Der kanadische Dichter Christian Bök (geb. 1966) hat ein Gedicht geschrieben, das selbst dann noch existiert, wenn der letzte Mensch verschwunden und die Sonne erloschen ist. Es wird gelesen und weitergeschrieben in der Zellstruktur eines Bakteriums, das durch die gähnende Leere des Universums treibt. Dazu: Maximilian Hauptmann, „Der Xenotext. Schreiben, bis die Sonne erlischt“, in: alexandria. dein Magazin für Wissenschaft, Sommer/ Herbst 21, S. 48-53. Siehe auch: Christian Bök, The Xenotext: Book 1, 2015.
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Schönheit und Naturgesetz finden wir miteinander aufs Beste in der traditionellen chinesischen Tuschmalerei vereint. Zum Beispiel scheint im Bild „Reisende zwischen Strömen und Bergen“ des songzeitlichen Malers Fan Kuan (ca. 960-ca. 1030 n.Chr.) Natur als ein Ort auf, an dem die Urenergie qi am Wirken ist. Das Bild zeigt aber auch, dass sich Natur nicht mit einer kompakten naturwissenschaftlichen Formel fassen lässt. Fan Kuan hat das Bild „Reisende zwischen Strömen und Bergen“ so komponiert, dass der Betrachter seiner selbst und seiner Stellung in der Welt, dem Kosmos, bewusst wird. Und er erkennt auch, dass das Bild nicht nur ein Bild ist, sondern eine ganz eigene Wirklichkeit bedeutet, deren Bestandteil er ist. Das reine Bild.
Es kann historisch nicht stimmen, aber ich stelle mir oft vor, chinesische Landschaftsbilder hätten die leeren Wände im Hintergrund der Gemälde von Vermeer inspiriert: Als ob zwischen den Landkarten, Globen und Briefen, den Menschen vor den Fenstern, die etwas erblicken, was wir nicht sehen, und dieser leeren Fläche sich ein Dialog von Verschwinden und Erscheinen entspinnen würde. Rein? Qi? Ying und Yang?
Tomas Tranströmer beendet sein Vermeer-Gedicht mit:
„Der helle Himmel hat sich schräg zur Wand gestellt.
Es ist wie ein Gebet zur Leere.
Und die Leere kehrt uns ihr Gesicht zu
und flüstert:
‚Ich bin nicht leer, ich bin offen.'“
Die Leere (statt dem Nichts) und die Fülle?
Natur verstehe ich in dem Rahmen als natura naturans, das im Benennen erst Wahrnehmbarwerden der sich unablässig hervorbringenden Zehntausend Dinge – die Fülle der Natur und des von Menschen Gemachten. Aber zur Natur gehört gleichzeitig ihr Verschwinden, ihr Verstummen, bis sie – auf chinesischen Bildern – wieder aus der Höhle oder über den Berggrat wahrnehmbar werden. Das leere Bild. Das offene Bild.
Herzlichen Dank für den aktuellen Blog-Beitrag in den ästethischen Spaziergängen.
Ich finde es sehr anregend, über das in DNA codierte Gedicht von Christian Bök nachzudenken.
Der Mensch als Schöpfer, der er eine Spezies erschafft und ihr seinen Stempel aufdrückt.
Gleichzeitig tut er das im Bewusstsein der Endlichkeit der eigenen Spezies und dass die von ihm geschaffene Spezies die Menschheit möglicherweise überdauern wird.
Hier tauchen Bezüge zum noch vor wenigen Jahren vorherrschenden Machbarkeitsdenken und Gestaltungswillen auf, wie es in den Anwendungsmöglichkeiten der Gentechnik aufscheint.
Und Bezüge zum heute mehr denn je vorstellbaren Untergang der Menschheit, welcher durch Handeln und Unterlassen beschleunigt zu werden droht.
Ist es das klassische Motiv der Hybris und Verblendung in der griechischen Tragödie, welches hier anklingt und uns den Spiegel vorhält ?
Darüber hinaus bin ich neugierig und würde das Gedicht gerne einmal lesen.
In einer Amazon-Rezension des Buches „Xenotext Book 1“ schreibt der Rezensent:
The poem consists of fifty 14-line verses – each with 10 syllables – so sonnets, sort of – but with no regular meter or end-rhyming. The really weird thing is that the poems are left and right justified, with the words exactly evenly spaced. Stop and think about that. Bok has written 700 lines of exactly 10 syllables that each contains an identical number of characters, or near enough to accomplish such a creepy uniformity of appearance.
The miraculous thing is, it’s actually a pretty good poem (or translation – I don’t know the Georgics well enough to say if it constitutes an original work – likely an adaptation based on earlier English translations). (Actually, the real miracle is that Bok restrains himself from telling us about his formal constraints at the back of the book). If you can tolerate the Eunoia-derived mannerisms, you’ll find a sonorous feast of imagery, internal rhymes, and comedic retelling of myths.
Das klingt interessant.
Was ich ebenfalls faszinierend finde – in https://www.poetryfoundation.org/harriet-books/2011/04/the-xenotext-works beschreibt Christian Bök, dass er in der DNA des Bakteriums ein Gedícht codiert hat „(which begins “any style of life/ is prim…”)“, und dieser DNA-Strang erzeugt ein Protein, in welchem seinerseits ein weiteres Gedicht codiert ist „(“the faery is rosy / of glow…”)“.
Und die genetische Veränderung bewirkt, dass das Bakterium rot fluoresziert.
Das ist schon sehr genial und gleichzeitig bizarr.