Im Alten Testament (Kohelet) steht geschrieben:
Was geschehen ist,
wird wieder geschehen,
was man getan hat,
wird man wieder tun:
Es gibt nichts Neues unter der Sonne.
Beim Blick auf die aktuellen Geschehnisse weltweit, möchte man zustimmend nicken. Ja, diese Feststellung ist nicht aus der Zeit gefallen, sondern hat eine unveränderte Gültigkeit. Die Frage ist nur, wie mit ihr umgehen?
Der ästhetische Spaziergänger zwischen Ost und West stellt fest, dass im chinesischen Denken die Grenzen zwischen Vergangenheit und Zukunft verschwimmen. Man erforscht die Zukunft, aber auch die Vergangenheit, wobei allerdings ein wesentlicher Unterschied in der Herangehensweise besteht: Das Erbe der Vergangenheit ist unbedingt zu bewahren, während die Zukunft im Rahmen einer rein wissenschaftlichen Sichtweise als reine Utopie auftreten darf, also grundsätzlich offen ist, ohne dass Einsprüche „moralischer“ oder „religiöser“ Natur eine Rolle spielen würden. Zum Beispiel in der Gentechnik ist alles möglich, was möglich ist, kein Ethikrat existiert, der sich zu Wort melden könnte. Sakrosankt ist nur die Machtfrage und zwar aufgrund einer Logik, die wiederum mit dem Zeitverständnis eng zusammenhängt: Der Fokus auf das Jetzt ist allmächtig, denn Zukunft und Vergangenheit fallen in der Gegenwart zusammen. Da es keine Vorstellung von einem Uranfang, aber auch keinen Begriff des Weltendes gibt, ist diese Ordnung auf eine gänzlich undynamische Weise auf Ewigkeit gesetzt. Wolfgang Bauer bezeichnet diese Art von Zeitverständnis als „unaufgefaltet“. Es wird von der Struktur der Sprache getragen.
Beim Chinesischen handelt es sich um eine isolierte Sprache; Aussagen werden zunächst einmal nicht in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft angesiedelt. Der Zeitaspekt kann nur unter Zuhilfenahme von Hilfswerben ausgedrückt werden. Obwohl in der Moderne die Zeitlosigkeit der Aussagen durch Suffixe behoben wurde, verließ die chinesische Sprache den einmal eingeschlagenen Weg nicht. Bis jetzt verschluckt sie in ihrer schriftlichen Form alle zeitbedingten lautlichen Veränderungen. Neues kann sich nur in der andersartigen Gruppierung der vielen Einzelzeichen bemerkbar machen, weshalb im chinesischen Denken der Satz „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“ aufgrund des in der chinesischen Sprache angelegten flächigen Zeitbegriffs nicht zu überraschen vermag – dies im Gegensatz zum endzeitlich orientierten christlichen Denken, das linear angelegt ist und aufgrund seiner linearen Struktur und der dieser eigentümlichen Dynamik mit dem alttestamentlichen Befund aus dem Buch Kohelet nicht mehr umgehen kann.
Zurück zum chinesischen Denken, zur chinesischen Sprache und zu der Frage, wie die VR China mit aktuellen Geschehnissen, wie zum Beispiel dem Krieg in der Ukraine und der damit einhergehenden Bedrohung des Weltfriedens, umzugehen vermag? Da in einem System, das zyklischer Natur ist, zwar Veränderung, aber keine Entwicklung im eigentlichen Sinne möglich ist, überrascht die distanzierte, unaufgeregte Haltung der chinesischen Regierung in diesem Fall genauso wenig wie in dem Fall ihrer auf Zeit spielenden Klimapolitik. Das „Was geschehen ist,/ wird wieder geschehen,/ was man getan hat,/ wird man wieder tun“ ist also gleichsam Teil eines Systems, dem endzeitliche Szenarien, wie wir sie aus dem christlichen Kontext kennen, letztendlich fremd sind. Einzig entscheident ist der Blick auf die Situation im Hier und im Jetzt, da in jeder gegebenen Situation latent, ganz im Verborgenen, auch alle anderen enthalten sind. Es gilt, klar analysierend, mit klarem Kopf vorzugehen und dabei alle Faktoren im Blick zu haben, um nicht aus der gegebenen Situation die falschen Konsequenzen zu ziehen – und das hat mit Moral, mit Ethik und mit Religion im christlich-abendländischen Sinne überhaupt nichts zu tun. So wie die chinesische Schriftsprache ein stummes Kommunikationsmittel ist (die Schriftzeichen kommen meist ohne eine bestimmte Lautung aus), scheint auch der chinesische Umgang mit weltpolitischen Entscheídungen stumm zu sein. „No comment!“ Wichtig ist nur die Frage, wer dieses System zwischen Himmel und Erde am Laufen hält: Und das ist der allmächtige Herrscher, der Sohn des Himmels oder, mit heutigen Worten, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), der gleichzeitig Staatspräsident und Oberster Befehlshaber der Armee ist.
geschieht was schon geschehen
erneut, gleicht es sich nur,
es ähnelt,
wie wir sagen jetzt,
und dabei denken an gestern, um
für morgen vorzusehen,
zu ändern,
abzuwenden,
was doch unabwendbar bleibt:
die Zukunft, und auch
die Ewigkeit des Universums
( ganz ohne unser Zutun ) –
Ein Grund, zu
v-e-r-s-t-u-m-m-en … ?
Ich denke
nicht
!
Eine gute Handreichung, um die ganz andere Zeit-Denkweise des chinesischen Denkens ein wenig zu verstehen. Bleibt die Frage, ob das System so wirklich am Laufen gehalten werden kann.
„Es gibt nichts Neues unter der Sonne“ ist auch eine Maxime der Personen Samuel Becketts, die im Nichts stecken. Die alttestamentarische Breite mag sich mit der Breite im chinesischen Denken berühren. Der kleine Text „Stumm“ benennt darüber hinaus sehr präzise den Unterschied zwischen westlichem und östlichem Denken. Das zur Diskussion gestellte östliche Denken spiegelt sich bis heute im Verhalten meiner chinesischen und japanischen Freunde wider. Bei beiden erscheinen die Zeitereignisse kaum oder nur ein bisschen wie unter Nebel und/oder in Watte verpackt. „Die Deutschen schreien“, so heißt ein Buch des Kollegen Florian Coulmas; die Ostasiaten, möchte ich ergänzen, schweigen. Diese Alternative passt bestens.