Die mäandrierenden Wege, die durch das Gelände der Chinesischen Hochschule der Künste in Hangzhou führen, bilden ein Wegenetz, das zu keinem Ziel führt; es kreist in sich selbst. Wer hier spaziert, benötigt ein gehöriges Maß an Einbildungskraft, der Fähigkeit zu Perspektivwechseln, originellen Ideenassoziationen und affektiver Erinnerung. Ohne diese ist er orientierungslos. Spazierend stelle ich mir folgende Frage: Können die Weisen der Selbsterfahrung, die sich auf diesem Gelände einstellen, das so dringend benötigte neue Umwelt- und Selbstbewusstsein herbeiführen? Und spazierend denke ich mir: Die begriffliche Verfestigung unserer Wirklichkeit wie auch der Mittel, mit der diese Wirklichkeit gestaltet wird, verlangt nach einer Revision des Projekts der Moderne, das durch die Vergesellschaftung von Wissenschaft den humanen Fortschritt durch Naturbeherrschung zu befördern versucht. Die für uns relevante Natur, d.h., die irdische Natur, ist nicht mehr als ein soziales und historisches Produkt. Aber, u.a. die Umweltkrise und die zeitgeschichtliche Präsenz von Barbarei machen es unmöglich, Geschichte weiter so zu denken. Ebensowenig hilft aber ein Verzicht auf Geschichtsphilosophie. Die Raumstruktur des Disparaten, die das Gelände der Chinesischen Hochschule der Künste bestimmt, scheint mir zu sagen, dass der Mensch ein geschichtliches Wesen ist, das sich in seiner eigenen Geschichte, in ihr kreisend, verstrickt und ihr deswegen nicht entkommt. Nach vielen Jahrzehnten des gesellschaftstheoretischen Pathos, muss deswegen das, was Geschichte ist, neu gedacht werden. Etwa als Wechsel von Manifestation und Verdrängung? Während ich an einen der pittoresken Aussichtspunkte gelange, nachdem ich verschiedene abseitige Platzsituationen durchquert habe, kommt mir der Naturbegriff, so wie er uns gelehrt wird – als Gegensatz zu allem Menschlichen, sei es Kultur, Technik, Erziehung usw. – plötzlich so schal vor. Ein existentieller Ernst ist erforderlich, der die Vordergründigkeit politischer Identifikationen durchschaut und das Projekt der Moderne in seinen begrifflichen Grundentscheidungen revidiert.
Lieber Heinrich,
was für eine kraftvolle Forderung nach dem existentiellen Ernst! Angesichts der Orientierungslosigkeit unserer Zeit ist eine Revision der Moderne unabdingbar. Vielen Dank für die Teilhabe an diesem Gedanken, den Du erneut so schön formuliert hast!
Xu Rong
Lieber Heinrich, Du schreibst „Die für uns relevante Natur, d.h., die irdische Natur, ist nicht mehr als ein soziales und historisches Produkt.“ Mir ist nicht ganz klar, ob das ein Standpunkt ist, den Du vertrittst oder einer, den Du kritisieren willst. Ich glaube es ist ersteres. Du schreibst auch, der Mensch sei ein „geschichtliches Wesen.“ Da ist viel von Geschichte die Rede. Das scheint mir einseitig. Wie steht es mit Evolution und Biologie? Der Mensch ist ein rationales und soziales Tier, sagt Aristoteles. Der Mensch ist also erst einmal ein Tier. Geschichte ist, so scheint mir, sekundär. Am Schluss kommt Dir „der Naturbegriff, so wie er uns gelehrt wird – als Gegensatz zu allem Menschlichen, sei es Kultur, Technik, Erziehung usw. – plötzlich so schal vor“. Aber mir scheint, der Naturbegriff ist nicht so schal. Physik und Biologie lehren uns einen Naturbegriff. Der ist voller Wunder. Kosmologie und Studien kleinster Lebewesen sind faszinierend. Mir scheint, Du identifizierst „das Menschliche“ mit „Geschichte“ und „Kultur, Technik, und Erziehung.“ Das aber kommt mir einseitig vor. Wir sind auch Tier, biologische Wesen auf einer Erde in einem unglaublich ausgedehnten Universum.
Lieber Christian, vielen Dank für Deine Erwiderung auf meinen Text. Es freut mich, dasss wir uns nun in der Situation eines Gedankenaustausches während eines Spaziergangs befinden. Einer spaziert und ist dabei in seine eigenen Überlegungen vertieft und ein anderer, dem er seine Überlegungen mitteilt, antwortet darauf. Meiner Meinung haben Überlegungen, die „spazierend“ geäußert werden, keinen absoluten Wahrheitsanspruch, denn sie sind situativ – bedingt durch die Gefühlslage dessen, der sie äußert und durch das Gelände, durch das er sich spazierend bewegt . Wenn nun sein Weggefährte ihm antwortet, dann ist seine Antwort ebenso situativ bedingt. Ich finde es am Gedankenaustausch während eines Spaziergangs so schön, dass Meinungen/ Aussagen nebeneinander bestehen können: Ich liebe diese Art des Überlegens und dess Austausches von Überlegungen, weil sie nichts, aber schon gar nichts mit der heute leider allzu verbreiteten „hate speech“ zu tun haben, die auch die Wissenschaft erreicht hat. Und so sehe ich es auch in unserem Fall. Deine Ausführungen sind sehr bereichernd, und ich stimme ihnen vollauf zu, was die Wunder der Natur anbelangt – allerdings unter der Voraussetzung, dass der naturwissenschaftliche Begriff von „Natur“ immer eine Suchbewegung beinhaltet, die niemals zu einem Ende kommt und keinen Anspruch auf alleinige Defintionsmacht beinhaltet. Er erklärt nicht endgültig, sondern schafft die Voraussetzungen für ein weiteres Suchen in den unterschiedlichsten Disziplinen. Meines Erachtens ist das das Wunder, von dem Du sprichst. In puncto „der Mensch als Tier“ habe ich allerdings eine andere Meinung, insofern es um die Situation des Spaziergangs geht. Nur ein Mensch kann spazieren. Meiner Meinung nach ist die Kunst der Spaziergangs menschlich, und auch nur dann, wenn sich der Spaziergänger der besonderen Möglichkeiten bewusst wird, die ihm als historischem und zur Reflexion befähigten Wesen innewohnen. Meiner Meinung nach ist es auch der Kerngedanke chinesischer Gartenarchitektur, dass sie den Fuß des Menschen auf Wege lenkt, auf denen er sich immer wieder selbst als historischem Wesen begegnet. Ohne Geschichte oder auch Geschichten kein Spaziergang.
Lieber Heinrich,
Auf dem Spaziergang sieht und hört man auch Vögel. Besonders im Frühling finde ich es wunderbar, wie sie singen und sich freuen. Das ist auch Natur. – Jetzt komme ich mir schon vor wie Zhuangzi, der meinte, die Fische würden sich freuen. Freuen sie sich wirklich? Ich meine schon. – Vögel und Fische gehen nicht spazieren. Ja, das stimmt. Sie fliegen und schwimmen. Aber muss man bei einem Spaziergang unbedingt historisch reflektieren? Ich will dann oft lieber einfach Teil der Natur sein, mich treiben lassen, wie eben auch die Vögel und Fische. Manchmal denke ich dann auch über mich und allerlei Geschichten nach, aber nur manchmal und nicht unbedingt.
Das Wunder der Natur ist nicht nur, dass die Naturwissenschaften nicht endgültig erklären können – das wäre ja nur negativ, – sondern auch, dass wir immer wieder Neues entdecken. Was geht in einem Vogel vor, der fliegt und singt? Ich weiss es nicht, oder zumindest kaum. Im Alltag und in den Naturwissenschaften kann man davon immer mehr erahnen. Das ist Natur, und das scheint mir weniger historisch. Beim Spaziergang begegne ich mir nicht nur als historischem Wesen, sonder auch einfach als Lebewesen und Teil der Natur, der Wiesen, Wälder, und Tiere, ja sogar der Wolken und des Winds. Manchmal will ich die Geschichte lieber hinter mir lassen.
Lieber Christian,
nun haben wir erst ein so kurzes Wegstück zurückgelegt und haben schon so vieles an- und besprochen. Manchmal gehen wir im gleichen Tempo nebeneinander her, manchmal bist Du mir voraus. Du schreitest sicher voran, während ich mich eher unsicher/ strauchelnd vorwärtsbewege. Ich strauchle aus vielen Gründen. Die wichtigsten seien genannt: Bei mir ist an die Stelle eines klar fokussierten Verhältnisses zur Welt ein Zustand unauflösbarer Ambiguität getreten, der die Welt, so sehr ich das auch zu verhindern versuche, zu einem einzigen, ständig wechselnden Vexierbild werden lässt. Robert Musils Zögling Törless lässt grüßen. Dabei folge ich Dir an den Stellen, an denen Du mir ein paar Schritte voraus bist , sehr gerne. Mich begeistern Deine Gedanken, dass man in den Naturwissenschaften „erahnt“ und sich beim Spaziergang als Teil der Natur begegnet. Ja, diesen Gemütszustand, von dem Du sprichst, will ich erreichen – nur ich kann es derzeit nicht. Auf meinen Spazierwegen, die mich zwischen Ost und West laufen lassen, haben sich zu viele Abgründe aufgetan. Ich nenne nur die schrecklichen Vorkommnisse in Myanmar (einem Land, dem ich sehr verbunden bin/ das ich liebe) und das Verhalten der Mächtigen in der VR China. Die Vorgänge in der deutschen Katholischen Kirche beschäftigen mich ebenso zutiefst. Auf meinem Weg begegnen mir derzeit aus beiden Richtungen so viele Neureiche, Aktienspekulanten, Immobilienhaie, Kapitalflüchtlinge, Waffenkäufer und -verkäufer, Lüstlingle und Vergewaltiger, Egomanen und Ignoranten, als dass ich mich ganz auf die Natur konzentrieren könnte. Mir wird zwischendurch ganz schlecht, ich muss mich hinsetzen, um wieder zu Kräften zu kommen: „Das sanfte Erschrecken beim Betrachten eines Blattes“ – ja, ich bin erschrocken. Wie Du meine ich aber, dass sich die Vögel und Fische freuen, wenn sie sich in ihrem jeweiligen Element bewegen. Ich spaziere, weil ich auf einer neuen Ebene diese Freude auch für mich selbst wieder gewinnen möchte. Über das „Spazierengehen“ zu sprechen, das erfahre ich nun, ist nicht möglich, ohne persönlich zu werden. Aber das ist ja auch mit diesem Blog beabsichtigt. Zu philosophieren/ zu denken, ohne dabei eigenste Erfahrungen einzubringen, scheint mir mittlerweile vergeudete Zeit. Siehe mein Buch, das 2019 eschien: „Chinesische Mauern. Neue Vorzeichen und alte Wege im chinesischen Denken der Gegenwart“.
Heinrich
Lieber Heinrich,
Es tut mir Leid, dass Du so viele unangenehme Erfahrungen mit Neureichen und Politikern hast machen müssen. Das ist mir weitgehend erspart geblieben. Meine Arbeit spielt sich zum grossen Teil in einem Elfenbeinturm ab und in meinem Freundeskreis habe ich nur selten Kontakt mit derartigen Menschen. Ich hoffe, Du wirst ein ausgeglicheneres Bild von der Welt finden, weniger zwiespältig und weniger traurig oder gar bedrohlich. Wenn man schlimme Zustände nicht ändern kann, dann muss man sie gehen lassen und sich raus halten. Wenn man sie ändern kann, sollte man handeln.
Mit herzlichem Gruss, Christian