Wissen und Wahrheit ändern sich zwangsläufig, je nach dem Herrschaftssystem, dem sie unterliegen. U.a. am Beispiel Russlands, aber auch vieler anderer Länder lässt sich dies mehr als deutlich ersehen.
Das Denken soll ins Offene führen, ebenso wie der Weg des Gehenden ins Offene führt. Es soll sich im Erleben und Handeln erschließen und unsere Existenz wesentlich betreffen. Wie dies im Kontext der chinesischen Kulturgeschichte aussehen könnte, will ich im Rückbezug auf den Gastbeitrag von Matthis Drescher darlegen (siehe den letzten Blogtext und den Kommentar von Markus Simon). Die von Drescher zitierte Zusammenkunft am Orchideenpavillon fand im Jahr 353 unserer Zeitrechnung statt und wurde mit einem berühmten Werk der chinesischen Schriftkunst, dem Prolog zur Zusammenkunft am Orchideenpavillon (lanting xu), verewigt. Das Original ging schon bald verloren. Es blieb allerdings in zahlreichen Nachschriften und Steinabreibungen erhalten und diente so späteren Generationen von Malern und Kalligrafen als anschauliche Vorlage zum Studium eines vorbildlichen Beispiels des kursiven Kalligrafie-Stils, der Schreibschrift xingshu. Die Verehrung der Kalligrafie Wang Xizhis王羲之 (307-361 n.Chr.), der den Prolog niedergeschrieben hatte, durch den Tang-Kaiser Tai Zong (regierte von 626 bis 649 n.Chr.), ging der Sage nach so weit, dass er dieses Werk, das von ihm in den Range eines klassischen Ideals erhoben worden war, mit in sein Grab nahm. Dort lebt es, tief verborgen, als Mythos fort.
Die Kopien des Lanting xu wurden zum Gegenstand für das reine Denken und Fühlen, womit wir aus chinesischer Perspektive zwei mögliche Synonyme für den Begriff der „Erinnerung“ haben. Sich zu erinnern, heißt, losgelöst von den Zwängen der Gegenwart, rein zu denken und zu fühlen. Darüber hinaus übermittelt der Prolog zur Zusammenkunft am Orchideenpavillon (lanting xu) über die Jahrhunderte hinweg die Botschaft, dass Trauer und Melancholie kein Zeichen von Schwäche sind, wie es unsere moderne Sicht auf die Gefühlswelt des Menschen nahelegt. Diese muss nicht immer „positiv“ sein. An den Gefühlen der Trauer und Melancholie zeigt sich vielmehr, dass das menschliche Verhältnis zur Welt nicht zwangsläufig auf einer unerschütterlichen Gewissheit um die eigene Kultur und das eigene Leben beruht, sondern ebenso aus der Irritation und dem Zweifel an beiden hervorgehen kann: der eigenen Kultur und dem eigenen Leben.
Viel bedeutsamer als die Lehren des „positiv thinking“ ist, dass sich bei diesem Zusammensein die Menschen in Übereinstimmung mit dem Wirken der Natur (natura naturans) im freien Umgang mit den Wörtern und Zeichen und ihren Bedeutungen ergehen. Was in der Natur die Reinheit der Luft und das Wohltuende des Windes sind, das sind in der kultivierten Runde die Reinheit des Gedankens und das Wohltuende des Ausdrucks. Die Anwesenden geben sich den Eindrücken der sie umgebenden Naturlandschaft hin sowie gleichzeitig ihren Gefühlen, die sie aus der Anschauung der Dinge und dem geselligen Miteinander beziehen. Daraus entsteht in der Runde eine ganz eigene Wirklichkeit, die neben die „wirkliche“ Wirklichkeit tritt. Es werden mögliche Welten erfühlt, wobei das Mögliche zum Wirklichen im tieferen Sinn wird. Und dessen sind sich die Anwesenden bewusst – voller Melancholie und voller Trauer, weil sie im vollen Bewusstsein um die Vergänglichkeit der Zusammenkunft am Orchideenpavillon den Augenblick erleben.