Natur im Chinesischen: Der chinesischen Naturanschauung liegt ein Prozess zugrunde, der zu einer wechselseitigen Durchdringung des Gegenständlichen mit dem Geistigen und der Innen- mit der Außenwelt führt. Er ist in der kulturellen Praxis Chinas fest verankert. Eine ganze Kultur lebt von einem Naturbegriff, der mit den Mitteln der Poesie, Literatur, Malerei, Kalligrafie und Musik verewigt wurde und mit einer Fülle von Assoziationen verbunden ist. In diesem Naturraum, der zugleich ein Raum wahrer Kultur ist, können die Menschen Zuflucht finden, wenn die Grundlagen ihres geistigen und seelischen Lebens bedroht werden. Unter den Gegebenheiten einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die ihren ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt, stellt die Natur einen Rückzugsort, aber auch einen Ort des Gegenentwurfs dar, in dem der Mensch zu der wahren Form des Seins findet (am Schluss dieser Ausführungen bezeichne ich sie als „Natur-Sein“). Hier bewahrt der Mensch, wie es im Buch XXIII des Zhuangzi, Kapitel 2, „Innerlichkeit“ heißt, „das Dauernde“: „Wer das Dauernde erreicht hat, von dem fällt das Menschliche ab, und das Himmlische hilft ihm. Von wem das Menschliche abfällt, der gehört zum Reich des Himmels; wem das Himmlische hilft, der heißt Sohn des Himmels“. Und: „Wer sein Gesetz im eigenen Inneren hat, der wandelt in Verborgenheit“.
In dem von Wolfgang Kubin übersetzten Gedichtband Zurück in die Gärten des 1964 geborenen Dichters Zhao Ye finden wir das 4. Gedicht eines mit „Der Fluß“ überschriebenen Zyklus von insgesamt vier Gedichten:
Ich sehe den Fluß fließen.
In mir waltet große Freude,
doch unaussprechlich.
Nach ihrem Weg durch die Schatten der Sonne
verharren die Vögel still in der Luft.
Ich entledige mich meines Leibes, möchte nichts als Blüte sein.
Möchte friedlich gehen, freudig kommen.
Ich bin gewatet durch alle Flußläufe
und habe diese Sandbank erwählt.
Da bette ich mein Haupt auf Kieselsteine.
Im Abend werde ich schlafen, tief und fest.
Die Ideale von Zhao Ye sind: „ein Schreiben als rein individuelle Angelegenheit“, „ein Leben zur Nördlichen Song-Zeit (960-1127)“, „das ästhetische Vergnügen, welches eine Agrargesellschaft bietet“ und „das moderne Gedicht in klassischer Traditon“ (Zhao Ye, Zurück in die Gärten, Gedichte. Aus dem Chinesischen von Wolfgang Kubin. Mit Federzeichnungen von Christian Thanhäuser. Ottensheim/ Donau: Edition Thanhäuser, 2012, Gedicht: S. 13, Zitat: S. 71) Nicht im Jenseits sieht Zhao Ye – wie auch Zhuangzi – das Himmlische, sondern im Hiesigen, in der Natur und natürlich auch in den Dichtern. Nein, an eine höhere Instanz als sich selbst glaubt dieser Dichter nicht. Natur-Sein.
Lieber Heinrich,
ich war heute an der Siegmündung und fühlte mich an das Gedicht von Zhao Ye erinnert.
Ich sah Menschen durch die Sieg waten und habe mein Haupt auf Kieselsteine gebettet.
Ich nahm die Weite des Wassers und die Ruhe der Strömung und der vorbeiziehenden Schiffe und Wolken in mich auf.
Aber was Zhao Ye beschreibt, ist noch etwas anderes, ist ein Mehr an Empfindung – große Freude, verdichtet in einem einzigen Augenblick.
Die Zeit steht still, die Vögel verharren still in der Luft.
Das Ich wird eins mit der Natur, möchte nichts als Blüte sein.
Ich finde das eine wunderschöne Beschreibung eines glückhaften Moments des Eins-Werdens mit der umgebenden Natur.
Toll finde ich die Intensität der Sprache und der ausgedrückten Empfindung.
Vielen Dank für das Gedicht und die Einordnung in die chinesische Naturanschauung.
Herzliche Grüße,
Markus
Hi, ich habe bei den deutschen Begriffen immer das Gefühl, als wären sie schwarz konturiert, wie ein Farbfeld in einem Kirchenfenster, und dass Sein und Natur so nie zusammenkommen, weil sie umgrenzte Monaden sind. Innen-/Außenwelt.
Wenn ich in Hinton’s „China Roots“ über diese Konstellation lese, löst sich die begriffliche Kontur der Worte in Rückgriff auf die Schriftzeichen – hin zum Verständnis eines dynamischen Geschehens, das Sein und Natur auseinander hervorgehen lässt.