Atmosphären-Ästhetik (Zhuofei Wang, Gudula Linck)

Es war Ende der 1960er Jahre, erinnert sich Hamish Fulton, als er mit seinem Freund und Künstlerkollegen Richard Long durch Londons Innenstadt spazierte. Ob es wohl möglich wäre, überlegten die beiden damals, in der Masse der Passanten einen Menschen zu entdecken, der von Dovers Fährhafen aus in die Oxford Street gelaufen ist? Und dann ergänzten sie: Nachdem er sich in Calais eingeschifft hatte. Und ergänzten weiter: Nachdem er von Wladiwostok aus nach Calais gewandert war. Und vielleicht haben sie den Fußmarsch in Gedanken noch weiter zurück, noch weiter in die Ferne gesponnen. Wandern. Unterwegssein. Tagelang, wochenlang, monatelang.

Für Fulton und Long wurden viele Bezeichnungen gefunden – nicht alle zu Recht. Man hat sie Fotografen genannt, weil sie ihre Wanderungen mit der Kamera dokumentieren. Sie wurden als Bildhauer bezeichnet, weil sie Spuren in der Landschaft hinterlassen. Sie gelten als Maler, weil sie Gebirgslinien an die Wände von Museen pinseln oder dünnflüssigen Schlamm dagegen spritzen, bis er zu bizarren Strukturen verläuft. Man nennt sie Poeten, weil sie die Erfahrungen ihrer Touren in wenigen Worten wie Gedichte präsentieren. Manchen gelten ihre Arbeiten auf Papier als eigenständige Werke, anderen bloß als Dokumente der jeweils vorausgegangenen Wanderungen. Ihr eigentliches Medium aber ist das Gehen selbst. „Ich bin kein Wanderer, der Kunst macht“, sagt Fulton, „sondern ein Künstler, der wandert.“ Das Gehen ist den beiden zum Maß aller Dinge geworden. Selbst die Zeit definieren sie so: als eine „Anhäufung von Schritten“.

*

Der japanische Dichter Santoka Taneda soll zwischen 1926 und 1940 insgesamt 45000 Kilometer zurückgelegt haben. Er schrieb folgendes Haiku: „Der Mond geht auf, ich warte auf nichts.“  

*

Das „Andere der Vernunft für das Selbstverständnis des Menschen zurückzugewinnen, das war meine Arbeit der letzten 30 Jahre“. So beschrieb der Anfang 2020 verstorbene Gernot Böhme 2012 seine Forschung. Dieses „Andere der Vernunft“, das waren nach Böhme „inhaltlich die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefühle“. Ich empfinde es als großes Glück, dass Gudula Linck uns nachfolgend eine Arbeit vorstellt, die genau in dieser Tradition steht. Die Rezensentin selbst ist eine begeisterte Geherin, mit ihren Arbeiten hat sie einen wichtigen Beitrag zur Neuen Phänomenologie geleistet. (Von der Autorin des Buchs „Atmosphären-Ästhetik“ ist mir unbekannt, ob sie auch das Gehen zu ihrer Leidenschaft gemacht hat?) Eine Vorstellung der letzten Buchveröffentlichung von Gudula Linck „Inmitten von Qi. Phänomenologie des Naturerlebens“ (Freiburg: Karl Alber, 2022, ISBN 978-3-495-99876-2) findet sich in diesem Blog. Im Vorwort schreibt sie: „Was unter die Haut geht, draußen in der Natur oder beim Lesen eines Gedichts, sind Stimmungen und Atmosphären, die anmuten und berühren.“

Bonn, 09.04.2024                                                                                                  Heinrich Geiger

Zhuofei WANG: Atmosphären-Ästhetik. Die Verflochtenheit von Natur, Kunst und Kultur. Baden-Baden: Karl Alber im Nomos-Verlag, 2024. 415 Seiten, 99,00 Euro. ISBN 978-3-495-99924-0

Dies ist keine Buchbesprechung im strengen Sinn einer kritischen Inhaltsangabe. Ich möchte ausschließlich beim Titel verweilen, d. h. die dort genannten Schlüsselwörter erläutern, gelegentlich aus dem Buch zitieren und auf diese Weise das Anliegen der Autorin, Sinn und Aufgabe einer Atmosphären-Ästhetik deutlich machen.

Für viele bedeutet Ästhetik die Lehre vom Schönen- in der Natur wie in der Kunst. Damit geht im Einzelfall ein Urteil einher, so dass Kunstkritik zu dieser Disziplin wesentlich dazu gehört.

Atmosphären-Ästhetik will auf etwas anderes hinaus, und zwar auf den ursprünglichen Sinn des Wortes: von griech. aisthánesthai „durch die Sinne wahrnehmen“. So gesehen wäre Ästhetik zu allererst die Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung bzw. eine Erkenntnistheorie, die auf die Sinne vertraut, zumal „die Fülle der Dinge nicht vollständig durch begriffliches Wissen erfasst werden kann“ (Wang, S. 19). Um den Unterschied zur Lehre vom Natur- und Kunstschönen bewusst zu machen, bietet sich der Begriff Aisthetik an, der an die anfängliche Bedeutung anknüpft.

Wenn Ästhetik im Sinne der Aisthetik Wahrnehmungen aller Art thematisiert, dann muß zu dem „sinnlich“ ein „leiblich“ hinzu. Die Einzelsinne bleiben nämlich beim Körper stehen und geben Auskunft auch aus der Distanz heraus: „Was sehe ich?“ „Was höre ich?“ Sobald wir aber Wesen und Dinge am eigenen Leib spüren, ist der Abstand deutlich zurückgenommen. Die Wahrnehmung mag diffus sein, und doch wissen wir schlagartig, worum es geht, denn wir sind mittendrin! Betrete ich z.B. eine fremde Wohnung, dann spüre ich unmittelbar und ohne Einzelheiten zu fokussieren, eine bestimmte Atmosphäre, die mir über die Person, die hier zuhause ist, etwas erzählt. Auch die sogenannte „dicke Luft“ wird leiblich gespürt und warnt mich, dass hier Menschen miteinander im Streit sind.

Mit diesen Beispielen sind wir beim zweiten Schlüsselwort: Atmosphäre. Dazu legt das Buch verschiedene Konzepte vor, die sämtlich die ursprüngliche Bedeutung des Wortes von griech. atmos „Dampf, Dunst“ und sphaira „Kugel“ durchscheinen lassen. Atmosphäre zielt dem anfänglichen Wortsinn nach auf den Dunstkreis der Himmelskörper, die Erdhülle oder, wenn der Mond „Hof hält“ mit dem Licht. Noch im 19. Jahrhundert ist das Wort auf diesen klimatisch-meteorologischen Sinn beschränkt. Alltagssprachlich gesellt sich im letzten Jahrhundert die Bedeutung „Milieu“, „Stimmung“ und „Ausstrahlung“ im Sinne der Aura hinzu: So kann eine Landschaft eine „heitere“ oder „düstere“ Atmosphäre ausstrahlen; so umgibt den Menschen, der zornig gestimmt ist, eine unsichtbare Mauer, an der sich sein Gegenüber stößt; so wirkt ein Raum wie die von mir besuchte Wohnung irgendwie „gemütlich“ oder „kühl“ und lädt zum Verweilen ein oder eben nicht. All dies wird eigenleiblich gespürt, wobei die einzelnen Sinne ihren Teil dazu beitragen.

In den letzten Jahrzehnten wandelte sich das Wort „Atmosphäre“ zum tragenden Konzept einer neuen Ästhetik, die sich weigert, ein Kunstwerk auf seinen Sinn zu reduzieren. Dem steht nämlich entgegen, dass schon das Bild selbst, unabhängig von der Bedeutung, in seiner ganz spezifischen Präsenz bei Anwesenden ein Erleben bewirkt. Als Walter Benjamin (1892-1940) den Begriff der Aura einführte, kam er dem Atmosphärenbegriff dieser neuen Ästhetik sehr nahe: Was er „die Aura atmen“ nennt, heißt nämlich, die Atmosphäre in das eigene Befinden einzulassen: „As we enter a space, the space enters us, and the experience is essentially an exchange and fusion of the object and the subject.“ (Pallasmaa, zit. in: Wang, S. 319)

Atmosphären sind, so gesehen, räumlich ergossene Gefühle, die mich umfangen, umhüllen, tangieren, berühren und mich auf diese Weise in meiner aktuellen Befindlichkeit verändern. Da ist zum einen die emotional aufgeladene Gesamtsituation; zum anderen bilden auch Einzeldinge – im Zusammenspiel ihrer je eigenen Materialität, Formgestalt, Farbe, Töne und Geruch – spezifische „Sphären einer Anwesenheit“ aus, die in die Gesamtatmosphäre einfließen oder unabhängig davon wirksam sind – immer vorausgesetzt, ich lasse mich sinnlich-leiblich darauf ein und gehe nicht bewusst auf Distanz.

Atmosphäre ist also geteilte Wirklichkeit, eine „gemeinsame Situation“ (H. Schmitz): „Als Zwischensein betrifft Atmosphäre weder ein Einzelding noch ein rein subjektives Empfinden, sondern ein Quasi-Objekt, das Umgebungsqualitäten mit menschlichen Befindlichkeiten integriert und sich durch ästhetische Wirkungen wie… Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit auszeichnet.“ (Wang, S. 12)

Atmosphären sind überall: in der Natur, in den von Menschen bewohnten und frequentierten Räumen; sie sind von selbst da oder von Menschen gemacht: Die schroffe Wildnis hoher Berge weist den Wanderer ab, die sanften Hügel im Tal locken ihn an; der Frühling weckt die Lebensgeister, der Herbst stimmt melancholisch; die schlanken Säulen im Freiburger Münster (Gotik) ziehen den spürenden Blick bis unters Gewölbe, der Mainzer Dom (Romanik) schenkt ein Gefühl von Geborgenheit; der Rhythmus eines Gedichts ergreift mich anders als die Prosa eines Romans; ein Streichquartett von Schubert fährt mir anders in den Leib als Rock und Pop; ein Mensch, der aufrecht geht, füllt anders den Raum als ein Mensch, der geduckt über den Boden schleicht…

So lautet bisher eine Bestimmung von Atmosphären wie folgt: Sie treten räumlichzeitlich in Erscheinung; sie werden am eigenen Leib gespürt, selbst dann, wenn sie in Kunst, Alltag und Design bewusst hergestellt sind; sie unterscheiden sich in ihrer Sinnlichkeit (Sehen, Hören), Kognition (wissenschaftliche Interpretation), Medialität (Nebel, Regen) und Kulturalität (s. u.). Im urbanisierten Raum zeigt sich, dem Buch zufolge, darüber hinaus eine Durchmischung von Wahrnehmen und Handeln, von Miterlebbarkeit und Gestaltbarkeit, von Sinnlichkeit und Kognition und nicht zuletzt von Kultiviertem und Unkultiviertem.

Wenn es stimmt, dass Atmosphären „den Grundton unserer Lebenserfahrung bilden“ (Wang, S. 12), dann bedarf es dringend einer Atmosphären-Ästhetik, d. h. einer Disziplin, die sich intrakulturell und interkulturell damit auseinandersetzt, wie sich Umgebungen (natürliche, naturnahe oder urbane) auswirken, sich manifestieren in sinnlich-leiblicher Betroffenheit. Atmosphären-Ästhetik ist dann Voraussetzung für eine „Renaturierung der technisch und industriell geschädigten oder zerstörten Umgebung“ (Wang, S. 14), ist unumgänglich, um künstlerische Praktiken und der Kunst nahestehende Praxisformen (Materialästhetik, Design…) in Landschaftsgestaltung und Stadtplanung einzubeziehen, damit wir uns heimisch fühlen in einer zunehmend urbanisieren Welt.

Nicht zuletzt hat Atmosphären-Ästhetik eine eminent kritische Funktion, da Atmosphären immer und überall auch manipulativ einsetzbar sind, „aufgrund der Tatsache, dass nicht jede gestaltete Atmosphäre eine positive Wirkung hat. Manche können physisch, psychisch und spirituell negativ oder sogar schädlich sein. Wie schafft man eine Atmosphäre, die als sinnvoll erfahren werden kann?“ (Wang, S. 123) Dies ist eine ästhetisch-ethische Frage und hat mit Resonanz (Rosa) zu tun.

Die Verflochtenheit von Natur, Kunst und Kultur ist das dritte im Titel genannte Thema. Unser Körper-Leib ist zwar „Natur, die wir selber sind“ (G. Böhme). Wie wir aber die Welt wahrnehmen, agieren und reagieren, ist nicht nur individuell und situativ, sondern auch kulturell geprägt im weitesten Sinne des Wortes: „Ob Farben, Klänge oder Gerüche Vergnügen bereiten, lässt sich in vielen Fällen auf soziale Hintergründe und kulturelle Wurzeln zurückführen.“ (Wang, S. 152-153)

Um zu zeigen, wie Natur, Kunst und Kultur miteinander verknüpft sind, greift das vorliegende Buch über weite Strecken auf Phänomene des Wetters zurück. Dabei geht es um die Wahrnehmung und (bild)künstlerische Gestaltung von Nebel, Regen, Schnee, Licht und Schatten, Wind und Wolken in verschiedenen Epochen und Kulturen.

Auch von zeitgenössischen Kunstprojekten und deren Bedeutung für eine Atmosphären-Ästhetik weiß das Buch zu berichten. Ausgiebig verweilt die Autorin beim sogenannten Weather Project, dasder dänisch-isländische Künstler Eliasson 2003 im Tate Modern Museum in London realisierte. Bei dieser spektakulären Installation ging es um die Verflochtenheit von Natur, Kunst und Alltagserleben. Hier konnten Besucher am eigenen Leib erfahren, dass die sogenannte Wirklichkeit das Ergebnis einer Interaktion ist zwischen Umfeld und Mensch.

Am Schnittpunkt von Natur, Kunst und Kultur liegen nicht zuletzt Alltagserfahrungen im städtischen Raum, wo Naturatmosphären (Jahres- und Tageszeiten), naturnahe Atmosphären (Grünanlagen) und urbane Atmosphären (Gebäude, Straßen und Plätze) zusammenkommen und zusammenwirken. Neben architektonischen und stadtplanerischen Besonderheiten entscheiden Klänge und Geräusche, Düfte und Gerüche darüber, ob die Menschen sich wohlfühlen in ihrer Stadt. Auch hier bietet sich ein weites Feld zeitgenössischer Atmosphären-Ästhetik.

Dankbar für die Fülle an praktischen Beispielen aus einer neuen Disziplin, für die ordnende Übersicht und theoretischen Überlegungen, möchte ich abschließend noch einmal die Autorin selbst zu Wort bitten: „Die Komplexität der Atmosphärenerfahrungen deckt eine Vielfalt von Lebenserfahrungen auf… und eröffnet gleichzeitig weitgehend neue Horizonte für eine global orientierte Ästhetik… Der durch den… Austausch ermöglichte Perspektivenwechsel würde blinde Flecken in unserer ästhetischen Wahrnehmung aufdecken… und so dazu beitragen, eine andere (und vielleicht bessere!) Version von uns selbst zu entdecken.“ (Wang, S. 388-389)

Gudula Linck, im März/April 2024

.

Gudula Linck, em. Professorin für Sinologie a. d. Universität Kiel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert