Oft wird Taiwan als kohärente Einheit gegenüber Festland China betrachtet. Allerdings fehlt es an einer solchen Kohärenz. Wie noch bei wenigen Reisen zuvor, habe ich bei meinem Taiwanaufenthalt im Frühjahr des Jahres gespürt, dass es ein universales Recht gibt, von dem wenig gesprochen wird: das Recht auf Verschiedenheit von und vor allen vorgefertigten kulturellen und politischen Zuschreibungen. Wobei dieses Recht nicht nur für Staaten, sondern auch für einzelne Bevölkerungsgruppen gelten sollte.
Im Alltagsleben Taiwans ist allenthalben die japanische Prägung spürbar. Die fünzigjährige japanische Kolonialherrschaft hat bleibende Spuren hinterlassen. Ein kurzer Blick zurück: Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Taiwan durch die Kolonialherrschaft Japans modernisiert und japanisiert. Jeder Taiwaner musste die japanische Schrift und Sprache lernen und den Treueschwur auf den japanischen Kaiser leisten, was bedeutete, ein Japaner zu werden. Im Straßenbild sind nach wie vor die baulichen Zeugnisse der japanischen Herrschaft zu erkennen. Nach der Kapitulation Japans im August 1945 wurde Taiwan der vom Bürgerkrieg zerrissenen chinesischen Republik überantwortet. Von der Entwicklung, die danach das chinesische Festland nahm, unterschied es sich dadurch, dass ihr Ausgangspunkt keine „Befreiung“ durch eine revolutionäre Bewegung (in diesem Fall die Kommunistische Partei Chinas) war. Die alteingesessenen Taiwaner haben keine Erfahrungen im Kampf gegen Japan im Zweiten Weltkrieg gemacht. Ebenso fehlen ihnen die Fluchterlebnisse. Das erzeugte und erzeugt auch heute noch Unverständnis zwischen den Bevölkerungsgruppen und führte zu einer Spaltung der politischen Erwartungen und Orientierungen im Blick auf die Zukunft des Landes, nämlich Wiedervereinigung mit China einerseits und Unabhängigkeit von China andererseits.
Von der Volksrepublik China unterscheidet sich Taiwan auch dadurch, dass es erfolgreich den Übergang von einem autoritären Regime zum demokratischen Rechtsstaat meisterte. Erste Schritte waren bereits unter Tschiang Tsching-kuo (Chiang Ching-kuo, Jiang Jingguo), dem Sohn Tschiang Kai-scheks (Chiang Kai-shek, Jiang Jieshi), eingeleitet worden. Unter Lee Teng-hui, der nach dessen Tod im Jahr 1988 Präsident wurde, machte der Inselstaat Taiwan, der sich nach wie vor als die 1912 von Sun Yat-sen gegründete Republik China versteht, den tiefgreifendsten Wandel in seiner Geschichte durch. Nachdem die USA unter Präsident Carter in der Anerkennung Chinas die Seiten gewechselt hatten, musste die taiwanesische Elite erkennen, dass zur Wahrung eines soliden Restbestands an amerikanischer Unterstützung das alte, autoritäre Regime nicht mehr taugte. Lee Teng-hui, der 1996 als erstes Staatsoberhaupt in der chinesischen Geschichte demokratisch gewählt wurde, brachte den Umschwung, wobei nicht nur Taktik, sondern auch Überzeugung im Spiel war. Für Lee „ist Demokratie universal“. Die Reife der Demokratie in Taiwan wurde im Jahr 2000 durch die Präsidentschaftswahlen, die zur Ablösung von Lee Teng-hui führten, auf eine beeindruckende Weise unter Beweis gestellt.
Auch in Taiwan stellt sich natürlich die Frage, wer „das Volk“ ist? Wer entscheidet über den „selbstbestimmten Weg“, seine Inhalte, seine Ziele? Und, was geschieht mit den Gegnern dieses Weges? Zu beobachten ist auf jeden Fall, dass in Taiwan sehr unterschiedliche kulturelle Gedächtnisse miteinander konkurrieren. Dies lässt sich historisch folgendermaßen einordnen: Nach der Aufhebung des Ausnahmezustandes im Jahr 1987 begannen die alteingesessenen Taiwaner ihre eigene Identität zu suchen. Ein Beispiel. Im Jahre 1996 beauftragte das Kultusministerium den damaligen Vorsitzenden des „Institute of History and Philology Academia Sinica“ mit der Leitung des Redaktionsauschusses der Geschichtsbücher für den gymnasialen bzw. High School-Unterricht. Dieser kritisierte an der bisherigen Ausrichtung der Geschichtsbücher zwei Punkte: den Mangel an taiwanesischer Geschichte und die sterotype Vereinfachung bzw. Vereinheitlichung der chinesischen Geschichte. Seinem Vorschlag zufolge sollte Taiwan im Zentrum des Interesses stehen. Tu, so hieß der Leiter des Redaktionsauschusses, orientierte sich an einer Vorstellung von Taiwan als einer Bühne der menschlichen Aktivität, auf der alle ethnischen Gruppen auftreten. Ausgehend von dem Gedanken einer regionalen statt nationalen Geschichtsschreibung gliederte er den Geschichtsunterricht in fünf Schritte: zunächst die taiwanesische Geschichte von den Urvölkern bis zur Gegenwart, dann die chinesische Geschichte, danach die der südost- und nordasiatischen Nachbarstaaten Taiwans und schließlich die europäische Geschichte und die Geschichte der restlichen Staaten. Eine heftige Diskussion entbrannte. Um diese sich schnell politisierende Diskussion zu beenden, entschied schließlich das Kultusministerium, den Redaktionsausschuss aufzulösen. Grundgedanke: Ein Feuer kann schnell zu einem Flächenbrand werden, wenn es auf dem trockenen Boden des Nationalismus entzündet wird.
Folgt man Christopher Hughes, dessen Buch Taiwan and Chinese Nationalism: National Identity and Status in International Society im Jahr 1997 (London, New York: Routledge) erschien, dann war die Demokratisierungspolitik Lee Teng-huis nur deswegen möglich, weil sie losgelöst von der Frage der nationalen Identität erfolgte. Hughes schreibt: „Es wurde immer klarer, dass die Einheit Chinas nicht mehr länger das letzte Ziel der Republik China war; Ziel war nurmehr die Einheit einer Art von China, deren Verwirklichung wohl Generationen benötigt.“