Ich freue mich sehr über den Beitrag von Matthias Drescher. Er trägt die Überschrift „China als Laie“, was der Intention meines Blogs in mehrerer Hinsicht entspricht. Denn die Beschäftigung mit China sollte nicht auf Chinesen selbst oder Sinologen beschränkt sein. Siehe dazu das Interview mit mir „“ Was China gehört, gehört auch der Welt.“ Das ist der Ausgangspunkt meiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit China“ („Zhongguo de ye shi shijie de“, zhe shi wo yanjiu zhongguo de qierudian, 中国的也是世界的,这是我研究中国的切入点 ),in: Interviewaufzeichnungen mit Chinawissenschaftlern aus Deutschland und Österreich (De ao zhongguo xuejia fangtan lu 德奥中国学家访谈录) xia 下 (Zweiter Band), Xiang Jiagu 项佳谷, Shi Zhiyu 石之瑜, Wen Xu 文旭, Tang Lei 唐磊 bian 编 (Hrsg.),北京: 中国社会科学出版社 (国外中国学研究丛书,何培忠, 唐磊 主编), 2020, S. 17-33.
Matthias Drescher spitzt meine Aussage “ Was China gehört, gehört auch der Welt“ zu. Er sagt: „Wir brauchen China, um uns selbst zu verstehen.“ Sein besonderes Interesse gilt der Literatur, Geschichte, Philosophie und, seit vielen Jahren, China. Geboren 1959 in Mendrisio (Schweiz), wuchs er in Italien auf. Nach dem Besuch der Europäischen Schule Varese, studierte er ein Semester Germanistik in Zürich (1977), dann 5 Jahre BWL (2 Jahre in Barcelona, je ein halbes Jahr in Paris und London, zwei Jahre in Oestrich-Winkel). Von 1983 bis 1985 Philosophie- und Geschichtsstudium in München. Beruflich war er ab 1985 im Bankgeschäft (Frankfurt, Düsseldorf, seit 1991 Berlin) tätig, seit 2014 ist er Partner der DUKAP Deutsche Unternehmenskapital GmbH, Berlin.
Ein Buch bisher: „Die Zukunft unserer Moral – Wie die Nächstenliebe entstanden ist und wieso sie den Glauben überlebt“ (Tectum 2019), nächstes Jahr erscheint „Bilder, die ins Vergessen führen – Wenn China uns folgt, geht das Erinnern verloren“ (PalmArtPress).
China als Laie
Spaziergänge sind zum Kontemplieren und Sinnieren da und dürfen allenfalls freundlich überraschen. Ich muß nicht jeden Winkel kennen, will dem Weg jedoch vertrauen, auch wenn er weitab verläuft. Deshalb ist dieser Blog so besonders: Er zeigt, daß wir in China spazieren können – und zwar auch Nicht-Chinakenner, wenn sie das nötige Vertrauen entwickeln.
Meines entstand recht unvermittelt: bei der Beschreibung tang-zeitlicher Beamten-Karrieren, in „Die chinesische Welt“, von Jacques Gernet. Hohe Beamte wurden in landesweiten Examina ausgewählt und im gesamten Reich eingesetzt. Sie mußten die klassischen Schriften beherrschen und ad hoc dichten können. Viele freundeten sich untereinander an, korrespondierten lebenslang und schickten sich ihre Gedichte und Bilder. Den Ruhestand verbrachte ein Literat in ländlicher Idylle, um Musik, Kalligraphie, Dichtung und Malerei zu betreiben. Was dabei entstand, war nur für Kenner gedacht und wurde mit Bedacht vorgezeigt oder verschenkt. Heute ist es der Inbegriff altchinesischer Kunst.
Auch wenn die Praxis differenzierter war – mich hat vor allem das Grundmuster fasziniert und für die Gesamtkultur eingenommen: Gebildete Chinesen machten ihre Kunst selbst. Malerei, Gedichte und Musik waren nicht das Privileg spezialisierter „Künstler“, sondern wichtige Ausdrucksmittel und wesentlich für den Austausch mit Freunden. Selbst für seine Karriere im wirklichen Leben mußte ein Beamter dichten können.
Das alte China hat gezeigt, daß Kunst anders stattfinden kann als wir es gewohnt sind. Auch Laien sind künstlerisch offenbar mündig. Sie brauchen nicht stumm zu bleiben, und wer früh genug übt, kann feinsinnig artikulieren. Darüber hinaus wird er die Werke der anderen besser verstehen.
Sicherlich ist das Literatenideal nur ein Aspekt der chinesischen Kultur und beruhte zudem auf komplexen Traditionen. Gerade deshalb hilft es aber, diese zu erfassen. Und obwohl Ost- und Westkunst verschiedene Wurzeln haben und die Kreativität bei uns so wichtig ist – das Selbstverständnis, mit dem ein chinesischer Beamter malte oder dichtete, bleibt bestechend. Es kann unser eigenes Leben inspirieren und zugleich das Vertrauen fördern, das wir im Umgang mit China so dringend brauchen.