Wir tragen schwere Wanderstiefel, unsere Rücksäcke lehnen an der Glasfront eines Supermarktes. Wir trinken Kaffee. Der Kleinlaster, in dessen Fahrerkabine drei Männer sitzen und bei laufendem Motor auf einen vierten warten, hat zum Glück so eingeparkt, dass sein Auspuff nicht in unsere Richtung weist. Neben uns sitzt ein Mann, der den Blick auf den großen Parkplatz so zu genießen scheint, wie der einsame Wanderer den Blick über weite Naturlandschaften. Sein Bauch ähnelt den Hügeln, über die uns unser Weg entlang des Lahntals führen wird. Menschen steigen aus ihren Fahrzeugen aus, andere steigen ein, wobei nur diejenigen diesen Vorgang mit Souveränität meistern, die einen SUV fahren. Leichterdings entgleiten sie ihren Autos oder gleiten in sie hinein, während sich die meisten Kleinwagenfahrer äußert schwer mit dem Ein- oder Ausstieg aufgrund ihrer Körperfülle tun. Erste Erkenntnis: Es gibt unterschiedliche Arten des Stoffwechsels.
Dank unseres Aufenthalts in einem Gewerbeviertel gewinne ich die nötige Distanz zu mir selbst. Der Wanderernst bekommt eine Delle. Ich beginne unsere mehrtägige Wanderung als ein Experiment zu verstehen. Indem unsere ganze Aufmachung – die Wanderstiefel, der Rucksack, die Gehstöcke – aufs Merkwürdigste mit all den Röckchen, Boxershorts, Einkaufstäschchen und -wagen rings um uns herum kontrastiert, werde ich mir klar, dass das Wandern einer Versuchsanordnung entspricht, mit der wir die vagen Umrisse des Unbekannten, das wir als „Natur“, „Landschaft“ oder auch „Umwelt“ bezeichnen, zu erkunden versuchen.
Als Wanderer, der noch nicht losgewandert ist und sich noch nicht über weite Wiesen oder durch Wälder bewegt, sondern kaffeetrinkend neben einem Parkplatz-Romantiker vor einem Supermarkt sitzt, werde ich mir der Situation bewusst, in der mein Freund und ich uns befinden. Mittlerweile hat sich die Romantik, zumindest in ihrer Ausprägung des 21. Jahrhunderts, jenseits der alten Klientel neue Vertreter gesucht: Es ist nicht mehr nur der Wanderer, der beseelt von ihr ist, sondern auch der Konsument, der im Sitzen von neuem Glück träumen darf. Novalis (Friedrich von Hardenberg) stellte in einem seiner Fragmente fest: „Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge.“ Diesem Satz liegt die Auffassung zugrunde, dass der Mensch suchend eine Bewegung vollzieht, die auf ein Ziel gerichtet ist – dieses aber nie erreicht. Und mehr noch: Das Ziel nicht nur aus irgendwelchen zufälligen Gründen niemals erreicht, sondern weil es nie zu erreichen ist. Die Suche ist endlos und sie findet „überall“ statt. Wer etwas sucht, das nicht zu finden ist, kann sehnsüchtig in die Ferne blicken – wie wir Wanderer es tun, die von ihrem Platz vor einem Supermarkt aus in die Berge hinter der Stadt schauen; aber auch wie der Mann neben mir, der von neuem Glück träumt, vielleicht einem „Schnäppchen-Menü“.
Novalis spricht vom Unbedingten, demjenigen, was nicht bedingt ist, womit er die transzendentalphilosophische Wende Kants aufnimmt. Laut Kant kann man kein sicheres Wissen mehr über das „Wesen der Dinge“, über etwas ewig Gültiges, über Gott oder die unsterbliche Seele haben. Nimmt man den Romantiker Novalis ernst, dann ist gerade das stabilisierende Gefühl, Teil einer großen Ordnung zu sein (das viele Wanderer haben), fragwürdig. Der menschliche Verstand ist auf innerweltliche Phänomene zugeschnitten: er kann daher nicht die Welt im Ganzen erfassen und stößt deswegen, laut Novalis, immer nur auf Dinge.
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Um die transzendentalphilosophische Wende Kants nachvollziehen zu können, versuche ich unter den Bedingungen der bereits oben beschriebenen Situation, in der mein Freund und ich uns befinden, der Frage nachzugehen, wer denn nun der „bessere“ Romantiker ist: mein Nachbar oder ich? Dabei beginne ich die Hügel der Landschaft als Pendant zu dem „Hügel“ in der Mitte des Körpers meines Nachbarn zu sehen. Durchgängig gilt, dass wir, wie Novalis es uns bedeutet, in der uns umgebenden Welt bleiben, in der alle Einsichten vorläufig sind. Nämlich als Teil einer Umwelt, die keinen festen, von den Organismen unabhängigen Parameter darstellt, sondern durch sie durchaus einschneidend verändert werden kann und auch wird. Neue Dinge tauchen auf: Böden, die, obgleich es wochenlang geregnet hat, nach zwei Tagen bereits wieder ausgetrocknet sind; „Waldwege“, auf denen man aufgrund ihrer Verdichtung durch schwere Fahrzeuge geht wie auf Beton.
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Natur und Kultur sind keine fixen Gegensätze. Sie können sich nahekommen, aber auch wieder auseinandertriften. Während ich mir diesen Gedanken immer wieder auf meinem Stuhl vor dem Supermarkt vorsage, kommt endlich die Wendung, mit der das gesamte Programm der Wanderromantik in meinem Kopf wieder mit Leben erfüllt wird. Aufgrund der Einsicht, dass Natur und Kultur immer wieder auseinandertriften können und auch das Suchen niemals an ein Ziel gelangt, werde ich mir der Tatsache bewusst, dass jeder, der wandert, in eine „unendliche“ Tätigkeit gerät, niemals mit dem Gehen, aber auch niemals mit dem Fragen, dem Nachdenken und dem Suchen fertig wird. Es gibt vielleicht einzelne Momente der Erkenntnis oder auch Fortschritte auf dem Weg, der zu gehen ist, aber kein endgültiges Ankommen.
Als wir dann am folgenden Tag an einem Aussichtspunkt bei herrlicher Wolkenbildung über die mit gelben Rapsfeldern durchzogene Landschaft blicken, werden in mir alle Gegensätze von hügeligen Körpermitten und hügeligen Landschaften hinfällig. Während ich vor meinem inneren Auge meinen Nachbarn von Gestern zufrieden den Parkplatz beobachten sehe und mir vorstelle, wie er beim Einbiegen von so manchem PKW erwartungsvoll zu blicken beginnt, erfahre ich auf unserem Weg durch Wiesen und entlang von dichtbewachsenen Hecken, dass sich in der Natur Großes und Kleines durchkreuzen. Wir bewegen uns im Anthropozän – einer Zeit, in der die Wirklichkeit gegen uns aufzustehen droht. Nichts wäre wichtiger als eine Einweisung in diese Wirklichkeit, sodass wir in ihr bestehen können. Ist nicht das Wandern ein Teil einer solchen neuen Mythologie, indem es uns auf Dinge stoßen lässt?
Lieber Heinrich,
dein humorvoller Text zu einem Wanderworkshop hat mich dazu angeregt, ein paar Partikel daraus weiterzuspinnen.
Ich habe den Eindruck, dass du diesen Novalis auf seiner Suche nach der Blauen Blume und seinen Sehnsüchten nahe der Melancholie dingfest zu machen versuchst. Bei mir fängt das schon beim Pilze sammeln an: Ich bin ein guter Sucher, aber ein schlechter Finder. Beim Undinglichen fällt es mir noch viel schwerer, überhaupt Ziele zu formulieren.
Die „innerweltlichen Phänomene“ lässt Carlos Castaneda in seinem Band “Eine andere Wirklichkeit“ von dem Schamanen Don Juan Matus so beschreiben, dass wir ständig versuchen, die Welt durch unseren inneren Dialog aufrecht zu erhalten. Wir beschreiben sie, indem wir dinglich denken; da ist er dem Novalis offenbar nicht fern. Erst durch das Abstellen des inneren Dialoges eröffne sich eine neue Wirklichkeit. Kann ich eventuell auf diese Art meine Wahrnehmung erweitern?
Du beschreibst das Wandern als eine „unendliche Tätigkeit“, die niemals fertig wird. Ich denke, es gibt einen Unterschied zwischen „fertig werden“ und „beenden“. Das ist wie in der Kunst: Ein Bild wird niemals fertig; der Künstler entscheidet, wann er aufhört. Der Künstler Pierre Bonnard wurde einmal erwischt, als er in einem Museum an einem seiner dort aufgehängten Bilder heimlich weitergemalt hat.
Deine Wahrnehmung der herrlichen Wolkenbildung kommt für mich nahe an die Vorstelllung des Undinglichen: Manche Wolken sind durchscheinend, andere dunkel, schwer, düster, beängstigend als Gewitter heranziehend, als Schönwetterwolken freundlich und ständig ändernde Gestalten bildend, manche klar konturiert, andere konfus sich auflösend und wieder neu zusammensetzend, in unterschiedlichen Aggregatszuständen als Dampf, Wasser oder Eis; in jedem Fall unfassbar.
Nachdem ich auf diese Weise ein bisschen auf deinem Text herum gekaut habe, erlaube ich mir, den meinen (with a wink) als „dentalphilosophisch“ zu bezeichnen.
Oder um einen fernöstlichen Bezug herzustellen: 天上的雲和畫中的雲同樣不可觸碰。
Liebe Grüße