In der Stadt Tainan nehmen wir uns ein Taxi. Der Mann am Steuer nennt sich selbst nicht auf Hochchinesisch „Chauffeur“ (siji), sondern auf Taiwanesisch „General der Beförderung „. Wir freuen uns. Denn zum ersten Mal in unserem Leben werden wir von einem General befördert. Er bringt uns zu einem Ort, der aufgrund seiner mächtigen Architekur schon von weitem zu erkennen ist: Dem mit einer Kuppel gekrönten Chimei Museum, dessen Sammlung größtenteils aus Exponaten westlicher Kunst besteht: Gemälde des 13. bis 20. Jahrhunderts, Skulpturen von Rodin, dessen Lehrer, von Zeitgenossen und Assistenten Rodins. Weitere Abteilungen zeigen Waffen und Rüstungen, ausgestopfte Tiere und Fossilien von allen Kontinenten und eine an Bedeutung alle anderen Abteilungen übertreffende Musikinstrumentensammlung. Insgesamt sind annähernd 4000 Gegenstände zu sehen. Nach einem Besichtigungsmarathon von 7 Stunden erholen wir uns im Tainan Metropolitan Park, auf dessen Gelände das Museum liegt. Er ist von Geigenklängen erfüllt. Sie entströmen Lautsprechern, die diskret das Gelände durchziehen und sich gut mit den Bronzeskulpturen von Jugendlichen vertragen, die keinem anderen Ziel dienen als der Manifestation des Schönen. Der Name des Museums ist Programm: Denn Chi Mei (qi mei) bedeutet „außergewöhnlich schön“. Was ist aber das Schöne (mei)? Im Park beobachte ich eine junge Familie, die ihrem Kaninchen die Freuden eines ungehinderten Auslaufs ermöglicht. Interessanterweise folgt das Tier seinem Herrchen aufs Wort. Auf einer der Brücken, die über ausgetrocknete Bachläufe führen, bemerken wir eine junge Frau mit Baseballmütze, die an einer Leine eine Gans spazieren führt. Um ihr das Gehen auf Pflaster und Teer zu erleichtern, hat sie ihr Schuhe angezogen. Gänseschuhe – nie zuvor hatten wir derartiges erlebt. Die junge Frau ist freundlich. Gerne lässt sie sich und ihr Tier fotografieren. Sie geht weiter, wobei sie, genauso wie die Kaninchenhalter, Vertrauen in die Folgsamkeit ihres Tieres hat. Denn sie lässt die Leine schleifen. Die Gans watschelt gut beschuht voran, die junge Frau, nicht ganz so gut beschuht, folgt ihr, mitten durch das gelassene Treiben im Tainan Metropolitan Park.
Zurück in Bonn. Gerade habe ich wieder einen Mann gesehen, der für mich der Inbegriff des Spaziergängers ist. Immer wieder bin ich ihm begegnet: In einer stillen Straße am Fuße des Venusberges, auf dem Gehsteig entlang des stark befahrenen Hermann-Wandersleb-Rings, in Buschdorf, in Beuel usw., es gibt keinen Ort, an dem ich nicht auf diese Gestalt mit ihren weit abstehenden Haaren (Schopenhauer oder auch Beethoven wäre möglich), mit ihrer bürgerlichen, aber nicht modischen Kleidung und einer Tasche in der Hand gestoßen wäre. Zugegebenermaßen erstaunt mich dieser Mann, da er an Orten auftaucht, an denen ich ihn niemals vermutet hätte. Der Schritt zügig voran und immer eine Tasche in der Hand, die aber niemals gefüllt ist; weder von Einkäufen noch von Akten. Ich frage mich, was eigentlich das Ziel dieses Mannes ist? Denn er ist zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten zu sehen. Ein Berufsweg scheint nicht seine Schritte zu lenken. Auch scheint er nicht einkaufen zu müssen. Eines ist mir aber klar: Ich kann ihn mir nicht in einem Park mit einem Kaninchen oder einer Gans, die er an der Leine führt, vorstellen. Ja, es gibt sie, die wunderbaren Unterschiede zwischen den Kulturen.
Im Falle von Spaziergängern fällt es uns leicht, diese zu akzeptieren – weshalb ich auch das Spazieren liebe. Ich akzeptiere, dass eine Familie ihrem Kaninchen Auslauf gibt, eine junge Frau mit ihrer Gans spaziert und ein mit seinem Aussehen an Beethoven oder Schopenhauer erinnernder Mann unentwegt seine Runden durch eine deutsche Stadt zieht. Das akzeptiere ich nicht nur, sondern begrüße ich sogar. Dabei mag es mir einfach nicht in den Kopf gehen, dass sich die Diskussion über die Länder, in denen Gänse spazieren führende Damen und eine Tasche in der Hand tragende Männer anzutreffen sind, immer stärker vergröbert – so als wären sie alle vom Antagonismus der Systeme überzeugte und zum Kampf bereite Zeitgenossen. Hier der Westen, dort der Osten, hier mein Machtbereich und dort deiner, und über allem Kampfflugzeuge, deren Flüge nicht nur jungen Frauen und mittelalterlichen Männern, sondern auch ihren Kaninchen, Gänsen und leeren Taschen immer bedrohlicher näher kommen. Während meines Taiwanaufenthaltes durfte ich erleben, dass Machtgesten die auf dieser Insel lebenden Menschen nicht zu erschrecken vermögen und nur am Rande beschäftigen. Es gibt Wichtigeres, als immerfort Bomben zu bauen. Und ich bin auch immer wieder begeistert, wenn ich in Deutschland auf Menschen mit dieser Geisteshaltung treffe.
Was wohl der „General der Beförderung“, der uns sicher zum Museum der „außergewöhnlichen Schönheit“ fuhr, zum Thema der wachsenden Kriegsgefahr sagen würde? Wir hatten nicht die Zeit, auf solche schwierigen Fragestellungen einzugehen. In der Kürze der Zeit haben wir uns über die Unterschiede zwischen Mandarin und Taiwanesisch unterhalten, und sind dabei auf einige Spachvarianten im Taiwanesischen gestoßen, die sich bereits vor langer Zeit von der Entwicklung der übrigen sinnitischen Sprachvarianten abgekoppelt haben und lexikalisch weiter vom Mandarin entfernt sind als jede andere Varietät (u.a. auch das Kantonesische).
Der Spaziergänger aus Bonn würde uns vielleicht bei der Wahl dieses Gesprächsthemas zustimmen. Menschen, die sich bewegen, sei es als „General der Beförderung“ oder als spazierender Bürger mit dem Aussehen eines Beethoven oder Schopenhauer, wissen um die Bedingungen des Seins und gehen ihnen gerne auf den Grund. Lavulas Gerens „Trilogie der Bergbewohner“ (shandiren san bu qu), das die Probleme der Ureinwohner Taiwans in knapper, geradezu amüsanter Weise beschreibt, lautet: „Auf dem Berg hüpfend vorwärts/ Den Berg hinab purzelnd vorwärts/ Am Fuß des Bergs gebückt vorwärts“. Im Ausstellungskatalog einer im Kaohsiung Fine Arts Museum (KMFA) vom 25.02.2023 bis zum 08.09.2024 zu sehenden Ausstellung sprechen die Überschriften zu den gezeigten Werken Bände: „Young man, worry not? What´s in the head of angry youth in those years with the undercurrents of „Existentialism“?“, „Years of seeking identity: How to feel „native“ and „local“?“, „The blackening of art/ black painting in an industrial city – More than one type of „black““, „The unspeakable: White terror during the authoritarian period“, „Awkward: People in the hushed years“, „In-betweens before and after the Martial Law Period: Paradigm-shifting critical writings“, „New world after a broadened horizon: Transcending the tradition toward the contemporary time“.
Um auf die „Trilogie der Bergbewohner“ Lavula Gerens, der 1956 im Kreis Taitung geboren wurde und zum Volk der Paiwan gehört, zurückzukommen: Das Palastmuseum mit seinen wunderbaren Werken chinesischer Geschichte liegt am Fuß eines Berges.
Lieber Heinrich,
dein Text gefällt mir gut. Du beobachtest genau. Du beschreibst genau. Du schaffst interessante Verknüpfungen, denen ich gerne folge. Die Sprache bleibt unprätenziös und bildhaft. Es ist ein Vergnügen, das auch zweimal zu lesen.
Liebe Grüße
Harald