In Vorbereitung auf einen Wanderworkshop hatte ich mir folgende Frage notiert:
„Wird einem erst beim stundenlangen Wandern unter dem freien Himmel bewusst, dass man zu lange als Wissenschaftler oder auch Künstler in einer Komfortzone gelebt hat?“
Als sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Wanderworkshops zum verabredeten Zeitpunkt an einer Bahnstation trafen, wurde mir sofort eines klar: Die Bedürfnisse des Wanderers werden, sobald sich die Natur in all ihrer Macht und Unberechenbarkeit zeigt, auf das lebenserhaltende Minimum reduziert. Es regnete, als hätte der Himmel seine Schleusen geöffnet und das kleine Wartehäuschen an dem kleinen Bahnhof bot nur einem Teil der Gruppe Unterstand; der andere Teil war der Gewalt der Elemente ausgesetzt. Alle aber hatten sich mit der Tatsache zu konfrontieren, dass just die Person, die die Route ausgearbeitet hatte, aus gesundheitlichen Gründen absagen musste. Angesichts der Tatsache, dass sich die Wanderwege bereits in Bäche verwandelt hatten und die Ausrüstung und das Schuhwerk der Teilnehmerinnen und Teilnehmer (mit drei Ausnahmen) nicht den Herausforderungen entsprachen, galt es also die richtige Entscheidung zu treffen. Niemand plädierte für eine heroische Leistung im Geiste männlicher Welteroberung und wollte im strömenden Regen die ganze geplante Strecke zurücklegen. Allen war bewusst, dass die Natur, allem Heroismus zum Trotz, zurückschlagen kann. Und es war scheinbar auch ein feines Gespür für weitere Gefahren vorhanden. Denn keiner von uns bestieg die S- Bahn, die gerade einfuhr und, wenig später, auf offener Strecke von einem umgefallenen Baum zum Halten gebracht wurde. Mit der Teilnehmerin, auf die wir gewartet hatten, verharrten wir dann nochmals eine knappe Stunde auf dem Bahnhof und bestiegen dann einen Bus, der uns dem Ziel näherbrachte, aber nicht ganz. Das Spiel der Elemente wollte doch körperlich erfahren werden. So näherten wir uns dem Gasthof, in dem wir am ersten Abend untergebracht waren, durch Wälder und Wiesen an, die von allen Seiten von Wasser umströmt und unterspült wurden. Ich sah eine Teilnehmerin, wie sie barfuß neben dem Weg, durch tiefes Gras, mit einem großen Rucksack auf dem Rücken, einen Hang hinauftanzte. In dem Rucksack waren, laut ihrer Bekundung, unter anderem Papiere.
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Die antiken Peripathetiker gingen in Wandelhallen ihren Gedanken nach. Sie marschierten, wie man es in Entsprechung zu den heutigen Gegebenheiten sagen würde, mehrmals um den Block, um ihr „Gehirn durchzulüften“. Im Rahmen unseres Wanderworkshops machten wir dagegen gleich zu Beginn unserer Wanderung die Erfahrung, dass Natur ein rohes Energiefeld bedeuten kann, das so gar nichts mit dem Bild eines völlig ungefährdeten „Sich in seinen Gedanken Ergehens“ in einer überdachten Wandelhalle oder rund „um den Block“ zu tun hat. Und ich stellte dann auch bei unserer ersten Reflexionsrunde die Frage, wie es denn nun mit der großen Harmonie in traditionellen chinesischen Landschaftsdarstellungen steht? Verdankt sich diese nicht einer Abstraktionsleistung, die irrigerweise dem Unerwarteten den Gar ausmacht und ganz bewusst davon absieht, dass wir in der Begegnung mit Natur einen ganz engen physischen und psychischen Kontakt zu ihr aufnehmen, aus dem nicht nur das Schöne, sondern auch das Erhabene, das Abgründige hervorgehen? In mir dämmerte dabei die Einsicht, dass die „alten Chinesen“ aber bei anderem Punkt richtig liegen. Wenn Menschen wie wir Landschaften bei Wind und Regen durchschreiten, dann nehmen sie die von ihnen ausgehende Energie auf und setzen die gleichzeitig ausgelösten Emotionen in Bilder um, wie es uns die chinesische Phänomenologie des Naturerlebens und deren Ausdruck in Gedichten bedeutet. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Natur ist ein Feld, auf dem es zu einer Art Urkommunikation kommt, die etwas mit uns macht. Nichts ist isoliert in der Welt. Warum denken wir aber dann, dass wir Natur austricksen können? Warum denken wir, dass wir klüger als die Natur sein können? Gibt es einen Plan, ein System, ein Schema? Und, wenn ja, was geschieht dann, wenn wir es in Worte fassen? Entgleitet uns das Ganze dann nicht wieder?
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Wahrnehmungen befinden sich im Fluss zwischen Denken, Empfinden und Träumen in einem drängenden Ping Pong unbeantworteter Fragen. Jeder Schritt kann im Gelände mühevoll sein, da wir beim Ausschreiten mit völlig unerwarteten und unvorhersehbaren Ereignissen konfrontiert werden. Und so ist es auch beim Denken. „Open thoughts“: Zeitlose Mythen, utopische Visionen, alltägliche wie fantastische Erfahrungen drängen sich auf, sodass der Mensch, der geht, gleichsam mit einer tonnenschweren Bürde geht. Äußerungen wie die von Zheng Banqiao (1693 – 1766) vermögen da Entlastung zu schaffen. Er schreibt: „Nicht nur ich liebe den Bambus und die Steine, sondern der Bambus und die Steine lieben auch mich.“ Und es hilft auch, wenn man sich der Pflicht zur Verbalisierung der Erfahrungen entledigt. Ich habe mich beim Gehen gefragt, wie ich auch den Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Wanderworkshops vorgetragen habe, ob nicht beiläufige Bemerkungen, wie wir sie aus der chinesischen Geistesgeschichte kennen, sinnvoller als große theoretische Werke wären? Beiläufige Bemerkungen, mit denen versucht wird, durch das Ping Pong zwischen Erinnerungen und Wahrnehmungen zu navigieren, in denen das Leben als Wirklichkeit gespeichert ist.
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Der Ästhetiker, der ich ja nun einmal bin, würde hier vom nie abreißenden Strom eines bedrohlich schönen Universums sprechen. Warum aber wird das Bedrohliche immer ausgeklammert? Und warum wird auch in der interkulturellen Perspektive zwischen China und „dem Westen“ so getan, als ob die einen (nämlich „die Chinesen“) den Schlüssel zu einer Harmonie von Mensch und Natur (dem „schönen Universum“) besäßen und die anderen (die „Wessis“) nicht, weil sie Natur immer nur zerstückelt, sprich im Ausschnitt sehen, wie wir von Francois Jullien erfahren. Während unserer Wanderung, insbesondere am letzten Tag, haben wir uns wunderbare Aussichten erlaufen und dabei festgestellt, dass selbst an außerordentlichen Aussichtspunkten niemals „die Welt“ ganz in den Blick kommt. Die „Harmonie“ und die universale Schau verdanken sich vielmehr Kunstgriffen, die auf ganz anderen philosophischen Voraussetzungen beruhen, als den von Jullien gemeinten.
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Vor diesem Hintergrund hat sich in der Gruppensitzung am zweiten Tag unserer Wanderung die in meinen Augen interessanteste Diskussion ausgehend von dem Text eines chinesischen Ästhetikers des 20. Jahrhunderts ergeben. Ihm lässt sich entnehmen, dass für die Wahrnehmung von Welt in ihrer umfassenden Weite nicht allein ein Bewusstsein jenseits der Dichotomie von Subjekt und Objekt genügt. Ausschlaggebend ist vielmehr ein Gedanke aus der chinesischen Kunstästhetik. Dieser lautet, dass erst mit den Mitteln der Architektur, zum Beispiel dem Bau eines Aussichtsturms, die Welt im Ganzen in den Blick kommt. Der chinesische Ästhetiker erwähnt, dass im Neuen Sommerpalast in Beijing in der Nähe eines Turms eine Tafel hängt, auf der zu lesen ist: „Turm, der die prachtvollen Ansichten von Bergen und Seen miteinander vereint.“ Ein Turm ist nötig. Die Bewusstseinshaltung allein genügt nicht. Ebenso sind Mauern nötig, aber auch Öffnungen (Fenster), um die Welt in ihrer Unendlichkeit wahrnehmen zu können. Li Yu (1611 – 1680) schreibt: „In einem kleinen Fenster, das 10 Zoll misst, ein unendliches Bild.“ Kurz gesagt: Der Anschluss von Welt wird nur dadurch möglich, dass zunächst etwas ausgeschlossen wird, und dann, in der Verschiebung von Bewusstsein und Unbewusstheit, Welt erfahren wird. Verdichtete Inszenierung. Dieser gilt es auf den Grund zu gehen – ausgehend von einem Schauen, das, wie wir es von der Einsiedlerin Agafia Lykova kennen, in Landschaften nach dem zukünftigen Leben sucht.
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Der Wanderworkshop hatte meines Erachtens einen bedeutsamen Erkenntniswert für eine Gruppe, deren Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht nur wandern wollten und dafür beträchtliche Mühen auf sich nahmen, sondern dabei auch a) ihre eigene akademische Arbeit und b) die spezifischen Herausforderungen, die sich ihnen im interkulturellen Kontext stellen (in der zehnköpfigen Gruppe befanden sich sechs Chinesinnen und Chinesen, die sich an einer deutschen Universität promovieren oder ein Forschungsprojekt durchführen) im Blick hatten. Forschung darf sich, so sehe ich es, ästhetischer Herangehensweisen bedienen – diese sind allemal besser als essentialistische Zuschreibungen. Sie, die ästhetischen Herangehensweisen, müssen als solche nur bewusst reflektiert werden, wie es bei den Fenstern und den Turmbauten in der chinesischen Kulturgeschichte der Fall ist.