„Die Welt jungschauen und junghören, auch im Altern“ (Handke in einem seiner Tagebücher).
Eine ganz spezifische Form des Jungschauens und Junghörens von Welt stellt das Haiku dar. Das Haiku ist mit siebzehn Silben (5+7+5) wohl die kürzeste Lyrikform der Welt und weckt in dieser höchst komprimierten Form die anfänglichsten Wirkungen und Kräfte der Worte. Kein Göttergrollen, sondern „fuga“, die ästhetische Anmut. In wenigen Worten ist unendlich viel enthalten: Nicht nur das, was da geschrieben steht, sondern das ganze Wesen des Verfassers, die Welt, in der er lebt, und die Natur, mit der er vereint sein will, sollen sinnbildlich ausgedrückt werden. Bewandert zu sein – das ist der Punkt.
Heinrich Geiger, 31.05.2022
GASTBEITRAG
Hubertus Thum
Am Rand des Schweigens. Lyrik des Ostens als neues Genre der westlichen Literatur?
Ob chinesische Vierzeiler der Tang-Zeit oder klassisches japanisches Haiku – fernöstliche Lyrik ist bei Sinologen und Japanologen wegen ihrer außergewöhnlichen Prägnanz und Bildhaftigkeit berühmt. Gelegentliche Veröffentlichungen von Übersetzungen für ein breiteres Publikum, in Deutschland etwa Günther Debons schon länger zurückliegende Anthologie „Mein Haus liegt menschenfern“, haben chinesische Lyrik auch außerhalb der Fachwissenschaft bekannt gemacht und ihr einen Kreis interessierter Leser und Liebhaber erschlossen.
Anders beim Haiku. In den letzten fünf oder sechs Jahrzehnten hat es, beginnend mit der Veröffentlichung der vierbändigen englischen Anthologie von R. H. Blyth (1952), weltweit nicht nur viele Übersetzer und Leser gefunden, sondern zahlreiche Freunde, die sich auch als Schreibende in ihrer Muttersprache daran versuchen. Einen Moment, den Goethe vielleicht als „Augenblick der Ewigkeit“ begriffen hätte, in maximal siebzehn Silben zu fassen (der chinesische Vierzeiler bringt es immerhin auf zwanzig Schriftzeichen oder Wörter), ist offenbar eine reizvolle Herausforderung an die sprachlichen Fähigkeiten des Verfassers. Denn beim „kürzesten Gedicht der Weltliteratur“ ist äußerste Ökonomie der Sprache gefragt, ohne damit das Textverständnis zu unterlaufen, eine Gratwanderung, die Antoine de Saint-Exupéry treffend in den folgenden Satz gekleidet hat: „Ein Text ist nicht dann vollkommen, wenn man nichts mehr hinzufügen, sondern nichts mehr weglassen kann.“
Neue Einsichten haben das Haiku zudem von ursprünglichen Dogmen und literarischen Zwängen befreit. In westlichen Sprachen bewegt sich die Anzahl der Silben heute überwiegend zwischen 11 und 17, die Auffassung als reines Naturgedicht ist weggefallen. Wir im Abendland – und viele Japaner – schreiben in freien Formen und Rhythmen. Ob der Name Haiku für diese Gedichte noch angemessen ist, bleibt selbst in Japan eine offene Frage. Vermutlich sollten sie unter dem Namen „Kurzgedicht, poetische Miniatur“ oder „Mikrogramm“ als selbstständiges Genre geführt und betrachtet werden. Tatsache ist: Immer mehr Menschen aus Ost und West entdecken im Bewusstseinsstrom des Alltags poetische Bilder, Gefühle und Gedanken, die es wert sind, von ihnen festgehalten zu werden. Gerd Börner, Michael Denhoff und Hubertus Thum haben unter ihrer Netzpräsenz www.haikuscope.de zahlreiche klassische und zeitgenössische Beispiele gesammelt und veröffentlicht. Die Plattform verzeichnete im Jahr 2021 über 44 000 Besuche; dabei wurden nahezu 226 000 Seiten aufgerufen.
Als „Kommentar“ möchte ich zwei Haiku beisteuern, die in „Himmel wolkenlos“ hg. von Ingo Cesaro erschienen, Neue Cranach Presse Kronach, 2009, S. 81 u. 94:
und du? riechst du ihn
den bananenblütenstaub
auf bashos spuren …
schönwetterwolken
vom scharfen reiher erspäht –
kleiner grüner frosch
Lieber Heinrich,
Werter Wulf Noll,
ich möchte auch gern ein spontanes 海 哭 mit Euch teilen:
Grauer Drache,
die Kreuz-Ung der Eigenheit-en.
Zeit.
Darfst du sie hören?
Ge-fallen, ohne Grund.
Ab. Zu. Und. Auf!
Grey Drago-o-ns.
The X-sings of __________.
Zeitraum, Space-Timingz.
Enable the ZENses.
Afftt(r)ection – less reason.
A. B. 观 et 上起来了。
Habt ein traumhaftes Wochenende. Ich schwirre heute am Vormittag in quasi-neuen Gefilden umher. Suche nach Antworten und einen Kopierladen, sprich Briefkasten.
Der Zettelkasten – left behind.