Ohne ins Freie gehen zu müssen, empfand ich bei der Lektüre von Günter Wohlfarts jüngstem Werk ein Vergnügen, das mir sonst nur von meinen ästhetischen Spaziergängen bekannt ist.
Seinem opusculum novum DIE WEISHEIT DER SCHNEEEULE. Poetisch-philosophisches Sammelsurium für komische Käuze. Ein Album, (Günter Wohlfart. Der Uhu aus Tuchan, im Indianer-Sommer 2022) stellt Wohlfart folgende Worte voran: „`Weisheit schreibt/ mit weißer Tinte auf weißes Papier´/ frei/ nach Henry de Montherlant“ und „Weiße Nacht/ Weißes Schweigen/ hab Acht!“ Frage: Ist das Weiß, das wir hier mehrmals erwähnt finden, identisch mit der Leere, von der Hans Balmes in seinem Kommentar zu meinem letzten Beitrag spricht? Balmes in seinem Kommentar: „ich stelle mir oft vor, chinesische Landschaftsbilder hätten die leere Wand im Hintergrund der Gemälde von Vermeer inspiriert.“ Er zitiert ein Vermeer-Gedicht von Tomas Tranströmer, in dem es u.a. heißt: „Und die Leere kehrt uns ihr Gesicht zu/ und flüstert:/ `Ich bin nicht leer, ich bin offen´“.
Leere, Offenheit und das Weiß
Die Bilder des Delfter Malers Jan Vermeer bestechen durch ihre Wirklichkeitsnähe. Auf dem Bild „Eine Straße in Delft“ sind die offenen und die ausgebesserten Risse im Gemäuer der Häuser zu sehen. Vermeer setzt die Geometrie der tatsächlich verlaufenden Senkrechten, der Wagerechten und Diagonalen zum Aufbau seines Bildes ein. Beim Betrachten des Bildes erleben wir, wie die Zurückhaltung zum Bildmotiv wird. Sie findet ihre Entsprechung, ihren Ausdruck, in einem gedämpften Licht und einer herabgestimmten Farbigkeit. Und noch ein weiteres Beispiel. Als Vermeer sein Werk „Junge Frau mit Wasserkanne am Fenster“ malte, faszinierte ihn ganz offensichtlich das Licht der Grachtenstadt Delft. Das Bild ist ganz erfüllt davon. Heller Mittagsschein flutet durch das halb geöffnete Fenster. Selbst die Schatten im Winkel sind durchsichtig geworden. Die zarte und sorgsame Pinselführung formt die Gegenstände, insbesondere das Wasserbecken, durch Nuancen der Helligkeit. In einem lichterfüllten Werk wie diesem begegnen sich Leere, Offenheit und auch das Weiß.
Wie bei so vielen anderen Begegnungen macht den Reiz der von Balmes vorgestellten Begegnung zwischen Bildern des „Goldenen Jahrhunderts“ der holländischen Malerei und Bildern der chinesischen Tuschmalerei aus, dass diese, trotz aller Nähe, aus sehr unterschiedlichen Kontexten leben. Leere, Offenheit und das Weiß entfalten im Falle der Bilder Vermeers und den Bilder der chinesischen Tuschmalerei ihre Bedeutung in ganz unterschiedlichen Vorstellungswelten.
Auffallend ist, dass Vermeer in seinen Werken der Stimmung der Vereinzelung – einer Erscheinung der Zeit – Ausdruck verleiht. Beim Betrachten von Bildern, auf denen zwei Personen zu sehen sind, werden wir häufig zu Zeugen eines Zusammentreffens von Individuen, die sich nicht wirklich austauschen; jedes von ihnen bleibt für sich. Im Falle des Bildes „Junge Frau mit Wasserkanne am Fenster“, auf dem nur ein Individuum zu sehen ist, scheint die dargestellte Person nachdenklich und auf eine stille Weise in einer Betrachtung oder in einer Erinnerung versunken zu sein. Ganz offensichtlich besteht in diesem Fall ein natürliches Einverständnis zwischen der Frau und der ihr vertrauten Umwelt, während sich dieses in dem Miteinander von Menschen nicht richtig einstellen will. Gemalte Stille in beiden Fällen – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Ja, still sind auch die chinesischen Landschaftsbilder – aber dies, wie mir scheint, zuvorderst aus einem Grund, der sich der Abwesenheit von jeglicher Psychologie und aller konkreten soziohistorischen Bezüge verdankt. Im Unterschied zu den Werken Vermeers zeigt sich bei chinesischen Landschaftsbildern die Wirklichkeit nicht in der Enge von bürgerlichen Stuben, sondern in der Weite einer Welt, in der die Gesetze des Mikrokosmos denjenigen des Makrokosmos entsprechen. Wirklichkeit wird als ein Wirkgeschehen verstanden. Man könnte auch von einer Organisation des Wissens sprechen, für die nicht die Kontemplation in Zurückgezogenheit und Vereinzelung, sondern die kosmische Einbindung des einzelnen menschlichen Lebens entscheidend ist. Womit wir bei Fragen angelangt sind, die für meinen Blog von grundlegender Bedeutung sind: Finden die „Ästhetischen Spaziergänge zwischen Ost und West“ nicht in völlig unterschiedlichen Lebens- und Erfahrungswelten statt? Gibt es gemeinsame Erfahrungen und, wenn ja, basieren sie nicht auf völlig unterschiedlich strukturierten Konzepten von Wirklichkeit, sodass sie doch wieder auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen sind?
Rotes Fluoreszieren und die Ewigkeit
Andreas Markus Simon verleiht in seinem Kommentar zu meinem letzten Text seiner Faszination Ausdruck, dass der Dichter Christian Bök in die DNA eines Bakteriums ein Gedicht codiert hat; wobei dieser DNA-Strang wiederum ein Protein erzeugt, in welchem seinerseits der Code eines weiteren Gedichts zu finden ist. Die genetische Veränderung bewirkt, wie Simon rekapituliert, dass das Bakterium rot fluoresziert: „Das ist schon sehr genial und gleichzeitig bizarr.“
Bei dem Ecoli-Bakterium, mit dem Bök den Vorgang durchgeführt hat, handelt es sich um ein Bakterium, das auch im menschlichen Darm vorkommt. Ziel des Projektes ist es jedoch, den Xenotext in ein Bakterium mit dem Namen Deinococcus radiodurans einzuarbeiten. Dieses Bakterium gilt als eine der widerstandsfähigsten Lebensformen. Es kann tausend Mal mehr radioaktive Strahlung aushalten als der Mensch. Sogar im leeren Raum des Weltalls kann es überleben. Gelingt Bök dieser letzte Schritt, hat er sein Ziel erreicht: Ein Gedicht zu schreiben, das selbst dann noch existiert, wenn der letzte Mensch verschwunden und die Sonne erloschen ist. Es wird gelesen und weitergeschrieben werden, und zwar in der Zellstruktur eines Bakeriums, das durch die gähnende Leere des Universums treibt.
Doch handelt es sich überhaupt noch um ein Gedicht, wenn kein Mensch mehr da ist, der es zu lesen vermag? „Rotes Fluoreszieren/ Rotes Schweigen/ hab Acht!“ – so dürfte in diesem Fall das Motto in Abwandlung des eingangs zitierten Satzes von Günter Wohlfart lauten. Wir bewegen uns bei Bök in einem posthumanen Zeitalter, in dem die Sonne erloschen ist und eine neue Form der Dichtung in Laboren und mithilfe von modernsten Technologien stattfindet. Leere und Offenheit haben hier einen Bezugsrahmen erhalten, in dem der Mensch und die verschiedenen Organisationsformen von menschlichem Leben nurmehr als Erinnerungen existieren. Sollte es der Fall sein, dass sich West und Ost erst dann verständnisvoll begegnen, wenn das posthumane Zeitalter erreicht ist? Bök wäre dann der neue Du Fu oder der neue Goethe?
Lieber Heinrich,
Du spannst in Deinen beiden jüngsten Beiträgen einen interessanten Bogen zwischen Malerei in verschiedenen Kulturen, Poesie, Wissenschaften und existenziellen Fragen auf. Und hast es wieder geschafft, meine Neugier als Leser zu wecken, so dass ich mehr über den Xenotext herausfinden wollte. Ohne das Buch zu lesen kann man immerhin herausfinden, dass Bök mehrere Gedichte kodiert hat, darunter ein Sonnet mit dem Titel „The Nocturne of Orpheus“. Als Raumfahrt interessierter Mensch muss ich natürlich auch an einen anderen Versuch denken, mit potenziellen Außerirdischen zu kommunizieren, nämlich an die goldenen Platten, die an den Raumsonden Voyager 1 und 2 angebracht sind wurden. Neben den eigentlichen kodierten Informationen (Musik, Bilder, Beispiele verschiedener gesprochener menschlicher Sprachen etc.) sind auf der Oberfläche auch Symbole eingraviert, die den Aliens die Dekodierung der Informationen auf der Datenspur ermöglichen sollen. Letzteres ist eine geniale Symbolsprache, die auf allgemeingültigen physikalischen Prinzipien beruht. Ich frage mich daher, wie eine außerirdische Intelligenz ohne weitere Hinweise in der DNA des Deinococcus radiodurans ein Gedicht erkennen können sollen? Wenn Christian Böks Poesie jemals von Aliens – oder unseren fernen Nachfahren, sofern die Menschheit die Klimakatastrophe überlebt – verstanden werden soll, dann müsste eine solche Anleitung auch in die DNA einfließen. Außerdem müsste man Deinococcus radiodurans massenhaft verbreiten, damit es überleben und auch gefunden werden kann, wenn es mehr als eine faszinierende wissenschaftliche Spielerei sein soll. Und die Aliens müssten das Konzept Lyrik oder Poesie verstehen.
Die goldenen Platten der Voyager-Sonden haben eine theoretische Haltbarkeit von 500 Millionen Jahren. Beide Sonden haben inzwischen den Einflussbereich der Sonne verlassen, Voyager 1 ist gestern 23,56 Milliarden Kilometer von der Sonne entfernt gewesen – so weit wie kein anderes menschengemachtes Objekt zuvor – und wird in 40.000 Jahren am Stern Gliese 445 vorbeifliegen. Ob jemals eine andere Intelligenz unsere Artefakte, die wir in Kriechgeschwindigkeit in die Weiten der Milchstraße schicken, finden wird, werden wir wohl niemals erfahren. Wenn Deinococcus radiodurans überleben soll, dann muss es das Sonnensystem verlassen, bevor unsere Sonne in einigen Milliarden Jahren zunächst anschwillt und dann zur Supernova wird. Und so hoffen wir, dass das posthumane Zeitalter nicht das Ende der Intelligenz im Universum ist.
Herzliche Grüße,
Erich
Was ist ein Bild? Linien, Strukturen, Farben auf einer Fläche, die an unsere Rezeptionserfahrung der Welt anknüpfen, wie wir sie wahrnehmen und gelernt haben zu sehen. Ein Blindgeborener, der durch eine Operation sein Augenlicht erhält, wird Bilder nicht lesen können, weil er nicht gelernt hat, was Farben sind, was Licht und Schatten, was vorne und hinten ist. Er wird nichts mit Überschneidungen anfangen können, weil er nicht in der Lage ist, Verdecktes zu assoziieren und im Gehirn zu vervollständigen. Die ganze visuelle Welt wird ihm zunächst als Chaos vorkommen, in das er Ordnung zu bringen erst lernen muss.
Wie du bereits erwähnt hast, ist unsere Bildrezeption wesentlich davon abhängig, wie wir gelernt haben Bilder zu betrachten. Dadurch sind wir begrenzt und verbinden unsere inneren Bilder mit dem Wahrgenommenen. Selbst unsere Assoziationsfähigkeit ist auf unsere persönliche Lebenserfahrung beschränkt.
Erich hat das bereits in seinem Kommentar angedeutet, dass einem Alien sämtliche Erfahrungen, die die Menschheit in ihrer Entwicklung gemacht hat, fehlen würden. Er würde ein Werk nur mit seinen inneren Bildern verknüpfen, soweit er überhaupt in solchen Strukturen denken würde. Wir sind da viel zu stark von unserer menschlichen Denkweise geprägt, um uns überhaupt andere Denkstrukturen vorstellen zu können, ebenso wie Religionen davon ausgehen, dass es einen Gott für die Menschheit gibt, der in menschlichen Strukturen denkt.
So hat auch dein grundlegender Gedanke, wie weit östliche und westliche Ästhetische Spaziergänge / Kunst gleichermaßen rezipierbar sind, Zweifel aufblitzen lassen. Uns fehlt die Gedankenwelt der Menschen, die vor 1000 Jahren gelebt und gemalt haben genauso, wie es einem Fan Kuan nicht möglich war, sich in unsere Welt hineinzudenken. Es wäre interessant, was der zu Jan Vermeer van Delft sagen würde, oder zu Egon Schiele, zu Wassily Kandinsky, zu Gerhard Richter.
Die Psychologie hat festgestellt, dass die Schnittmenge deiner und meiner Kommunikation bei etwa zehn Prozent liegt. Wie groß mag die Schnittstelle zwischen einem Europäer und einem fernöstlichen Asiaten sein? Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn ich „Fahrrad“ sage, weiß kein Mensch, dass ich als wichtigstes Bild das alte, rostige Damenfahrrad im Kopf habe, auf dem ich als Siebenjähriger allein das Fahren lernte.
Das Weiße im Bild bleibt also für mich eine Leerstelle, die ich mit meiner Seherfahrung füllen kann, als Projektionsfläche für meine inneren Bilder, meine Art zu sehen. Der Maler oder Zeichner lässt mir Raum zum Denken, er erzählt nicht die ganze Geschichte, sondern lädt mich ein teilzunehmen. Bestenfalls berührt er etwas in mir, worüber ich mich mit dir austauschen kann. Oder ich stehe einfach davor und staune, wie es mir bei Vermeers Bild „Die Malkunst“ von 1668 im kunsthistorischen Museum in Wien ging.