Für Xiong´an, eine neue Ökostadt 120 Kilometer südlich von Peking, plant der Spanier Vicente Guallart (ehemaliger Chefarchitekt von Barcelona) eine Siedlung mit einer durchgängigen urbanen Kreislaufwirtschaft. Das am Computer entworfene Modellprojekt Xiong´an basiert auf dem Leitbild einer Stadt der kurzen Wege, in der Menschen die meisten Ziele zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen. Dieses Ziel haben sich auch die Stadtplaner vieler europäischer Städte gesetzt. In Kopenhagen und Oslo wurden Autos bereits Schritt für Schritt aus dem Stadtzentrum verbannt. In Paris sollen bis 2024 rund 650 Kilometer neue Radwege dazukommen. Und in Japan baut Toyota am Fuß des Mount Fuji mit „Woven City“ gerade eine Laborstadt für ForscherInnen und MitarbeiterInnen des Unternehmens, in der Menschen, Gebäude und Fahrzeuge miteinander in einem vollständig vernetzten System verbunden sind. Im Untergrund fließen Daten, Strom und Wasser, aber auch Wasserstoff. Vorreiter solcher Smart Cities war Panasonic. Das Unternehmen wird 2022 in der Nähe von Osaka bereits eine dritte Modellstadt vorstellen. Zusammen mit den Bewohnern und Partnerfirmen untersucht der Konzern in seinen Laborstädten die Anwendung neuer digitaler Techniken in realer Umgebung. Mit der Digitalisierung besteht allerdings die Gefahr, dass nach der autogerechten Stadt mit der Smart City ein weiteres Mal ein technikgetriebenes Leitbild das menschliche Lebensumfeld in den Hintergrund drängt.
Was macht eine lebenswerte Stadt aus? Genügt es, wenn sie reibungslos funktioniert – mit fließendem Verkehr, sauberer Luft, wenig Lärm, viel Grün?
Stadtplanung ist kein einfaches, unkontroverses oder konfliktfreies Unterfangen. Soziokulturelle und ökologische, technokratische und ökonomische Aspekte müssen gleichermaßen Berücksichtigung finden. Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass die Stadt ein Ort sein kann, der viele Menschen aus unterschiedlichen Kulturen auf eine bereichernde Art und Weise miteinander wohnen lässt. Wir wissen aber auch, dass das Gegenteil der Fall sein kann. Allzu deutlich ist, dass die Technik es im Moment (und wohl nie) schafft, zufällige Begegnungen, die für das kulturelle Miteinander unerlässlich sind, zu reproduzieren. Nähe und Ferne, Distanzpositionen, Interdependenzen: ohne Gespräch eine zerfallende Welt. Meines Erachtens ist die Parkbank der Testfall für eine lebendige Stadt. Ist überhaupt noch jemand bereit, sich auf eine zu setzen oder zerlegt er/ sie sie gleich in ihre Einzelteile?
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Ich erinnere mich voller Freude an die gemeinsamen Stadterkundungen mit Christian Stelzer, von dem der heutige Gastbeitrag stammt. Ich habe dabei Achtsamkeit gelernt. Stadtplanung im Sinne von Komplettregulierung, Durchdigitalisierung und Bezugnahme auf menschliche Universalien, die in einer Smart City auf das Maß der Masse hochgerechnet werden können – niemals wären uns solche Gedanken bei unseren gemeinsamen Spaziergängen in den Sinn gekommen.
Der Begriff der „Masse“ gefällt mir überhaupt nicht. Er klingt nach Faschismus und Krieg. Menschen und ihre Kulturen sind unglaublich divers. Stehenbleiben, verweilen, sich umsehen, hören, sich selbst verorten und anderen Menschen ihren Platz lassen – damit wird man diesem Faktum gerecht. Manchmal ganz lange an einem bestimmten Ort oder in einem bestimmten Raum verbleiben; ganz ohne benennbaren Grund; losgelöst von Gedanken an Modellprojekte; vielleicht Blicke oder auch Worte austauschend; vielleicht aber auch gar nichts. Wenn dann zum richtigen Zeitpunkt an einem bestimmten Ort Musik erklingt, dann stellt der Flaneur unter Beweis, dass er nicht nur Ausdauer im Gehen, sondern auch im Sitzen hat.
Heinrich Geiger, 17.05.2022
GASTBEITRAG
Spaziergänge in West…
Vorwort
Heinrich Geigers Blogeinträge und verschiedene Gastbeiträge lesen wir mit Interesse. Seit unseren Hamburger-Zeiten Anfang der 80-er Jahre befreundet, tauschen wir uns von Zürich nach Bonn und umgekehrt über all die Jahre immer wieder in freundschaftlicher Verbundenheit aus. Seiner Aufforderung komme ich gerne nach und versuche ein paar Gedanken zu Papier zu bringen.
Allerdings: Angesichts eines brutalen, menschenverachtenden und zerstörerischen Krieges in der Ukraine und vor dem Hintergrund wachsender nationalistischer und populistischer Tendenzen in Europa, auch zunehmender Judenfeindlichkeit und immer grösser werdender Flüchtlingsströme, bin ich hin und her gerissen und sehr verunsichert, ob ich mich mit kritischen Gedanken, Wahrnehmungen und eigenen Betrachtungen überhaupt beschäftigen darf.
Als Architekt habe ich mich ein Arbeitsleben lang mit Räumen beschäftigt, als engagierter Musikant mit Raumklang und als Mediator mit verschiedensten Wahrnehmungen der Welt. Dies allerdings ausschliesslich im Westen – die östliche Welt ist mir selber weitgehend fremd und so bewegen sich meine physischen und gedanklichen „Spaziergänge“ ausschliesslich in der westlichen Welt.
Stadtspaziergänge
Unlängst, auf einem Spaziergang in Hamburg, durch die wunderschön renovierten „Stadthöfe“, lese ich an einer Wand: „Flanieren ist eine Art Lektüre der Strasse“. Wie wahr, denke ich, und nehme spazierend diese sehr sorgfältig aufgearbeiteten baulichen Zeugen aus einer anderen Epoche wahr. Eine kleine Reise durch die Geschichte. In der Langsamkeit des Spazierens – oder eben des Flanierens – liegt eine ganz eigene Qualität. Indem ich mich bewege, nehme ich Räume erst wahr und habe die Muße, meinen Gedanken dabei freien Lauf zu lassen.
In der Hafencity, diesem in absoluter Rekordzeit hochgezogenen neuen Stadtteil in Hamburg, stehen alte Hafenkräne am Quai des Baakenhafens. Sie begleiten die neuen Luxuswohnbauten und erinnern an die frühere Nutzung und Bedeutung dieses Ortes. Ich schlendere daran vorbei, unter einigen hindurch, und werde mir bewusst, wie anders das Leben für die Menschen gewesen sein muss, die hier hart gearbeitet und eben nicht so exklusiv und luxuriös gewohnt haben. Als Stadtwanderer wird Geschichte lebendig, lassen sich Räume wahrnehmen und Geschichte erahnen.
Architekt(o)ur
Ein Gang durch die neue Kunsthauserweiterung von David Chipperfield Architects in Zürich löst Beklemmung aus: Wie wuchtig steht dieser „Mocken“ als grosses Gebäude an der Strasse, wie unsensibel die allseitig gleiche Fassade. Keine horizontale Teilung in Sockel-, Mittelbereich und oberem Abschluss. Ohne stadträumlichen Bezug zu den beiden bestehenden Kunsthausbauten auf der gegenüberliegenden Strassenseite. Wie hilflos die paar Stühlchen und Tischchen entlang der Wand vor der Bar im Erdgeschoss. Und im Innern: Eine riesenmäßige Halle, mit Großtafelschalungen aus Beton gegossen. Den Blick in den dahinterliegenden Garten versperrt durch eine wuchtige, breite Treppe. Voluminöse Brüstungen und Übergänge, die beiden Seiten dieses Kunstbunkers verbindend. Ich stehe verloren in der grossen Halle und weiss nicht, in welche Richtung ich mich bewegen soll. Orientierungs- und richtungslos – Abbild einer allgemeinen Verunsicherung in unserer Zeit?
Wie raffiniert dagegen das Museum für angewandte Kunst in Frankfurt am Main von Architekt Richard Meier aus den 80-er Jahren: Schon beim Eintritt in dieses feine Haus geht mein Blick, vom natürlichen Licht geführt, in Richtung Rampe, die mich einlädt auf einen Rund-Gang, mit raffinierten Durchblicken, mit Ausblicken, mit räumlichen Querbezügen und mit Blickführungen auf ausgestellte Werke. Und wie sensibel der Umgang mit der alten Villa auf dem Grundstück, deren Grundmasse für den Entwurf bestimmend waren und mit der das neue Haus im Dialog steht.
In dieser Architektur darf ich mich bewegen, kann atmen – sie tut der Seele gut.
In der europäischen Architektur meine ich seit einigen Jahren eine Tendenz festzustellen: Weg vom differenzierten, räumlich anspruchsvollen städtebaulichen Entwurf, hin zu einfach und schnell erklärten Verhältnissen. Weg vom Aufeinander- Zugehen, weg vom Dialog zwischen den gebauten Protagonisten und hin zu möglichst simplen, plakativen und autistischen Lösungen. Eine Analogie zur politischen Entwicklung unserer Zeit? Ist diese Welt so komplex und kompliziert geworden, dass viele sich nach (vermeintlich) einfachen und schnell verständlichen Erklärungen sehnen? – Machthungrige Populisten haben einfaches Spiel.
Klangraum
Neulich in der St. Michaelis Kirche in Hamburg: Wieder einmal ein Orgelkonzert in diesem wunderbaren Kirchenraum! Ein herrliches Instrument, grossartiges Präludium und Fuge von J.S. Bach. Meine Gedanken kreisen, bewegen sich und Raum, Klang und Zeit kommen zusammen, werden Eins. Und irgendwann tut sich – nur ein ganz klein wenig – für mich der Himmel auf. Dieser Zustand des, wie ich es nenne, „nicht mehr“ und gleichzeitig des „noch nicht“ ist beglückend und macht mir einmal mehr bewusst, dass wir Wanderer und flüchtige Gäste auf diesem wunderbaren Planeten sind. Geschenkte Zeit! Wir sollten sie Sinn- voll und umsichtig nutzen – und unserem Planeten Sorge tragen.
Nachtrag
- Viktor Orban vom ungarischen Bürgerbund ist in Ungarn Anfang April zum wiederholten Mal und mit deutlichem Mehr als Ministerpräsident gewählt worden.
- In Serbien wurde der national- konservative Aleksander Vucic im April als Präsident deutlich bestätigt.
- Im Wahlkampf in Frankreich rückt Marie Le Pen vom „Rassembement National“ bedrohlich in die Nähe von Noch- Präsident Emanuel Macron. Es bleibt der zweite Wahlgang Ende April abzuwarten. Ausgang offen.
Christian Stelzer, Zürich / 12.04.2022
Christian Stelzer
Geboren und aufgewachsen in Zürich. Architekturstudium an der ETHZ (eidg. Techn. Hochschule Zürich) und später, berufsbegleitend Ausbildung zum Mediator. Erste Berufsjahre in Hamburg. Von 1985 bis 2017 in verschiedener Tätigkeit als Architekt, Projekt- und Teamleiter sowie als Bauherrenvertretung bei privaten und öffentlichen Bauträgern in Zürich tätig. Seit 2017 selbständig mit eigener Firma in den Bereichen Baumanagement und Mediation (www.stelzer-meba.ch). Die aktive Beschäftigung mit Musik (Querflöte/ Kammermusik) ist wertvoller Ausgleich zur beruflichen Tätigkeit.