken, ohne sie zu bewerten, loszulassen, zur Atmung zurückzukehren und zu akzeptieren, dass nicht immer alles so läuft, wie man es sich vorgestellt hat, die Runde zu Ende zu bringen und sich dann erst Gedanken darüber zu machen, welche Schritte als nächstes gemacht werden müssen, um die Probleme zu beheben. Das musste ich in den letzten Wochen lernen und das war, bzw. ist nicht immer einfach! Aber ich habe ja auch noch ein paar Wochen Zeit, mich darin zu üben…
     
Temperaturunterschiede von knapp 20°C innerhalb weniger Tage.
Das Wetter kann man wohl in den letzten Wochen als sehr wechselhaft bezeichnen, vor allem, wenn man sich diesem konsequent ausgeliefert hat, wie ich. Besonders spürbar waren die Wetterwechsel am Ende der dritten Woche… Am Donnerstagnachmittag hatte es noch 33 Grad Celsius im Schatten, am Montag dann 15 Grad Celsius und Regen. Auch wenn mir die hohen Temperaturen zuvor am meisten Sorgen bereitet haben, ist es mir gelungen, gut damit klarzukommen. Ich habe mich mit Kleidung, Hut und Sonnenschutz gegen die direkte Sonnenstrahlung gewappnet, viel getrunken und wahrscheinlich in der Gehmeditation meine Körperfunktionen auf ein Minimum reduziert. Richtige Läufer, die bei solchen Temperaturen einen Marathon in der gleichen Zeit absolvieren, haben wahrscheinlich mit ganz anderen Herausforderungen zu kämpfen. Beim Slow Walk ist es, wie oben beschrieben, eher eine Kopfsache als eine körperliche Entbehrung.
Am Freitag nach dem heißesten Tag kam der Wind, der die Kameras an den Masten zum Zittern und Schwingen brachte. Da der Slow Walk auch eine Gleichgewichtsübung ist, hat mich die ein oder andere Windböe fast aus dem Gleichgewicht gebracht. Entgegengewirkt habe ich dem, indem ich mir vorgestellt habe, mich noch mehr mit dem Standbein auf der Tartanbahn zu verwurzeln, während ich das andere Bein in Slow-Motion-Bewegung nach vorne brachte. Es hat funktioniert! 
Am darauffolgenden Tag hat dann der Dauerregen eingesetzt. Kurz nach dem Start hat er begonnen und kurz vor dem Ziel geendet. Obwohl es mit ca. 21 Grad Celsius da noch nicht wirklich kalt war, bin ich ziemlich durchfroren über die Ziellinie gegangen. Der Körper war an das kühlere Wetter einfach noch nicht gewöhnt. 
Am Montag folgten dann 15 Grad Celsius und viel Regen. Allerdings war ich auf die folgenden kalten Tage besser vorbereitet. Mit langer Unterhose und sehr warmer Outdoor-Kleidung von Vaude ausgerüstet, konnte mir an diesem Tag auch die Kälte nichts anhaben, trotz des Temperatursturzes von knapp 20 Grad Celsius innerhalb von vier Tagen.    

Kleine Anekdoten vom Rand der Laufbahn:
An einem der ersten Tage des Projekts, als die technischen Probleme und erste körperliche Ermüdungserscheinungen sich breitgemacht hatten, fand ich nach dem Zieleinlauf die Zeichnung einer Sekretärin des Instituts für Sport und Bewegungswissenschaften neben meinem technischen Equipment. Daneben stand der Text: „Vielen Dank für Ihre Inspiration zum Entschleunigen“. Das hat mich in diesem Augenblick unglaublich berührt und mir neue Kraft gegeben, um nicht aufzugeben. 
Das Stadion wird von mehreren Platzwarten betreut, die sich um die Anlage kümmern, den Rasen mähen und die Aufsicht über die Sportanlagen haben. Sie sehen also täglich meine Slow-Walk-Performance. Wenn ich komme oder gehe, sitzen sie oft in ihrem Büro, das ich passiere, und wir tauschen noch ein paar freundliche Worte zum Wetter, dem Sportplatz oder meinem Slow-Walk aus. Einer von ihnen hat mir vor kurzem berichtet, dass er versucht hat, selbst einige Meter im Slow Walk zu gehen. Es ist ihm nicht wirklich gelungen. Er konnte das Gleichgewicht nicht halten und ist ins Schwanken gekommen. Bewundernd meinte er, dass ich sehr starke Beine haben muss, um über einen solchen langen Zeitraum immer mein Gleichgewicht zu halten. Ich habe ihm dann erklärt, dass es weniger mit Kraft, als mit Konzentration zu tun hat, ein guter Gleichgewichtsinn erfordert wenig Kraft. Die Schrittgeschwindigkeit passt sich der Atmung an, der Blick ist auf den Boden vor einem gerichtet. Dann hat er bemerkt, dass man für den Slow Walk im Kopf wohl dann ziemlich ruhig bleiben muss und das wohl die größte Herausforderung bei diesem Projekt ist…
Gespräche wie dieses erfreuen mich immer wieder, weil ich merke, dass mein täglicher Slow-Walk etwas mit den Leuten macht. Sie beginnen darüber nachzudenken. Leider bekomme ich es viel zu wenig mit.        
Einladung Heinrich Geiger: Eure Gedanken zum Thema „Slow Walk“ sind herzlich willkommen!

Gastbeitrag Thorsten Schirmer (Tuschmaler)

Meinen letzten Beitrag vor den Sommerferien hatte ich in der Hitze des Juni 2021 dem 1975 verschollenen Künstler Bas Jan Ader (geb. 1942) gewidmet, der ausgezogen war, das Wundern zu lernen. Ob er das Wunderbare gefunden hat, wird man nie erfahren. Bei dem Maler Thorsten Schirmer, der heute zu Wort kommt, ist die Situation schon klarer. Seine Tuschmalereien sind „wunderbar“, indem sie unser Auge durch ihre große Spontaneität bei gleichzeitiger technischer Perfektion beeindrucken. Bas Jan Ader hatte ich in meinem Text vom Juni 2021 mit einem Zitat aus Kierkegaards Abhandlung „Der Einzelne“ attestiert, dass es ihm gelungen sei, „durch vieljährige Anstrengung, Arbeit und Uneigennützigkeit nichts zu werden“. Thorsten Schirmer hat sich ebenso eine künstlerische Haltung erarbeitet, die im Sinne des Chan-Buddhismus aus dem „Nichts“ lebt – der Überwindung von allerlei Zwängen, die die menschliche Natur nun einmal mit sich bringt. Diese Haltung wird im Chan als Erleuchtung oder Erkenntnis bezeichnet.

Ich wünsche uns allen einen „erleuchteten“ Sommer.

Bonn, 03.07.2023                                                                           Heinrich Geiger

Zur Person des Autors

Thorsten Schirmer wurde 1969 in Hannover geboren. Er arbeitet seit 1984 im Stil der klassischen Chan-Malerei, die er sich rein autodidaktisch angeeignet hat. Auf das traditionelle Landschaftsthema im Chan-Stil der „Verschütteten Tusche“ spezialisiert, gestaltet er seine Werke nur mit den Fingern und schwarzer Tusche. Die auch in China sehr seltene Hinwendung zu diesen alten Ausdrucksformen und Maltechniken brachte ihm im Mutterland dieser Kunst hohe Anerkennung ein. Bereits mit 21 Jahren wurde er u. a. zum Gastdozenten der Pädagogischen Hochschule Anhui ernannt, seit 2013 ist er Professor der West Anhui Universität. Er veröffentlichte Forschungsarbeiten über die Frühphase der Chan-Malerei unter Li Gonglin (1049-1106) sowie die Landschaftsmalerei im Chan-Stil der „Verschütteten Tusche“ des chinesischen Mönchsmalers Yujian (13. Jhd.) und seiner japanischen Nachfolger. Seine Werke wurden in China, Japan, den USA und in Deutschland ausgestellt. Neben Fachartikeln verfasst er Bücher über die Maltradition Chinas und Japans, die dieser zugrunde liegenden Philosophie sowie den kulturellen Hintergrund. Thorsten Schirmer hat viele Kunstaustauschprojekte in Deutschland und China organisiert und ist Initiator der Partnerschaft zwischen der Region Hannover und der chinesischen Präfektur Luan. Zudem ist er Mitbegründer und Vorstand der „Akademie für west-östlichen Dialog der Kulturen“ mit Sitz in Nürnberg.#

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Die Tuschespur der Katze

Ein Deutscher auf dem Weg des Malens im Geiste des Chan-Buddhismus

Die Ausformung der Übungswege zählt zu den höchsten Leistungen der ostasiatischen Geisteswelt. Wenn auch zu allen Zeiten überall auf der Welt kreatives Schaffen unter dem Einfluss philosophischer und religiöser Strömungen stand, von diesen befruchtet oder sogar unmittelbar initiiert wurde, so ist es dennoch einzig im Kulturkreis Ostasiens zu einer vollwertigen Anerkennung des Schöpferischen als eigenes Konzept zur geistigen Vertiefung und Erkenntnissuche gekommen. Der Weg des Malens im Geiste des Chan-Buddhismus ist dafür eines der herausragenden Beispiele, dessen Spuren sich bis in das 11. Jahrhundert zurückverfolgen lassen.

So sehr uns diese Überlieferung heute aufgrund ihrer geradezu modern anmutenden Bildsprache und geistigen Tiefe anzieht, so selten findet eine praktische Annäherung von westlicher Seite aus statt. Einen solchen Versuch unternimmt seit 2019 der deutsche Künstler Jan-Michael Ehrhardt, Jahrgang 1964, unter meiner Anleitung. Er entdeckte als Jugendlicher sein Talent zur Malerei, das ihm über die schwierige Zeit der persönlichen Entwicklung hinweghalf. Diese frühe Selbsterfahrung mit den heilenden und persönlichkeitsentwickelnden Eigenschaften der Malerei motivierte ihn, nach Abschluss der Schulzeit ein Studium der Kunsttherapie zu absolvieren. Anschließend arbeitete er zunächst fünf Jahre als Kunsttherapeut und begann zudem, regelmäßig Zuochan, eine Kontemplationsübung des Chan, zu üben. Schließlich fasste er den Entschluss, aus seinem bürgerlichen Lebensweg auszusteigen, um sich in das Intersein-Zentrum zurückzuziehen, einer Chan-Gemeinschaft in der Linie des weltberühmten vietnamesischen Meisters Thich Nhat Hanhs (1926-2022), der ihm 2012 die Lehrerlaubnis erteilte.

Es sind jene zentrale Fragen des Daseins, die uns Menschen über alle Grenzen von Raum und Zeit hinweg verbinden. Was ist das Ich? Was geschieht nach dem Tod? Niemand ist je mit gesundem Verstand in diese Welt geboren worden, der sich nicht diese beiden existenziellen Fragen gestellt hätte. So löste sich auch dereinst ein nordindischer Fürstensohn mit Namen Siddhartha Gautama vor rund 2.500 Jahren aus der Gemeinschaft seiner Familie und des Hofstaates, um einsam suchend sein Daseinsleid zu überwinden. Also machte er sich auf in die Wälder und übte Askese, um dieses leidende Ich abzutöten. Nach verzehrenden Jahren der ergebnislosen Entbehrung musste er sich jedoch schließlich eingestehen, dass dies ein Irrweg war. Schließlich entschloss er sich dazu, der Entsagung zu entsagen, Körper und Geist fortan mit Maß und Bedacht zu pflegen, um in der stillen Versenkung das zu erkennen, was er hinter dem Scheinbild seines Ichkonzeptes erahnte: Die Leerheit aller Form und Individualität, das schöpferische Nichts der universellen Einheit, die große Befreiung des Nirwana.  Nachdem ihm dies gemäß der Überlieferung ebenso plötzlich wie unwiderruflich gelang, wählte er den Weg zurück in die Gemeinschaft, um seine Lehre vom Rad des Lebens und der Erlösung den Menschen zu vermitteln, die ihn fortan ob seiner Erkenntnis „den Erwachten“, d.h. den Buddha, nannten. Unter den ihm nachfolgenden Schulen des Buddhismus war es besonders die Dhyana-Lehre, deren Anhänger sich der Versenkungsübung Buddhas ganz und gar verpflichtet fühlten. Aus ihr entstand schließlich der Chan-Buddhismus, den wir im Westen besser unter seiner japanischen Lesart „Zen“ kennen. Der chinesische Begriff „Chan“ leitet sich als verkürzte phonetische Wiedergabe von jenem Sanskritwort „Dhyana“ (wörtl. „Versenkung“) ab.

Die Tatsache, dass die hier vorgestellte Vermittlung der Chan-Malerei zwischen zwei Menschen des Okzidents stattfindet, mag Fragen aufwerfen. Ist dies überhaupt möglich, da keiner von beiden in diesen fernen und für den Westen so rätselhaften Kulturkreis hineingeboren wurde? Ist nicht die Überlieferung aus erster Hand unabdingbar notwendig, um sich ihm auf dem Wege künstlerischer Praxis erfolgreich zu nähern? Diesen zweifellos berechtigten Fragen stehen aber zugleich auch andere gegenüber: Welche Chancen ergeben sich aus einer distanzierteren Betrachtung des ostasiatischen Erbes unter Einbeziehung unserer westlichen Kunstauffassung? Vermag unsere moderne, globalisierte Welt reif für einen emanzipierten Umgang mit dem kulturellen Erbe der Menschheit sein, ohne dass Trennendes zwischen den Kulturkreisen zum unüberwindlichen Hindernis wird?

Die Malerei des Chan-Buddhismus schöpft ihr Selbstverständnis aus der Überzeugung des Chan, dass neben seiner Hauptübung der stillen Kontemplation im Sitzen praktisch jede wiederholbare Tätigkeit einen Weg zur Erkenntnis im Geiste des Buddha ebnen kann, sofern sie mit einer entsprechenden Einstellung geübt wird. Ganz gleich ob es sich um die Arbeit im Klostergarten, das Reinigen der Räume oder das Zubereiten der Mahlzeiten handelt, der Klosteralltag eines Chan-Mönchs ist ein einziges, erweitertes Feld der Übung. Neben den Tätigkeiten des täglichen Lebens entdeckte der Chan aber noch weitere Übungen für sich. Es waren in seiner Frühphase zunächst die von Chan-Mönchen des chinesischen Shaolin-Klosters entwickelten Kampfkünste, gefolgt von den friedlichen Künsten der Musik, Kalligraphie und Malerei.

So unterschiedlich die Übungen im Einzelnen auch sein mögen, eint sie doch eine wesentliche Eigenschaft. Sie alle haben das Potenzial zur lebenslangen Verfeinerung, was eine elementare Voraussetzung dafür ist, sich mittels der unendlichen Wiederholung einer Tätigkeit kontinuierlich geistig entwickeln zu können. Freiwillige Beschränkung auf eine bestimmte Form der Übung engt somit den Erfahrungshorizont keineswegs ein, sondern öffnet ihn nach traditioneller Überzeugung erst zu universaler Weite. Auf den Weg des Malens bezogen, bedeutet dies, dass sich der Übende zumeist auf ein einziges Sujet konzentriert, in das er sich lebenslang vertieft.

Entsprechend stand für Jan-Michael Ehrhardt am Anfang seines Übungswegs die Suche nach einem geeigneten Sujet.  Die Frage beantwortete sich aus seiner Begeisterung für Katzen, die ihn seit seiner Kindheit begleiten. Ferner galt es, die der Persönlichkeit des Schülers entsprechende Maltechnik sowie die dafür am besten geeigneten Malmittel zu finden. Traditionell sind diese Papier, Tusche, Reibstein und Pinsel. Sie werden auch als die „Vier Schätze“ verehrt, wobei bezeichnenderweise nur die reinschwarze Tusche gemeint ist, die auch zur Kalligraphie genutzt wird. Der Verzicht auf Farbe erklärt sich aus der kontemplativen Grundhaltung der Chan-Malerei. Jede Farbe entfaltet eine eigene emotionale Wirkung, was dem Ziel dieser Kunst eher entgegenwirkt. So bleiben die meisten Werke monochrom im neutralen Tonspektrum der schwarzen Tusche mit ihren Abstufungen bis hin zum lichtesten Grau.

Rund vier Jahre der Übung und Unterweisung sind für ihn mittlerweile ins Land gegangen – eine kurze Strecke auf dem Weg des Malens und dennoch erfüllt vom Wesentlichen des Weges. Das Rüstzeug übergeben, die ersten Schritte sorgsam begleitet, das Ziel so genau umschrieben, wie es aufgrund seiner Unbeschreibbarkeit eben möglich ist, hat der Wanderer in dieser Zeit einige beachtliche Etappen hinter sich gebracht. Was keine Unterweisung vermitteln kann, musste er dabei aus sich selbst schöpfen: Den Mut, sich ins Unbekannte zu wagen, die Disziplin, stetig voranzuschreiten, die Energie, auch lange Durstrecken zu überwinden, das Selbstvertrauen, auf seine innere Stimme zu hören, die Sensibilität, aus der stillen Betrachtung des Äußeren Inspiration für die Bildwerdung des Inneren zu schöpfen, die Sehnsucht nach der Wahrheit und schließlich die Liebe zur Übung, derer es unabdingbar bedarf, um den Weg nicht zu verlieren.

Die Liste der Voraussetzungen für einen Schüler auf dem Weg des Malens ließe sich fortschreiben; so lang sie sein mag, so kurz ist jene, mit der sich des Lehrers Eigenschaften zusammenfassen lassen: Erfahrung und Einsicht, ohne die eine Vermittlung des Weges undenkbar wäre, Güte, ohne die man das Herz des Schülers nicht erreicht, sowie Anspruch, ohne den kein Lehrer je einen Schüler erfolgreich entwickelt hätte. Dies zu verstehen, bedeutet zugleich, das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler umzukehren. Nicht der Lehrer ist es, der überragt. Überragend muss der Schüler sein, um all die vielen Eigenschaften in sich zu vereinen, derer es bedarf, den Weg des Malens zu meistern. Der Lehrer ist nicht mehr als ein bescheidener Wegweiser. Ihm bleibt nur die stille Hoffnung, sich zur rechten Zeit am Weg zu positionieren und vom vorbeiziehenden Schüler wahrgenommen zu werden. Dabei hilft es wenig, dem Schüler die notwendige Aufmerksamkeit abzuringen. Was der Schüler nicht zu erkennen vermag, wird seinen Weg nicht lenken, selbst wenn man es ihm direkt vor Augen zu führen meint. Kongzi hat dies vor rund 2.500 Jahren so umschrieben:

„Wer nicht strebend sich bemüht, dem helfe ich nicht voran, wer nicht nach dem Ausdruck ringt, dem eröffne ich mich nicht. Wenn ich eine Ecke zeige, und er kann es nicht auf die anderen drei übertragen, so wiederhole ich nicht.“ (Lun Yü, Buch VII, Vers 8)

Das Glück des Lehrenden liegt darin, den rechten Schüler zu finden. Wohl mag der Schüler vielleicht imstande sein, aufgrund hervorragender Eigenschaften den Weg auch ohne Lehrer erfolgreich zu gehen, niemals hingegen vermag der Lehrer, ohne einen fähigen Schüler erfolgreich zu lehren. So dienen schließlich beide einander, sich auf dem Weg des Chan zu verwirklichen.