„Querfeldein, querwaldein, querbuschein, querwortein“ – auf diese Weise beschreibt Peter Handke 2011 in seinem Tagebuch den Beruf des Schriftstellers als eine Art Pfadfindertum. Mit seinen Aufzeichnungen führt er uns in eine Sphäre, in der das von ihm so bezeichnete „Ideal der Ideale“: die „Empfänglichkeit“ vorherrscht. Was geschieht, wenn wir das Verhältnis, das wir spazierend zu uns selbst und unserer Umgebung eingehen, in Worte fassen, mit Bildern festhalten und somit ästhetisch gestalten? Vielleicht spielen wir ja nur, bis der Tod uns holt, wie der Dada-Künstler Kurt Schwitters sagt? Und vielleicht tun wir das so selbstvergessen, weil wir hoffen, dem Tod zu entgehen? Was Peter Handke anbelangt, so sieht er das Göttliche nicht im Jenseits, sondern im Hiesigen, in der Natur und natürlich auch in den Dichtern. In diesem Punkt stimmt er mit den Grundannahmen des Buchs Zhuangzi, eines Klassikers der daoistischen Literatur, überein. In dem nach ihm benannten Werk tritt Zhuangzi als ein Gehender auf, der die endlose Kette der Abhängigkeiten durchbricht und sich von den Verhärtungen des Alltagsgeistes befreit. Im Gehen entledigt er sich allen instrumentellen Wissens, das dem Menschen zwar den Zugriff auf die Natur ermöglicht, letztendlich aber auch ursächlich für deren Zerstörung und so manche Sozialpathologien ist. Zhuangzi begegnet überall Sinn, da er nicht in die Absurditäten des Daseins verstrickt ist. Er bewegt sich in einer Wirklichkeit, mit der er auf vielfältige Weise korrespondiert. Indem er mit sprachlichen Mitteln die Wahrnehmung formt, erschließt er sich und seinen Lesern den Zugang zum „so“ dessen, was als „Weg“ bezeichnet wird und spontan geschieht. Im Beschreiten des Wegs gibt Zhuangzi genau das auf, was zu wandern scheint und dabei ins Schwitzen gerät: das eigene Ich mit seinen zwei Beinen und einem Sack voller Gedanken. Wenn der Mensch in Übereinstimmung mit dem „Weg“ wandert, wandert die Natur selbst. Selbstvergessenheit, die seismographischer Natur ist. Handke notiert 2015 in sein Tagebuch: „Keine Begeisterung ohne Moment von Erschütterung“.
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Lieber Heinrich,
Du schreibst: „Wenn der Mensch in Übereinstimmung mit dem „Weg“ wandert, wandert die Natur selbst.“ Ja, so etwas hört man oft von Freunden des Taoismus. Es klingt so schön und überzeugend. Aber ich habe da meine Bedenken. Denn mir scheint, es klingt nach einer Lösung, die oft keine ist. Was ist denn der „Weg“? Und ist die Natur immer gut? Der eine sagt, er tue etwas nach dem „Weg.“ Der andere tut das Gegenteil und behauptet ebenso, er täte es nach dem „Weg.“ Wer hat nun recht? Beide? Immer? Was sind die Kriterien? Ein langes Leben? Glücksgefühle? Zustimmung vieler? Das reicht eben nicht. Manchmal steht man vor einer schwierigen Entscheidung und fragt sich, was denn nun der „Weg“ sei. Wo sind die Kriterien bei Zhuangzi? Soll man die Würfel werfen? Von Chad Hansen gibt es die provozierende Bemerkung zu Zhuangzis Relativismus: „All it says is ‚Hitler happened‘.“ Ich habe das Problem in mehreren Aufsätze angesprochen. Wenn die „Natur selbst“ wandert, ist das dann gut? Wir würden wohl nicht sagen, dass alles was nach darwinistisch-natürlichen Prinzipien geschieht, automatisch gut sei. Aber wo sollte man gegen diese Prinzipien einschreiten? Und ist „Spontaneität“ immer gut? Ist „Selbstvergessenheit“ immer gut? Manchmal schon, aber eben nicht immer, und das ist das Problem. Wie gesagt, die Rede „Wenn der Mensch in Übereinstimmung mit dem „Weg“ wandert, wandert die Natur selbst“ suggeriert eine Lösung, die keine ist, solange man keine Kriterien für den „Weg“ und die „Natur“ angibt. Beim Lesen dieses Satzes hat man leicht die schönen Fälle vor Augen. Aber es gibt eben auch die schlechten Fälle. Der Weg und die Natur des Diebes, der geschickte Dieb, etc. Man macht sich da leicht etwas vor. Wenn man die Kriterien versucht anzugeben, beginnt die eigentliche Arbeit. Zhuangzi endet da, wo die Arbeit beginnt.
Lieber Christian, mit Deinem Einwand legst Du den Finger auf eine dünne, fadenscheinige Stelle in meinen Betrachtungen, die, wie Du sehr richtig vermerkst, zu den Allgemeinplätzen von Freunden des Daoismus gehört. Ich bewege mich in gehöriger Distanz zu dieser Gruppe, habe mich aber in diesem Fall – der Spaziergänger schreitet auf manchen Wegen zu leichtfertig voran – an ihrer Argumentationslinie entlang gehangelt. Schön, dass wir uns gemeinsam durch die Welt bewegen und uns so immer wieder zu kritischen Punkten austauschen können.
Ja, ich habe mit den Begriffen der „Selbstvergessenheit“ und der „Spontaneität“ die Bestandteile einer Art Sonntagsrede aufgegriffen, auf die ja (zumindest früher, als die Menschen noch in die Kirche gingen) der fette Mittagsbraten und dann der Sonntagsspaziergang folgte – womit wir, ausgehend vom Stichwort des „Sonntagsspazierganges“, wieder bei unserem Thema der „Ästhetischen Spaziergänge“ wären. Wie meine vorgehenden Blogbeiträge gezeigt haben, verstehe ich den Spaziergang als einen „Erkenntnis-„gang““, der einem „existentiellen Ernst“ folgt und dabei das „freie Spiel des Ungleichwertigen und Wert-Losen“ ermöglicht. Ich habe auch von einer „ästhetischen Demokratie“ gesprochen. Vor diesem Hintergrund sind Deine Einwände Gold wert. Denn sie zwingen mich zu einer Klarstellung, was ich u.a. unter „Selbstvergessenheit“ verstehe. Darunter verstehe ich das in meinem Text zitierte „Ideal der Ideale“ Peter Handkes: die „Empfänglichkeit“, die in meinem Fall auch all das einschließt, was für den Sonntagsredner nicht sein darf: denn er redet es sofort, auf der Stelle, mit schönen Worten von der Kanzel hinweg. Ich will nichts wegreden, sondern es vielmehr spazierend in den Blick bekommen und ihm, wenn es der Weg zulässt, nachgehen. Deswegen schließt „Empfänglichkeit“ meiner Meinung nach gerade auch das mit ein, was das Selbst aus seiner Selbstvergessenheit reißt. Die von mir angeführte „Erschütterung“ gehört dazu.
In meinem Text habe ich, mit Blick auf das Thema des Spaziergangs, Kurt Schwitters erwähnt, der von einem Spiel spricht, das wir solange spielen, bis der Tod uns holt. Ich spiele auf meinen Spaziergängen nur eingeschränkt Natürlich spiele ich, während ich zum Beispiel durch einen Park spaziere: ich spiele mit meinen Beobachtungen, ich spiele mit meinen Gedanken. Das Spiel hat aber für mich ein Ende, sobald ich mir selbst als das endliche, sterbliche Wesen, das ich bin, in den Blick komme. Und dieser Wahrnehmung versuche ich nicht zu entkommen. Ganz im Gegenteil, versuche ich mich ihr zu stellen – weshalb es für mich überhaupt nicht zulässig ist, die Diskussion um das Selbst und dessen Bedingtheit mit den Begriffen der „Selbstvergessenheit“ und der „Spontaneität“ gerade an dem Punkt abzuwürgen, an dem sie eigentlich beginnen müsste.
Für die Darlegung meiner eigenen Position ist es enorm hilfreich, Zhuangzi mit Peter Handke ins Gespräch zu bringen. Ich gehe auf eine Notiz in seinem Tagebuch am 13. November 2015 ein, dem Tag der Attentate von Paris mit mehr als 130 Toten. Handke ist gerade in der Picardie und beschreibt „jetzt das ferne Grollen vom Wind hoch oben in den längst blattlosen schwarzen Wipfelruten der Buchen, als das Grollen des Hilflosen Gottes gegen die Schöpfungsmordbuben“.
Was bedeutet nun also „Selbstvergessenheit“ für mich: Das eigene „kleine Ich“ zum Schweigen und das „große Ich“ zum Sprechen kommen zu lassen. Letzteres ist nicht nur für Sonntagsreden und den darauf folgenden Braten „empfänglich“. Es antwortet „spontan“ (d.h. unverstellt, unmittelbar) auf all das, was ihm spazierend begegnet. „Selbstvergessenheit“ definiert sich meiner Meinung nach durch sehende, einfühlende und intellektuelle Anteilnahme. „Selbstvergessenheit“, die Hinwendung zu sich selbst wie auch zur Welt – sie gehören zusammen, insofern sie unverstellt durch windelweiche Schönrednerei erfolgen. Sehen, Einfühlen, Denken, das alles gehört zur „Selbstvergessenheit“ dazu. Ist das die „Arbeit“, von der Du sprichst?
Heinrich