Conditio humana

Frage eines Gehenden zu Beginn des Jahres 2022: Wie ist es aber, wenn der Mensch neue Wege einschlägt, die ihn Grenzen – Grenzen seiner selbst, Grenzen seiner Kultur – überschreiten lassen?

Diese Frage ist für unsere „Ästhetischen Spaziergänge zwischen Ost und West“ bedeutsam. Wie ich in einem meiner früheren Texte bereits zum Ausdruck gebracht habe, werden weglose Landschaften zwar romantisiert. Dennoch aber werden Landschaften mit einem gut ausgebauten Wegenetz präferiert – insbesondere wenn sie durch den Dschungel führen, den Aldous Huxley mit einem Pflanzenmonster verglich. Und auch die chinesische Philosophie/ Ästhetik lehrt uns, den Weg zu schätzen. Folgt der Mensch ihm, dann wird er erst der Natur gewahr. Folgt er ihm nicht, dann geht er in ihr als Wildnis verloren. Auf den Punkt gebracht: Das Gehen auf Wegen wird vorgezogen, weil Wege dem Menschen Orientierung geben und ihn mit all den Persönlichkeiten verbinden, die sie in der Vergangenheit beschritten. Sie geben denjenigen, die sich auf ihnen bewegen, zugleich Orientierung in den oftmals unwirtlichen Weiten der Landschaft wie in den unauslotbaren Tiefen der Geschichte. Wege in der Natur lassen sich, so mag es fast scheinen, mit sozialen Netzwerken vergleichen: Wer sich auf ihnen bewegt, ist kein Aussteiger; er kehrt immer in die Gesellschaft, aber auch in die Grenzen seiner eigenen Geschichte, die „Heimat“, zurück.

In Jorge Louis Borges´ Erzählung „Der Unsterbliche“ führt die Reise zu den unsterblichen Troglodyten den Erzähler zu der Erkenntnis, dass das endlose Leben die Erstarrung in der ewigen Wiederkehr des Gleichen und damit die äußerste Langeweile bedeutet. Die Erfahrungen von Glück, Intensität und Gegenwart würden verflachen, wenn die Farben des Lebens nicht vor dem dunklen Hintergrund des eigenen Todes leuchten. Oder, mit anderen Worten gesagt, würde der Mensch ohne die Verankerung seiner Wünsche und Werte in seiner eigenen menschlichen Natur den Orientierungsrahmen verlieren, der seinem Leben Bedeutsamkeit und Sinn verleiht. Es gilt also, auf der einen Seite die eigene leibliche Natur gegen ihre Herabsetzung, Entwertung oder Überwindung zu verteidigen und auf der anderen Seite die Bedingungen des eigenen Denkens und Fühlens anzuerkennen. Thomas Fuchs scheibt in seinem Aufsatz „Transhumanismus und Verkörperung“: „Geben wir uns daher mit der Conditio humana zufrieden. Sie ist vielleicht nicht das Beste, aber sicher auch nicht das Schlechteste, was uns geschehen konnte.“ (in: Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken, Jahrgang 50 (2020/ 2021), Max Himmelheber-Stiftung (Hrsg.), Stuttgart: S. Hirzel Verlag, 2020, S. 222 -241, Zitat: S. 239). Mit diesen Worten überzeugt der promovierte Medizinhistoriker und Philosoph Fuchs mich, der ich auf den Spuren Zong Baihuas ästhetisch wandere und, wie Zong, davon überzeugt ist, dass der Spaziergang weder Plan  noch System hat, aber dennoch zu Beobachtungen führt, die der Logik zugänglich sind.

Gehen – Weglosigkeit – Wildnis – Conditio humana. Der chinesische Schriftsteller und später einflussreiche Kulturpolitiker Guo Moruo (1892-1978) übersandte Zong Baihua in einem auf den 18.1.1920 datierten Brief drei Gedichte zur Lektüre („Brief an Zong Baihua. Guo Moruo“, aus dem Chinesischen von Ingo Schäfer, in: minima sinica, Jahrgang 15, 2003, Nr.1, S. 80-98. Das nachfolgend zitierte Gedicht findet sich auf S. 85). Eines davon lautet:

Auf der Suche nach dem Tod

(geschrieben vor vier Jahren)

Ich durchschritt das Tor, den Tod zu suchen.

Am Himmel zerfloss ein verlassener Mond.

Meine Seele gefror im kalten Wind.

Bitterer Hass wühlte in mir.

Wohin in nicht endender Weite?

Jeder Schritt von Seufzern begleitet.

Unfähig war ich, den Tiger zu malen,

Ein Strohhund in dieser Welt.

Erbärmlich friste ich ein nichtiges Leben.

Leicht gefasst der Entschluss zu sterben.

An die Familie dachte das närrische Herz, an die Heimat.

Wieder in der Menschenwelt,

Tret´ ich ein ins Haus

Und finde die Liebste in Tränen.

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5 Kommentare

  1. Lieber Heinrich
    Der Tod als Hintergrund vor den umso leuchtenderen Farben des Lebens – ein sehr schönes trauriges und zugleich ermutigendes Bild. So ist es um unsere Existenz bestellt. Mich wundert, dass ich so fröhlich bin. Wahrscheinlich will wir den Tod ständig verdrängen. Da finde ich’s das von dir gewählte Bild würdevoller
    Herzliche Grüße von Heinz

    1. Lieber Heinz,
      mit dem Begriff der „Würde“ hast Du einen wichtigen Begriff in unseren Gedankenaustausch eingebracht. Würde zeichnet den Flaneur, den Spaziergänger – zumindest nach meiner Auffassung – aus. Zuvor schreibst Du, dass es Dich wundert, angesichts der Bedingtheit unserer Existenz so fröhlich zu sein. Dazu folgendes: „Felix“ ist derjenige, dem es nicht an einem Außen mangelt, das das Innen öffnet und sich darin entfaltet. Jean-Luc Nancy hat dies in seinem Buch „Körper“ auf Seite 168 sehr schön formuliert. Er schreibt: „Keinen erschöpfenden Lauf nach dem Grenzenlosen, sondern in jedem Punkt, in jedem Moment die fühlbare Gegenwart dessen, was jedes Maß überschreitet.“ Würde und Fröhlichkeit – sie sind sich keineswegs fremd.
      Heinrich

  2. Lieber Heinrich,
    das Gedicht hat einige Parallelen zu den Romantikern des vorletzten Jahrhunderts. Da schwingt bei einem Novalis auf der Suche nach der Blauen Blume auch so ein Abgerücktsein von der Alltagswelt mit, getragen von einer depressiven Grundstimmung. Warum durchschreitet er das Tor nicht, um das Leben zu suchen? Den Gedanken an die Familie findet er närrisch und wundert sich, dass da jemand ist, der ihn liebt und zur Trauer bereit ist. Den Tod zu suchen ist närrisch, denn er ist allgegenwärtig, mein ständiger Begleiter.
    Ewiges Leben führt andererseits unweigerlich zum unstillbaren Wunsch, endlich sterben und gehen zu dürfen. Stell dir vor, die Menschheit ist längst vergangen, die Erde ebenso und du kreist noch immer einsam um die Sonne. Die Endlichkeit, da stimme ich mit dir völlig überein, macht das Leben reich und mich fähig, diesen Reichtum zu schätzen.
    Ich hab mal den Carlos Castaneda gelesen, der bei einem indianischen Zauberer in Mexiko eine Lehre gemacht hat. Dieser Don Juan Matus hat ihn gelehrt, den Tod als Ratgeber zu sehen, was darin gipfelt, dass du jede Handlung, die du tust, und sei es nur das Schnürsenkelbinden, so bewusst tust, als sei es die letzte Handlung in deinem Leben. Versuch das mal, dann erkennst du den höchsten Anspruch an Achtsamkeit (wovon an anderer Stelle in deinem Blog schon mal die Rede war).
    Zu deinen Zeilen über das Begehen von Wegen:
    Auf den Wegen der Vorderen zu gehen, gibt Sicherheit, aber du kommst überall hin, wo sie schon waren. Ich habe mal den Satz gelesen: Wenn ich die Wahl zwischen zwei Pfaden habe, wähle ich den weniger ausgetretenen. Den habe ich mir zum Lebensmotto gemacht. Er fordert meine Kreativität immer wieder heraus; man muss gar nicht so mutig sein, aber neugierig. Es kann sich herausstellen, dass ich auf einem Holzweg unterwegs war, der irgendwo endet. Dann kehre ich um.
    Gleichzeitig ist der Weg, wie du schreibst, ein Orientierungsrahmen, der es mir erleichtert, unterwegs zu sein. Meistens weiß ich auch, wohin er mich führt, dorthin, wo Menschen sind, auf deren Anwesenheit ich als Bindungswesen angewiesen bin.
    Beim Nachdenken über ästhetische Spaziergänge ist mir ein Begriff in den Kopf gekommen, den ich gleich mal nachgeblättert habe. Wandeln.
    Ich habe den Eindruck, dass dieser Begriff deinen Blog ganz schön beschreibt.
    Spazierengehen hat für mich den Charakter des Beiläufigen, Leichtfüßigen, das Ziel ist nebensächlich, wenn es nicht die Terrasse eines Wirtshauses ist, wo ich meinen Durst löschen will. Als Ausrüstung tut es meist ein Regenschirm.
    Wandern ist zielgerichtet. Ich gehe eher zügig, möchte eine gewisse Strecke schaffen, habe meist mehr oder weniger Gepäck dabei und stelle mich auf eine lange Strecke ein.
    Wandeln dagegen hat nicht diesen schlendernden Bewegungsablauf, sondern ist eine Form des Schreitens. Jesus wandelt über den See Genezareth, der schlendert nicht. Selbst der Schlafwandler bedient sich einer besonderen Form des Gehens. Wir wandeln auf den Spuren der Vorfahren. In Heilbädern gibt es oft eine Wandelhalle. In einem Barockgarten kann man lustwandeln, der Lebenswandel beschreibt schon fast einen Teil meines Daseins usw.
    Gleichzeitig hat der Begriff die Bedeutung der Veränderung, der Erneuerung, des Umbruchs, des Sich Wandelns.
    Daneben findet sich auch die Bedeutung des Anwandelns, also des Anstoßens. Das kann eine Erfahrung meines Ellbogens mit der Wand sein, aber auch ein geistiges Anwandeln, wie ich die Ästhetischen Spaziergänge verstehe, also beim Gehen neue Gedanken anstoßen, die mich ein bisschen anders nach Hause kommen lassen, als ich fortgegangen bin, eine Miniwandlung sozusagen, wenn dir dieser Ausdruck nicht zu albern erscheint.
    Ich habe solche Gedanken nicht beim Spazierengehen, sondern eher am Morgen zwischen Schlafen und Aufwachen, vielleicht ein ästhetisches Träumen.
    Liebe Grüße
    Harald

    1. Lieber Harald, ja, der Geist der deutschen Romantik spricht aus dem Gedicht Guo Moruos. Und das ist nicht etwa nur für die Dichtkunst Guos festzustellen. Denn im Geiste der Bewegung vom 4. Mai 1919 haben viele junge Chinesen eine Erneuerung Chinas aus deutschem Geist angestrebt. Zong Baihua, dessen „Ästhetische Spaziergänge“ meinem Blog den Namen gegeben haben, zählt auch zu ihnen. Für Guo Moruo und Zong Baihua ist Novalis deswegen von Bedeutung, weil es ihnen nicht allein um die Wahrnehmung der Dinge geht, sondern um den Sprung, der von der Wahrnehmung zu einer Wesensschau führt („blaue Blume“). Sofern diese Empfänglichkeit für Bilder dem Menschen zukommt, kann jeder „Dichter“ sein. „Ursprünglichkeit“ wird zum einzigen, schlechthin grundlegenden Wertkriterium der Kunst; in ihrem Geist sollen die traditionelle chinesische Dichtkunst und die überlieferte chinesische Kultur insgesamt eine Erneuerung erfahren – aus diesem Wunsch leben die Gedichte Guo Moruos und Zong Baihuas in dieser Zeit.
      Spazierengehen – Wandeln: Durch die „Spaziergänge“ der Impfgegner und Corona-Leugner hat das „Spazieren“ einen bestimmten Beigeschmack bekommen. Auch wenn in dem Artikel „Randale statt Plätzchen“ in der SZ vom 10. Januar 2022 erst letzthin festgestellt wurde, dass der provokative „Spaziergang“ nicht von den Impfgegnern und Corona-Leugnern von Dresden und München erfunden wurde, sondern bereits aus den 1960er Jahren bekannt ist, möchte ich ihn nicht im Sinne einer Aktion oder Provokation verstanden wissen. Mit dem Begriff des „Wandelns“ gibst Du mir einen Begriff in die Hand, mit dem ich all das verdeutlichen kann, was mir wichtig erscheint, wenn ich von „Spazieren“ spreche. Es ist „eine besondere Form des Gehens“, wie Du sagst. Du charakterisierst sie mit dem Begriff des „Schreitens“, der mir gut gefällt, weil er die „Würde“ mit ins Spiel bringt, von der Heinz Theisen in seinem Kommentar spricht. Eine „Miniwandlung“ durch das Spazieren, die allerdings der eigenen Person gilt und nicht der Gesellschaft und deren Strukturen, wie es die Spaziergangsprovokationen in den 1966er und in den 2021er Jahren meinten. Diese „Miniwandlung“ im Laufe eines Vorgangs des „Wandelns“ scheint mir die bessere Option zu sein, wenn ich bedenke, dass wir wieder lernen müssen, nicht nur wegen Corona – es gibt viele Gründe hierfür, ich denke u.a. an die Klimakatastrophe, die mörderischen Wirren in Myanmar und Kasachstan – im weltlich Unvollkommenen zu leben. Guo Moruo und Zong Baihua waren sich dessen bereits in den 1920er Jahren bewusst. Ihr Wissen ist leider im heutigen China, das den „Wissenschaftlichen Sozialismus“ propagiert und mit ihrem „Social Credit System“ keine Lücken für Unvollkommenheiten lässt, verloren gegangen.
      Heinrich

      1. Lieber Han,
        Ich benütze deinen chinesischen Namen, weil du dem chinesischen Volk nützlich bist, in dem was du mit deinem Blog aufzeigst. Ich möchte dich insofern aufmuntern, denn das Wissen von Guo Morou und Zong Baihua ist nicht verloren, sondern lediglich verschüttet. Und du bist einer von den Schatzsuchern, die es wieder ausgraben. Dazu weiterhin viel Erfolg.
        Harald

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