Wäre ich bei meinem Taiwanaufenthalt unter Umständen zu ganz anderen Einsichten gekommen, wenn ich mich einfach hätte treiben lassen und nicht einem festen Plan gefolgt wäre?
Auch so kann die Erkundung eines Ortes aussehen: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind mit einer Polaroid Kamera oder, alternativ, Schreibuntensilien ausgerüstet, weiterhin tragen sie einen Würfel bei sich. Bevor sie sich auf den Weg machen, entweder alleine oder in Gruppen, verständigen sie sich darauf, dass die Route nicht vorgegeben ist, sondern immer wieder neu bestimmt wird, wenn der Wegverlauf eine Entscheidung verlangt. Geradeaus, links, rechts oder zurück? Der Würfel entscheidet. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, ich nenne sie Spaziergänger, landen so „zufällig“ an Orten, die sie mit ihrer Polaroid Kamera fotografieren und unter Umständen auch zusätzlich mit Worten beschreiben. Bild und Wort, sie können miteinander kombiniert werden. Unter einem Polaroid, das einen verwilderte Ecke in einer Vorstadt zeigt, könnte zum Beispiel stehen: „Prekärer Ort“ oder „Leerstand?“
Warum aber legen Menschen ihren Stadtführer beiseite und lassen sich treiben? Ich möchte zwei Beweggründe nennen, die für diese Entscheidung ausschlaggebend sein könnten: 1. Das Zerbrechen fixierter Identitätskonstruktionen und Wahrnehmungskonventionen und 2. Die Einübung einer Form von Aufmerksamkeit, die schwebend ist und so eine durch eigene Fixierungen unverstellte Beobachtung und, wenn gewünscht, Analyse ermöglicht. Der große Flaneur Franz Hessel (1880-1941) spricht in Bezug auf das Flanieren von einer „Wanderschau“, einer „ambulanten Nachdenklichkeit“. Und er führt das “ große Vorrecht des Spaziergängers“ an, der „nicht einzutreten“ und „sich nicht einzulassen“ braucht. „Er liest die Straße wie ein Buch, er blättert in Schicksalen, wenn er an Hauswänden entlang schaut.“ Bei Joseph Roth (1894-1939) lesen wir: „Was kümmert mich, den Spaziergänger, der die Diagonale eines späten Frühlingstages durchmaschiert, die große Tragödie der Weltgeschichte? …… Jedes Pathos ist im Angesicht der mikroskopischen Ereignisse verfehlt, zwecklos verpufft. Das Diminutiv der Teile ist eindrucksvoller, als die Monumentalität des Ganzen. Ich habe keinen Sinn mehr für die weite, allumfassende Armbewegung des Weltbühnenhelden. Ich bin ein Spaziergänger.“
TAIWAN. Mein Taiwanaufenthalt bestand aus zwei Phasen: erste Phase in einer Gruppe, und zwar im Rahmen eines universitären, akademischen Projektes (summer school); zweite Phase privat. Was erstere anbelangt, so stellte einer der Teilnehmer der summer school fest, dass die Seminarrunden in den Räumlichkeiten unserer taiwanesischen Gastuniversität und die Erkundungen im Stadtraum von Taipei, in der die Gastuniversität liegt, zwei unterschiedliche Erfahrungswelten beinhaltet hätten. Meiner Meinung nach ist der, der dies erkennt, schon auf dem richtigen Weg, denn er ist sich dessen bewusst, dass Beobachtungen und Erkenntnisse von den Bedingungen, unter denen sie gemacht werden, nicht losgelöst werden können – weswegen auch der universitäre-akademische Kontext unter Umständen ganz andere Erkenntnisse als der private gebiert. Wie lassen sich aber die beiden Erfahrungswelten miteinander verbinden, wie lässt sich vermeiden, dass sich der Unterschied zwischen ihnen zu einem unüberbrückbaren Gegensatz aufbaut?
In Taiwan wurde mir nochmals klar, dass Wissenschaft oftmals dafür missbraucht wird, Fragen auszuschließen oder nur so weit zu beantworten, dass deren eigentliches Potential entschärft wird. Leerstellen dürfen nicht vorkommen. Wie also mit ihnen umgehen? Bei der Lektüre von wissenschaftlichen Arbeiten meine ich nicht allzu selten die Angst zu spüren, irgendwo eine Lücke zu hinterlassen oder einen wunden Punkt zu offenbaren. In der Mythologie spricht man von der „Achillesferse“. Geradezu manisch werden alle Fugen, Brüche mit den Mitteln des Schriftlichen und mit allem möglichen zitierten Wissen gestopft und bis zu dem Punkt eliminiert, dass die Erfahrung, die ich „Taiwan-Erfahrung“ nennen möchte, nicht mehr möglich ist. Formal richtig zitiert? Jawohl, aber dennoch bleiben, bei genauerem Hinsehen, die Schwachstellen oder auch die Abgründe.
Das Arbeiten mit den Dimensionen von Raum und Zeit müsste, wie mir in Taiwan bewusst wurde, mehr Beachtung erfahren; ebenso die Überlegung, was passiert, wenn ich einen Sachverhalt verschriftliche und ihn nicht etwa bildlich darstelle. Taipei ist keine Stadt wie aus einem Guss, und auch in Tainan zeigt sich der städtische Raum sehr unterschiedlich – was diskursiv, von Begriff zu Begriff methodisch fortschreitend, nicht zu fassen ist. Außerdem wird diese Vorgehensweise einem Gegenstand nicht gerecht, dessen Merkmal die Vielschichtigkeit ist. Die städtebauliche Nachlässigkeit, mit der mit den unterschiedlichen Baustilen umgegangen wird, sollte nicht überraschen. Auch fehlt dem Hochhaus Taipei 101, das der höchste Wolkenkratzer der Welt war, bis er Anfang 2007 vom Rohbau des Burj Khalifa abgelöst wurde, das futuristische Flair, das zum Beispiel die Hochhäuser in Shanghai ausstrahlen. Allerdings hat es Charme, wie man nach dem Erreichen der obersten Stockwerke feststellen möchte. Dort überraschen die Besucherin/ den Besucher verschiedene Requisiten, mit denen sie/ er sich entweder als Engel mit rosa Flügeln oder als Entdecker inmitten der Tierwelt des Dschungels fotografieren lassen kann. Überall grünt und blüht es, aus Plastik, wuschelige und kuschelige Teppiche laden zum Träumen ein. Das Gedicht „Mittagsschlaf“ (wuxiao) des taiwanesischen Dichters Lin Xiuer (1914-1944) aus dem Jahr 1935 zeigt, wie ein träumerischer Geist von den Feldern einer bäuerlichen Kultur und den 1930er Jahren bis in die höchsten Etagen eines „Wolkenkratzers“ in den 2020er Jahren reicht. Es lautet: „Von Blume zu Blume gespannt/ Die Hängematte des Lichts/ In der/ Zum Mittag Engel schlafen/ Eine Brise wieget/ Durchsichtige Träume“.
Was verstehe ich unter der „Taiwan-Erfahrung“? Obgleich die Motorräder nach der Grünschaltung der Ampel mit ohrenbetäubendem Lärm in eine Richtung losrattern, habe ich Taiwan als eine Welt erlebt, in der die kulturellen Energiestränge nicht entlang der Hauptverkehrswege verlaufen. Diese dienen nur dem Vorwärtskommen, dem Zurücklegen eines Weges zwischen einem Ort A und einem Ort B. Das Wichtige spielt sich in Vierteln/ Quartieren, in den Seitengassen ab, in die man als Nichtortskundiger nur dann vordringt, wenn man vor dem Verlorengehen keine Angst hat. Dort trifft man auch auf taiwanesische Flaneure. Die Wirklichkeit des Inselstaates besteht darin, dass dieser eine unüberschaubare Zahl von kleinen Quartieren und Seitenstraßen, aber wenig attraktive Hauptwege aufweist. Bei der VR China ist es anders, zumindest in der Wahrnehmung von außen. Die Fachwelt meint mit den beiden „K“´s, Kommunismus und Konfuzianismus, eine feste Orientierung bei der Beschreibung des Landes zu haben, die in der Feststellung, dass China die Supermacht des 21. Jahrhunderts sei, gipfelt. Im Falle Taiwans ist sich die Fachwelt nicht ganz sicher, wie sie mit dem Land umgehen soll? Sie reduziert es ganz einfach auf das andere, kleine China, das, um bestehen zu können, eines mächtigen großen Bruders, nämlich der USA bedarf.
ZUM SCHLUSS. Es geht, um meine akademische-wissenschaftliche Taiwan-Erfahrung auf den Punkt zu bringen, in der Begegnung mit einem fremden Land/ einer fremden Kultur um die Grundlagenforschung zu den Dispositiven des Wissens und deren Erprobung; es geht um das Strapazieren der Ränder, der Bruchstellen und die Verwerfungen des Wissens. Die Frage, was in der Ordnung des Wiss- und Wahrnehmbaren nach welchen Gesetzmäßigkeiten erscheint beziehungsweise erscheinen darf, stellt sich unablässig. Sie ist nur dadurch mit Gewinn zu lösen, dass man sich immer wieder treiben lässt und auf diese Weise alle Voreinstellungen unterläuft. Wer so vorgeht, gerät nie in den Verdacht, dass seine Text von einer Künstlichen Intelligenz (Stichwort „ChatGPT“) geschrieben worden sind.